Die Frauen von der Purpurküste - Isabelles Geheimnis (eBook)
400 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-2271-1 (ISBN)
Silke Ziegler lebt mit ihrer Familie in Weinheim an der Bergstraße. Zum Schreiben kam sie 2013 durch Zufall, als sie während eines Familienurlaubs im Süden Frankreichs auf ihre erste Romanidee stieß. Wenn sie nicht gerade in ihre französische Herzensheimat reist, liest und schreibt sie sich die traumhafte Kulisse einfach herbei.
Silke Ziegler lebt mit ihrer Familie in Weinheim an der Bergstraße. Zum Schreiben kam sie 2013 durch Zufall, als sie während eines Familienurlaubs im Süden Frankreichs auf ihre erste Romanidee stieß. Wenn sie nicht gerade in ihre französische Herzensheimat reist, liest und schreibt sie sich die traumhafte Kulisse einfach herbei. Die Autorin steht für Veranstaltungen zur Verfügung. Anfagen bitte an: autorin-silke-ziegler.de
3
Ungeduldig bewegte Amélie ihre Finger in der Luft, als wollte sie Klavier spielen. Es ging nicht. Es hatte überhaupt keinen Sinn. Ihre Tastatur schien sie vorwurfsvoll anzublicken. Das Schreiben würde nicht wiederkommen. Wo die Worte früher flossen und übergebrodelt waren, herrschte jetzt beängstigende Leere. Ihr Kopfkino, das Amélie immer die lebendigsten Szenen, die interessantesten Figuren und detailliertesten Beschreibungen geliefert hatte, sprang nicht mehr an.
Frustriert starrte sie auf ihren Notizblock, auf dem sie den kompletten Plot skizziert hatte – vor Ewigkeiten. In einem anderen Leben. Je länger sie auf die Wörter blickte, desto verschwommener nahm sie ihre eigene Handschrift wahr. Ja, die Handlung stand. Die Hauptarbeit war lange erledigt. Die Geschichte musste nur noch ausformuliert werden. Handwerkszeug, dachte Amélie bitter. Sie wusste, dass sie formulieren und ihr Schreibstil die Leser mitreißen und fesseln konnte. Oft genug war sie selbst durch das Schreiben in einen regelrechten Sog geraten, der sie so tief in die Geschichte hineingezogen hatte, dass sie nachts nicht mehr hatte schlafen können. Der das reale Leben oft genug nur noch wie eine Nebensächlichkeit hatte erscheinen lassen. Ja, es gab Zeiten, da hatte sie in ihren Geschichten gelebt. Amélie hatte mit den Protagonisten gelitten, sie hatte mit ihnen gekämpft und geweint, geliebt und gefühlt. Ihre Leser und auch die Presse hoben immer wieder die Emotionen hervor, die Amélie mit wenigen Worten entfachen konnte.
Wie jedoch sollte sie schreiben und sich in andere Personen mit all ihren Enttäuschungen hineinversetzen, wenn sie selbst nichts mehr fühlte? Ihr Körper funktionierte. Er verließ das Bett, wenn er der Meinung war, der Tag könne beginnen. Er aß, wenn er Hunger verspürte. Er ruhte, wenn das Gefühl zu übermächtig wurde, mit dem Leben überfordert zu sein. Alles, was Amélie tat, lief mechanisch ab. Das Feingefühl, die Empathie, die sie immer ausgezeichnet hatte, ihre ausgeprägte Vorstellungskraft, all die Zutaten, die es für einen guten Roman brauchte, schienen in den letzten Jahren verloren gegangen zu sein. Wo Amélie früher mit den Tränen zu kämpfen hatte, wenn sie von einem berührenden Schicksal, Missbrauchsopfern, gequälten Tieren, von Eltern, die ihr Kind verloren hatten, erfuhr, herrschte nun gähnende Leere. Dadurch konnte sie auch den Hauptfiguren ihres neuen Buches kein Leben einhauchen. Keine Emotionen, keine Konflikte, nichts.
Wie sollte es jetzt mit ihr weitergehen? Amélie konnte nichts anderes. Sie schrieb, seit sie denken konnte. Ihr Literaturstudium hatte sie vor zehn Jahren eher halbherzig beendet, um nicht komplett ohne Abschluss dazustehen. Schon als kleines Mädchen hatte sie davon geträumt, eigene Geschichten zu spinnen. Seit sie schreiben konnte, hatte sie ihre Eltern mit Aufsätzen, Gedichten und selbst ausgedachten Märchen erfreut. Nachdem Amélie von einem ihrer Deutschlehrer ein überdurchschnittliches Talent zum Entwickeln eigener Geschichten attestiert bekommen hatte, stand ihr Entschluss endgültig fest. Sie wollte eine berühmte Schriftstellerin werden. Obwohl der Aspekt mit dem Berühmtsein sich als schwieriger erwiesen hatte als anfangs gedacht, hatte sie sich keine Sekunde lang auf ihrem Weg beirren lassen. Unzählige Verlagsabsagen, wiederholte bissige Kommentare aus ihrem Freundeskreis sowie die unsichere Verdienstsituation hatten sie nicht abhalten können. Schreiben war schon immer ihr Traum gewesen. Ein Traum, für den es sich zu kämpfen gelohnt hatte und der kein Traum geblieben war. Sie hatte mehr erreicht als die meisten anderen Autoren. Ihre Bücher sicherten ihr mittlerweile einen komfortablen Lebensstandard.
Allerdings war seit drei Jahren alles anders. Amélie kam in ihrem eigenen Leben nicht mehr zurecht. Wie sollte sie sich in dieser Situation um andere Schicksale kümmern? Frustriert schlug sie mit beiden Händen auf die Tastatur. Sofort erschien eine Reihe Hieroglyphen auf dem weißen Dokument. Unlesbares Kauderwelsch. Wie in ihrem Kopf, dachte Amélie.
Sie stand auf und ging in die Küche hinüber, um sich ein Wasser zu holen. Nachdem sie das Glas auf dem Tresen abgestellt hatte, fiel ihr Blick auf den Messerblock, der neben dem Herd auf der Arbeitsfläche stand. Nachdenklich kniff sie die Augen zusammen und schluckte. Vorsichtig zog sie das kleinste Messer heraus und betrachtete die glänzende Schneide. Sie konnte sich nicht einmal erinnern, wann sie es das letzte Mal benutzt hatte. Wann sie das letzte Mal hier gekocht hatte.
Im nächsten Augenblick starrte sie auf die dünne Haut an ihrem Unterarm, die feinen blauen Adern. Behutsam legte sie das Messer darauf und verharrte. Es wäre so unglaublich einfach. Amélie lehnte sich gegen die Küchenplatte und schloss die Augen. Ein einziger schneller Schnitt. Nur wenige Sekunden – dann wäre es vorbei. Für immer. Es gäbe kein Grübeln mehr, und die düsteren Gedanken würden für ewig verschwinden. Sie müsste nicht mehr nachdenken, nicht mehr hadern. Die Verlockung wuchs. Worauf wartete sie? Es gab nichts mehr, das sie zurückhielt. Amélie hatte alles verloren, was ihr in ihrem Leben je etwas bedeutete. Ihre Familie, ihre Berufung, ihre Gefühle. Die Zukunft lag dunkel und trostlos vor ihr.
Wer würde sie vermissen? Ihre Eltern. Natürlich. Wer noch? Amélie musste sich eingestehen, dass sie sich in den letzten Jahren komplett von der Außenwelt zurückgezogen hatte. Das Schreiben war schon immer eine einsame Angelegenheit gewesen. Und Amélie mochte das Alleinsein. Sie hatte noch nie Menschen um sich herum gebraucht, um glücklich zu sein. Doch jetzt war sie nicht nur allein und einsam, sie hatte förmlich aufgehört zu existieren. Die Leser kannten ihren Namen durch ihre Bücher. Ihr Verleger wollte sie weiter vermarkten, ihre Verkaufszahlen für zukünftige Projekte nutzen. Und auch Tina hatte für ihre Anrufe und Nachfragen vorwiegend finanzielle Motive. Keinem von ihnen ging es wirklich um den Menschen hinter dem Autorennamen.
Amélie drückte sich die Schneide fester ins Fleisch. Wie hatte es nur so weit kommen können? Ja, sie hatte einen schweren Schicksalsschlag erlitten. Aber das hatten ihre bisherigen Protagonisten doch auch. Und jeder von ihnen hatte über kurz oder lang ein neues Glück gefunden. Warum schaffte Amélie das nicht?
Ihre Haut begann zu brennen. Sie öffnete die Augen und starrte fassungslos auf die dünnen roten Linien, die sich über ihren Unterarm zogen. Ein solches Schicksal hatte sie noch keiner ihrer Figuren auf den Leib geschrieben. Sie war schon immer eine überzeugte Verfechterin des traditionellen Happy Ends gewesen. Niemals hätte sie es übers Herz gebracht, ihre Leser mit einem traurigen Ende in den Alltag zu entlassen. Fast hätte Amélie aufgelacht. Ihre Protagonisten lebten glücklich und zufrieden bis an ihr Lebensende, während sie selbst gerade dabei war, sich zu ritzen, um endlich überhaupt wieder etwas zu fühlen, und wenn es nur der Schmerz der Schnitte war.
Das Blut auf ihrer Haut begann bereits zu gerinnen. Plötzlich erschien ihr die ganze Situation grotesk und irreal.
Szenen einer Lesung erschienen vor ihrem geistigen Auge. Es war eine ihrer ersten Veranstaltungen gewesen. Eine Buchhandlung in Stuttgart hatte einen bunten Abend organisiert, mit Büfett und Sektempfang. Als Amélie eingetroffen war, platzte der Laden bereits aus allen Nähten. Amélie liebte es, vor der eigentlichen Lesung mit den Gästen zu reden. Immer wieder ergaben sich dabei interessante Gespräche. An jenem Abend war es jedoch aufgrund der vielen Zuhörer nicht möglich gewesen, abseits der Lesung den Kontakt zum Publikum zu suchen. Amélie hatte sich auf Anraten der Buchhändlerin in ein kleines Büro gesetzt und auf den Beginn der Veranstaltung gewartet. Ganz unverhofft war es drei Minuten vor acht einer der Zuhörerinnen gelungen, zu Amélie vorzudringen. Die Frau war sehr schlank, fast schon dürr gewesen. Sie hatte große grüne Augen, mit denen sie Amélie voller Dankbarkeit ansah.
»Ihr Buch hat mir das Leben gerettet«, hatte sie ihr ohne jede Einleitung erklärt. »Sie haben mir das Leben gerettet.«
Die Wucht ihrer Worte hatte Amélie in dem Augenblick die Sprache verschlagen. Fragend sah sie die junge Frau an, bis diese ihr ihre Geschichte in kurzen abgehackten Sätzen erzählte. Ihr Bruder habe vor fünf Jahren Suizid begangen, nachdem ihm mitgeteilt worden war, dass er an einem unheilbaren Tumor leide. Zwei Jahre später seien ihre Eltern bei einem Unfall ums Leben gekommen. Nachdem sich im letzten Jahr ihr Freund von ihr getrennt und sie fast zeitgleich ihren Job verloren hatte, habe sie keinen Sinn mehr in ihrem Leben gesehen. Die Überdosis an Schlaftabletten hatte sie schon auf ihrem Nachttisch bereitgestellt gehabt. Durch Zufall habe sie an jenem Tag von einer Bekannten Amélies Buch geschenkt bekommen. Das Cover habe sie so angesprochen, dass sie sich schwor, dieses Buch als Letztes in ihrem Leben zu lesen, bevor sie Schluss machen würde. Als sie am nächsten Morgen mit der Geschichte durch war, brachte sie es jedoch nicht mehr übers Herz, sich das Leben zu nehmen. Die Geschichte um Sandra und Richard habe ihr auf eindringliche Weise...
Erscheint lt. Verlag | 27.4.2020 |
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Reihe/Serie | Die Purpurküsten-Reihe | Die Purpurküsten-Reihe |
Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 2. • Backen • Bäckerei • Baguette • Baguetterie • Bücher für die Coronavirus Zeit • Bücher für die Coronazeit • Bücher für die Covid19 Zeit • Collioure • Cote d'Azur • Côte Vermeille • das Lesen geht weiter • Dorf • dramatisch • Entwicklung • Familie • Familiengeheimnis • Frankreich • Französisch • Frau • Frauenunterhaltung • für Social Distancing • gegen Langeweile • Geheimnis • Kleine • kleine Bäckerei • Kleines • kleines Dorf • Lesen in der Coronakrise • Lesen in der Covid19-Krise • Lesen in Karantäne • Lesen in Quarantäne • Lesen während Shutdown • lieber Buch als Coronavirus • Lieber Buch als Covid19 • lieber Bücher als Corona • Liebesgeschichte • Liebesroman • Love and Landscape • Meer • Meeresbrise • Mit Buch in Karantäne • mit Buch in Quarantäne • Persönlichkeit • Provence • purpurküste • regioromantik • résistance • Saga • Sommer • Sommerroman • Südfrankreich • Tagebuch • Traum • Traum vom Backen • Unterhaltung • Urlaub • Urlaubsroman • Vergangenheit • Weltkrieg • Zeitebene • Zweiter • Zweiter Weltkrieg • zwei Zeitebenen |
ISBN-10 | 3-8437-2271-4 / 3843722714 |
ISBN-13 | 978-3-8437-2271-1 / 9783843722711 |
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