Ein Kleid aus Seide und Sternen (Ein Kleid aus Seide und Sternen 1) (eBook)
464 Seiten
Carlsen Verlag Gmbh
978-3-646-93134-1 (ISBN)
Elizabeth Lim wuchs in der Nähe von San Francisco auf und kam schon früh mit Märchen, Mythen und Liedern in Berührung. Nach ihrem Studium an der Juilliard School und am Harvard College arbeitete sie zunächst als Komponistin für Filme und Computerspiele, bevor sie mit dem Schreiben begann. Seither stürmen ihre atmosphärischen Fantasy-Romane die Bestsellerlisten. Heute lebt sie mit ihrem Mann und ihrer Tochter in New York.
Elizabeth Lim wuchs in der Nähe von San Francisco auf und kam schon früh mit Märchen, Mythen und Liedern in Berührung. Nach ihrem Studium an der Juilliard School und am Harvard College arbeitete sie zunächst als Komponistin für Filme und Computerspiele, bevor sie mit dem Schreiben begann. Seither stürmen ihre atmosphärischen Fantasy-Romane die Bestsellerlisten. Heute lebt sie mit ihrem Mann und ihrer Tochter in New York. Barbara Imgrund studierte in München Neuere Deutsche Literatur, Mediävistik und Komparatistik. Sie war als Lektorin in verschiedenen Verlagen tätig, bevor sie sich selbstständig machte. Heute lebt und arbeitet sie als freie Übersetzerin und Schriftstellerin in Heidelberg.
KAPITEL EINS
Ich hatte einmal drei Brüder.
Finlei war der älteste – der mutige. Nichts machte ihm Angst, weder Spinnen noch Nadeln noch eine Tracht Prügel mit Babas Spazierstock. Er war der Schnellste von uns vier Geschwistern, flink genug, um eine Fliege nur mit dem Daumen und einem Fingerhut zu fangen. Doch mit seiner Unerschrockenheit ging die Sehnsucht nach Abenteuern einher. Er verabscheute es, in unserer Werkstatt zu arbeiten, das kostbare Tageslicht mit dem Nähen von Kleidern und Ausbessern von Hemden vergeuden zu müssen. Und er ging achtlos mit der Nadel um, hatte aufgrund kleiner Stichwunden ständig die Finger verpflastert, und seine Nähte waren unregelmäßig. Ich trennte sie immer wieder auf und setzte sie neu, um Finlei vor Babas Standpauken zu bewahren.
Finlei besaß nicht die Geduld, um ein Schneider wie Baba zu werden.
Sendo besaß Geduld, aber nicht fürs Nähen. Mein zweiter Bruder war der Poet in der Familie, und das einzige Spinnen, das er liebte, war das Spinnen von Geschichten, besonders über das Meer. Er erzählte in solch vortrefflichen Einzelheiten von den schönen Gewändern, die Baba nähen konnte, dass alle Damen in der Stadt lautstark danach verlangten – nur um zu erfahren, dass sie gar nicht existierten.
Zur Strafe hieß Baba ihn auf dem Pier hinter unserer Werkstatt Fäden aus den Kokons der Seidenraupen zupfen. Oft stahl ich mich hinaus, um mich zu ihm zu setzen und seinen Geschichten über all das zu lauschen, was hinter diesem endlosen Horizont aus Wasser lag.
»Welche Farbe hat das Meer?«, fragte Sendo mich dann.
»Es ist blau, Dummkopf, was sonst?«
»Wie willst du die beste Schneiderin in A’landi werden, wenn du keine Farben unterscheiden kannst?« Sendo schüttelte den Kopf und wies auf das Wasser. »Schau noch einmal hin. Schau in die Tiefe.«
»Saphir«, sagte ich, während ich die Wellenberge und -täler des Ozeans ins Auge fasste. Das Wasser funkelte. »Saphir, wie die Steine, die Lady Tainak um den Hals trägt. Aber es ist auch ein Hauch von Grün dabei … Jadegrün. Und die Schaumkronen sind wie Perlen.«
Sendo lächelte. »Schon besser.« Er legte mir den Arm um die Schultern und zog mich an sich. »Eines Tages werden wir zur See fahren, du und ich. Und du wirst das Blau der ganzen Welt sehen.«
Um Sendos willen wurde Blau meine Lieblingsfarbe. Es bemalte jeden Morgen das Weiß meiner Wände, wenn ich mein Fenster öffnete und das Meer im Sonnenlicht glitzern sah. In Saphir- oder Himmelblau. Azurblau. Indigo. Sendo schulte meine Augen darin, die Schattierungen der Farben zu erkennen, sie vom dunkelsten Braun bis zum hellsten Rosa schätzen zu lernen. Zu entdecken, dass Licht etwas tausendfach brechen und zu etwas anderem machen konnte.
Sendos Herz war für die See gemacht, nicht dafür, ein Schneider wie Baba zu werden.
Keton war mein dritter Bruder, und er stand mir vom Alter her am nächsten. Seine Lieder und Witze brachten alle zum Lachen, gleichgültig, in welcher Stimmung wir waren. Er bekam immer Schwierigkeiten, weil er unsere Seide grün statt purpurn färbte, weil er achtlos mit schmutzigen Sandalen auf frisch gestärkte Kleider stieg, weil er vergaß, die Maulbeerbäume zu gießen, und weil er nie ein Garn spann, das fein genug war, dass Baba es zu einem Pullover hätte verstricken können. Geld rann ihm wie Wasser durch die Finger. Aber Baba liebte ihn am meisten – obwohl Keton nicht diszipliniert genug war, um Schneider zu werden.
Dann war da noch ich – Maia. Die folgsame Tochter. Meine früheste Erinnerung ist, dass ich stillvergnügt bei Mama saß, die am Spinnrad arbeitete, und Finlei, Sendo und Keton lauschte, die draußen spielten, während Baba mir beibrachte, Mamas Garn aufzurollen, damit es sich nicht verknotete.
Mein Herz schlug tatsächlich fürs Schneidern: Ich war imstande, mit Nadel und Faden umzugehen, bevor ich gehen, und eine Naht aus perfekten Stichen zu setzen, bevor ich sprechen konnte. Ich liebte das Nähen und freute mich, Babas Handwerk zu erlernen, anstatt mit meinen Brüdern nach draußen zu gehen. Außerdem verfehlte ich immer mein Ziel, wenn Finlei mir das Boxen und den Umgang mit Pfeil und Bogen beibringen wollte. Auch wenn ich Sendos Märchen und Geistergeschichten regelrecht aufsaugte, hatte ich selbst nie etwas zu erzählen. Und ich fiel immer auf Ketons Streiche herein, egal, wie oft meine älteren Brüder mich davor warnten.
Baba sagte stolz, ich sei mit einer Nadel in der einen Hand und einer Schere in der anderen zur Welt gekommen. Und dass ich, wenn ich nicht als Mädchen geboren worden wäre, vielleicht der größte Schneider von A’landi geworden wäre, zu dem die Kaufleute von einer Küste des Kontinents zur anderen strömten.
»Der Wert eines Schneiders bemisst sich nicht nach seinem Ruhm, sondern nach dem Glück, das er beschert«, sagte Mama, als sie merkte, wie enttäuscht ich über Babas Worte war. »Du wirst die Nähte unserer Familie zusammenhalten, Maia. Kein anderer Schneider auf der Welt kann das.«
Ich erinnere mich, dass ich sie anstrahlte. Damals war alles, was ich mir wünschte, dass meine Familie glücklich war und beisammenblieb – für immer.
Aber dann starb Mama, und alles änderte sich.
Wir lebten damals in Gangsun, einer bedeutenden Stadt an der Großen Gewürzstraße, und unser Laden erstreckte sich über einen halben Block. Baba war ein angesehener Schneider und im südlichen A’landi bekannt für seine schönen Kleider. Doch es kamen schlechte Zeiten und der Tod meiner Mutter war eine erste heftige Erschütterung von Babas starkem Willen.
Er begann zu trinken – um seinen Kummer zu ersäufen, wie er sagte. Das hielt nicht lange an – in all seiner Trauer verschlechterte sich Babas Gesundheitszustand, bis er den Branntwein nicht mehr vertrug. Er kehrte zu seiner Arbeit im Laden zurück, doch er wurde nie wieder der Alte.
Die Kunden bemerkten, dass Babas Fingerfertigkeit nachließ, und sprachen meine Brüder darauf an. Finlei und Sendo sagten es ihm nie; sie hatten nicht das Herz dazu. Aber einige Jahre vor dem Fünfwinterkrieg, als ich zehn Jahre alt war, überredete Finlei Baba dazu, Gangsun zu verlassen und in ein Haus mit Ladengeschäft nach Port Kamalan zu ziehen, einer kleinen Küstenstadt am Rande der Handelsstraße. Die frische Seeluft würde Baba guttun, behauptete er steif und fest.
Unser neues Zuhause lag an der Ecke der Yanamer- und der Tonga-Straße, gegenüber einem Laden, der so lange handgezogene Nudeln herstellte, dass man sich an einer allein satt essen konnte, und einer Bäckerei, die die besten gedämpften Teigtaschen und Milchbrötchen der Welt buk – so schmeckten sie jedenfalls für mich und meine Brüder, wenn wir Hunger hatten, und das hatten wir oft. Aber was ich am meisten liebte, war der herrliche Ausblick aufs Meer. Manchmal, wenn ich zusah, wie sich die Wellen an den Piers brachen, betete ich insgeheim, dass die See Babas gebrochenes Herz heilen möge – so wie sie langsam meines heilte.
Das Geschäft lief am besten im Sommer und Winter, wenn all die Karawanen, die auf der Großen Gewürzstraße gen Osten und Westen unterwegs waren, in Port Kamalan haltmachten, um sich unseres gemäßigten Klimas zu erfreuen. Der kleine Laden meines Vaters war angewiesen auf einen stetigen Nachschub an Indigo, Safran, Ocker zum Färben der Stoffe. Es war eine Kleinstadt, wir schneiderten also nicht nur Kleidung, sondern verkauften auch Stoffe und Garne. Es war schon lange her, dass mein Vater eine Robe genäht hatte, die einer edlen Dame würdig war, und als der Krieg begann, war ohnehin wenig auf Bestellung zu schneidern.
Das Unglück folgte uns in unser neues Zuhause. Port Kamalan war so weit von der Hauptstadt entfernt, dass ich dachte, meine Brüder würden niemals in den Bürgerkrieg, der A’landi verheerte, einberufen werden. Doch die Feindseligkeiten zwischen dem jungen Kaiser Khanujin und dem Shansen, dem mächtigsten Kriegsherrn des Landes, wurden keineswegs beigelegt, und so brauchte der Kaiser noch mehr Männer, die in seiner Armee kämpfen sollten.
Finlei und Sendo waren volljährig, daher wurden sie als Erste eingezogen. Ich war damals jung genug, um die Vorstellung, in den Krieg zu ziehen, romantisch zu finden. Zwei Brüder zu haben, die Soldat wurden, fühlte sich ehrenvoll an.
Einen Tag bevor sie uns verließen, war ich draußen und bemalte eine Bahn weißer Baumwolle. Wegen der Pfirsichblüten, die an der Yanamer-Straße wuchsen, musste ich niesen, und dabei verschüttete ich den letzten Rest von Babas teurem Indigo über meinen Rock.
Finlei lachte und wischte mir ein paar kleine Farbspritzer von der Nase.
»Mach dir keine Sorgen«, sagte er, während ich verzweifelt möglichst viel von der Farbe zu retten versuchte.
»Sie kostet achtzig Jen pro Unze! Und wer weiß schon, wann die Farbhändler wiederkommen?«, murmelte ich und rieb weiter an meinem Rock herum. »Es wird allmählich zu heiß, um auf der Gewürzstraße zu reisen.«
»Dann besorge ich dir unterwegs welchen«, erwiderte Finlei. Mit den Fingerspitzen drehte er mein Kinn zu sich. »Ich werde ganz A’landi sehen, wenn ich Soldat bin. Vielleicht kehre ich ja als General zurück.«
»Ich hoffe doch, dass du nicht so lange wegbleibst!«, rief ich.
Finleis Gesicht wurde ernst. Seine Augen wirkten jetzt schwarz, und er schob mir eine Strähne meines windzerzausten Haars aus dem Gesicht. »Pass auf dich auf, Schwester«, sagte er, und in seiner Stimme schwang sowohl Humor als auch Traurigkeit mit. »Arbeite nicht so hart, damit du …«
»… nicht der Drachen wirst, der...
Erscheint lt. Verlag | 18.6.2020 |
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Reihe/Serie | Ein Kleid aus Seide und Sternen | Ein Kleid aus Seide und Sternen |
Übersetzer | Barbara Imgrund |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Fantasy / Science Fiction ► Fantasy |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Sachbuch/Ratgeber | |
Kinder- / Jugendbuch ► Jugendbücher ab 12 Jahre | |
Kinder- / Jugendbuch ► Kinderbücher bis 11 Jahre | |
Technik | |
Schlagworte | All Age Fantasy • All Age Literatur • Amy Tan • Balzac und die kleine chinesische Schneiderin • Bittersweet • Bücher für Näh-Fans • Bücher nähen • Buch starke Mädchen • China • Chinesische Mythologie • Dämonen • Das Lied der Krähen • Der Clan der Otori • Die Beschenkte • Fantasy • Fantasy Abenteuer für junge Erwachsene • Fantasy Bücher ab 15 • Fantasy Bücher Jugendliche • Fantasy-Epen für junge Erwachsene • Fantasy für Jugendliche • Fantasy Liebesromane • Fantasy-Romane für junge Erwachsene • Fernost • Göttin • Grischa • High Fantasy • High Fantasy Liebesroman • historische Fantasy • House of Flying Daggers • Jugendbuch • jugendbuch mädchen ab 14 • Legenden • Liebe • Liebesgeschichten für Jugendliche • Liebesromane für Junge Erwachsene • Magie • Märchen & Sagen für Jugendliche • Mond • Mulan • Mythen & Legenden für junge Erwachsene • Nähen • Project Runway • Quest • Romance • Romance Romantasy Fantasy • Romane nähen • Romantasy Bücher für Jugendliche • Romantic Fantasy • Romantik • Schneider • Schwert & Magie für junge Erwachsene • Sonne • spannende Bücher für Teenager • Spin the Dawn • Sterne • Tiger & Dragon • verkleidet als Junge • Young Adult • Young Adult Romance • Zorn und Morgenröte |
ISBN-10 | 3-646-93134-5 / 3646931345 |
ISBN-13 | 978-3-646-93134-1 / 9783646931341 |
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