Neuleben (eBook)
480 Seiten
Verlagsgruppe Droemer Knaur
978-3-426-45390-2 (ISBN)
Katharina Fuchs, geboren 1963 in Wiesbaden, verbrachte ihre Kindheit am Genfer See, bevor sie zurück nach Deutschland zog. Nach ihrem Studium der Rechtswissenschaften in Frankfurt am Main und in Paris wurde sie Rechtsanwältin und Justiziarin eines DAX-notierten Unternehmens. Katharina Fuchs lebt mit ihrer Familie und ihrer Golden Retriever Hündin im Taunus. 'Zwei Handvoll Leben', 'Neuleben' und 'Unser kostbares Leben' basieren auf ihrer eigenen Familiengeschichte. 'Vor hundert Sommern' ist nach 'Lebenssekunden', 'Der Traum vom Leben' und 'Das Flüstern des Lebens' ihr jüngster Roman.
Katharina Fuchs, geboren 1963 in Wiesbaden, verbrachte ihre Kindheit am Genfer See, bevor sie zurück nach Deutschland zog. Nach ihrem Studium der Rechtswissenschaften in Frankfurt am Main und in Paris wurde sie Rechtsanwältin und Justiziarin eines DAX-notierten Unternehmens. Katharina Fuchs lebt mit ihrer Familie und ihrer Golden Retriever Hündin im Taunus. "Zwei Handvoll Leben", "Neuleben" und "Unser kostbares Leben" basieren auf ihrer eigenen Familiengeschichte. "Vor hundert Sommern" ist nach "Lebenssekunden", "Der Traum vom Leben" und "Das Flüstern des Lebens" ihr jüngster Roman.
Therese
Therese wusste, dass sie zu spät dran war. Die dicke Schönfelder- Gesetzessammlung mit dem signalroten Einband fest unter ihren Arm geklemmt, versuchte sie, zwei Stufen auf einmal zu nehmen. Sie musste den Hörsaal unbedingt noch vor Beginn der Vorlesung erreichen. Ihr wadenlanger, grauer Rock war allerdings nicht für große Schritte geschaffen, und deshalb war sie nicht schnell genug. Kurz bevor sie den obersten Treppenabsatz erreicht hatte, hörte sie, wie die hohen Flügeltüren mit einem satten, tiefen Ton ins Schloss fielen. Der Nachhall füllte das menschenleere Treppenhaus der Berliner Freien Universität. Sekunden später legte sie die Finger auf den runden Türknauf aus poliertem Messing, fühlte das kalte Metall in ihrer Handfläche und zögerte. Wandte ihr Gesicht nach rechts zu der hohen Fensterfront, und betrachtete den zartblauen Morgenhimmel mit den feinen weißen Wölkchen. Die kahlen Äste einer Buche bewegten sich im Märzwind, der auch die allerletzten vertrockneten Blätter fortwehte. Warum bloß war die U-Bahn am Kurfürstendamm nicht gekommen?, fragte sie sich. Mehr als zwanzig Minuten hatte sie an der Station gewartet und war schließlich wieder nach oben zur Bushaltestelle geeilt. Eine halbe Ewigkeit hatte der Autobus bis hinaus nach Dahlem benötigt. Nun kam sie schon zum zweiten Mal zu spät, und das Semester hatte gerade erst begonnen. Sie holte tief Luft, zog die schwere Tür auf und setzte einen Fuß auf den Parkettboden des Saals. Professor Wulff stand hinter dem Rednerpult und blätterte im ersten Drittel des Schönfelders. Der schlanke, hochgewachsene Hochschullehrer mit dem grau melierten Seitenscheitel schien sie nicht zu bemerken. Der Saal fiel zu seinem Pult hin steil ab, und von hier konnte sie alle Reihen gut überblicken. Dort – etwa drei Meter von ihr entfernt – war ein freier Platz am Rand, neben einem Kommilitonen, den sie flüchtig kannte. Er trug einen royalblauen Pullover, der aus dem grauen Einerlei der übrigen Männerkleidung hervorstach, und nickte ihr sogar zu. Möglichst unauffällig huschte sie herüber, er nahm seine Jacke auf den Schoß, klappte die Sitzfläche für sie herunter, und sie rutschte, ohne ihren Mantel auszuziehen, auf das glatte Buchenholz. Geschafft!, dachte sie, atmete erleichtert aus und flüsterte: »Danke!«
»Na, wieder die Bahn verpasst?«, raunte ihr Sitznachbar zurück und sah sie an. Sein Gesicht war gut geschnitten, und seine weit auseinanderstehenden braunen Augen betrachteten sie ohne diesen irritierten Ausdruck, den sie von so vielen anderen schon gewohnt war.
Sie antwortete leise: »Nein, die U-Bahn ist nicht gekommen.« Und während sie noch darüber nachgrübelte, woran es wohl liegen mochte, dass er sie so freundlich und ungezwungen behandelte, fiel die Tür mit einem weit durchdringenderen, metallischen Ton ins Schloss als vorhin, als der letzte Student sie ihr vor der Nase zugezogen hatte. Professor Wulff hob den Blick, und seine Augen wanderten suchend über die Köpfe seiner Studenten. Therese rutschte auf ihrem Sitz weiter nach unten und machte sich klein. Die Mütze!, fiel es ihr siedend heiß ein. Sie hatte vergessen, ihre dunkelgrüne Baskenmütze abzunehmen.
»Fräulein Trotha!«, hörte sie die scharfe Stimme des Professors und zuckte zusammen.
»Sie kommen zu spät!«
Sie zog die Mütze vom Kopf und strich sich über ihre braunen, streng frisierten Haare. Am liebsten hätte sie sich in Luft aufgelöst.
»Entschuldigung«, sagte sie leise.
»Entschuldigung, Herr Professor, heißt es!«, verbesserte er sie.
»Entschuldigung, Herr Professor.«
»Na, schön!«
Wulff wirkte halbwegs besänftigt, als er sich wieder dem Gesetzestext zuwandte. Therese atmete auf.
»Du hast es überstanden!«, flüsterte ihr Nachbar, und sie nickte kaum merklich. Doch auf einmal verschränkte Wulff die Arme und legte zwei Finger an die Wange. Er betrachtete sie. Nach einigen Sekunden sagte er: »Seien Sie versichert, dass es hier Studenten gibt, die etwas lernen möchten, Fräulein Trotha. Gehören Sie auch dazu?«
»Ja, Herr Professor«, antwortete sie und faltete die Hände unter der Bank.
»Ich bin etwas besorgt … wir wollen doch keinesfalls, dass Sie gleich zu Anfang des letzten Semesters examensrelevanten Stoff versäumen! Kommen Sie«, sagte er und machte mit dem rechten Arm eine Bewegung, die wohl einladend aussehen sollte.
»Hier vorne in der ersten Reihe ist noch ein Platz für Sie frei, neben Fräulein von Prignitz. Wir haben unsere beiden einzigen Damen gerne alle im Blick, nicht wahr, meine Herren?«
Ein zustimmendes Raunen ging durch den Saal. Wie so oft drehten sich die Köpfe ihrer Kommilitonen zu ihr um. In ihren Augen eine Mischung aus Gereiztheit und Sensationslust. Therese merkte, wie ihr das Blut den Hals hinauf bis in die Wangen stieg. Wie immer blieb ihr nichts anderes übrig, als der Aufforderung ihres Professors zu folgen. Langsam stand sie von ihrem Sitz auf. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie den bedauernden Gesichtsausdruck ihres Sitznachbarn. Während sie mit hochrotem Kopf die steilen Treppenstufen nach unten lief, hörte sie das Getuschel.
»Täusche ich mich, oder ist sie seit dem letzten Semester noch hässlicher geworden«, flüsterte eine junge Männerstimme ein paar Reihen oberhalb von ihr, laut genug, dass es die meisten hören konnten. Unterdrücktes Lachen.
Therese traute sich nicht, in die Richtung zu schauen, aus der die Beleidigung kam, sondern setzte sich mit gesenktem Kopf auf den freien Platz in der ersten Reihe. Am liebsten hätte sie sich die Hände auf die Ohren gedrückt und wäre aus dem Saal gerannt.
»Nun, da auch die letzte Studentin den Weg in unseren Hörsaal und auf ihren Platz gefunden hat, können wir endlich beginnen. Das geht leider alles von Ihrer Vorlesungszeit ab, meine Herren.«
Nach einer kurzen rhetorischen Pause, um dem lauten Gemurre Raum zu geben, setzte er die Worte »… und Damen« hinzu. Dann fixierte er erneut die erste Reihe.
Therese traute sich kaum, ihn anzusehen. Womöglich rief er sie auch noch gleich als Erste auf. Professor Wulff hatte vom ersten Semester an keinen Hehl daraus gemacht, wie wenig er von Frauen in der Jurisprudenz hielt. Es war keine einzige Vorlesung vergangen, ohne dass er versucht hatte, sie oder die einzige andere Kommilitonin vorzuführen und bloßzustellen. Jetzt traf es die andere.
»Fräulein von Prignitz«, begann er und deutete mit seiner ausgestreckten Hand auf die Studentin neben ihr.
»Stellen Sie sich vor, Sie säßen in der mündlichen Prüfung des ersten Staatsexamens, was ja nun … rein theoretisch natürlich, denn dazu müssten Sie die schriftlichen Examina bestanden haben … im nächsten halben Jahr der Fall sein könnte.«
Thereses Sitznachbarin begann sofort, nervös mit dem Fuß zu wippen, der in einem plumpen Halbschuh steckte. Einerseits war Therese erleichtert, dass sie erst einmal aus der Schusslinie des Professors gelangt war.
»Was können Sie uns über das Konstrukt und die Voraussetzungen der Culpa in contrahendo erzählen«, fuhr Professor Wulff fort, »die ja eines der Randprobleme unseres Falls ist, den ich Ihnen in der letzten Vorlesung ausgeteilt habe.«
Andererseits ahnte Therese, dass Marie von Prignitz vermutlich keine besonders zufriedenstellende Antwort auf die Frage haben würde. Sie mochte Marie und hatte sich recht schnell mit ihr angefreundet. Nicht nur weil sie die einzigen weiblichen Studenten des Semesters waren. Sondern auch aufgrund ihrer ähnlichen Vergangenheit. Sie waren beide auf großen Gutshöfen aufgewachsen, die jeweils bei Kriegsende in die Hände der Roten Armee gefallen waren. Therese stammte von dem Hofgut Feltin, nicht weit von Chemnitz. Ihre Familie war kurz nach Kriegsende enteignet worden. Maries Familiengut lag im Kreis Allenstein im ehemaligen Ostpreußen. Was sie Therese über ihre Flucht über die Ostsee geschildert hatte, übertraf ihre eigenen Leiden in den letzten Kriegsjahren bei Weitem, obwohl sie selbst Schreckliches erlebt hatte. Längst war der riesige Landbesitz der Familie von Prignitz durch die Sowjetregierung annektiert worden.
Marie stand langsam auf und drehte nervös einen Bleistift zwischen ihren Fingern. Therese sah sie unauffällig von der Seite an. Ihr unförmiges Kostüm schlackerte an ihrem Körper und saß genauso unvorteilhaft wie ihr eigenes. Sie besaßen beide weder ein Gefühl für Mode noch genug Geld, um sich neue Kleidung zu kaufen. Keine von ihnen gehörte zu den Kundinnen, die sich auf die lang ersehnte Ware in den neu eröffneten Geschäften entlang des Kurfürstendamms stürzten. Das hatten sie gemeinsam. Aber eines unterschied Marie von Prignitz ganz deutlich von Therese: Sie hatte ein hübsches, ebenmäßiges Gesicht.
»Das Institut der Culpa in contrahendo, auch cic genannt …«, begann sie jetzt leise.
»Ah, sieh mal da!«, unterbrach sie Wulff schnarrend. »Sie kennen sogar die Abkürzung. Na, Donnerwetter!«
Von den hinteren Reihen tönten Lachsalven.
»Aber die Frage ist, ob uns das hier sehr viel weiterbringt! Und es sei angemerkt, dass es sich hierbei um eine reine Wiederholung handelt!«
»Also, was ich sagen wollte, war, dass das Institut des Verschuldens bei Vertragsschluss …«
»Ahhh, und die deutsche Bezeichnung kennen Sie auch!«
Jetzt lachte fast der ganze Saal. Marie strich sich eine Strähne ihrer blonden, welligen Haare hinter das Ohr und fuhr fort: »… aus allgemeinen Rechtsgrundsätzen im Wege richterlicher Rechtsfortbildung hergeleitet wird. Erste Voraussetzung ist die Aufnahme von Vertragsverhandlungen …« Sie stockte und sah abwartend zu Wulff.
»Ja, was ist? Sprechen Sie weiter!«,...
Erscheint lt. Verlag | 27.3.2020 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 50er Jahre Romane/Erzählungen • 60er Jahre Romane/Erzählungen • authentisch • biografische Romane • Biographie • Emanzipation • Erzähltes Leben • Familie • Familiengeschichte • Familiengeschichten • Familiengeschichten Romane • Frauen • Frauenfreundschaft • Frauenfreundschaft Roman • Gesellschaftsromane • historische romane 20. jahrhundert • Katharina Fuchs • Leben • Lebensgeschichten Frauen • Lebenssekunden • Liebe • mode roman • Nachkriegsdeutschland • Nachkriegszeit Deutschland • Nachkriegszeit Deutschland 50er Jahre • Nachkriegszeit Romane • Neohisto • Neuer Historischer Roman • Roaring 60ies • Romane Nachkriegszeit • Romane nach wahren Begebenheiten • Romane nach wahren Geschichten • Roman Mode • Roman wahre Begebenheiten • schicksalsromane • Selbstbestimmtes Leben • Starke Frauen der Geschichte • Studium • Wahre GEschichte • wahre geschichten bücher • Widerstände • Wirtschaftswunder • Zeitgeschichte • Zeitgeschichte Roman • Zwei Handvoll Leben • Zwei Handvoll Leben Roman • zweite Hälfte zwanzigstes Jahrhundert |
ISBN-10 | 3-426-45390-8 / 3426453908 |
ISBN-13 | 978-3-426-45390-2 / 9783426453902 |
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