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Wer nichts glaubt, schreibt. Essays über Deutschland und die Literatur -  Maxim Biller

Wer nichts glaubt, schreibt. Essays über Deutschland und die Literatur (eBook)

Biller, Maxim - Literatur verstehen; das geschriebene Wort; Theorien; Erläuterungen - 19672

(Autor)

eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
272 Seiten
Reclam Verlag
978-3-15-961681-0 (ISBN)
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Maxim Billers schriftstellerisches Werk ist eine großangelegte Suche nach Wahrheit. Seine Literatur ist der umfassende Versuch, das Unvereinbare zu vereinbaren, Schmerz in Erkenntnis zu verwandeln sowie bequeme Konventionen aufzuspüren und zu sprengen. Dabei übernehmen Billers Essays weit mehr als eine Nebenrolle. Sie führen nicht nur vor, dass die Gattung im Kern eine zutiefst literarische ist, sondern auch, wie die Literatur in Sachen Wahrheitsfindung der Wissenschaft oder dem Journalismus voraus sein kann. Dieses E-Book versammelt eine repräsentative Auswahl an Texten aus den letzten drei Jahrzehnten, in denen sich Biller insbesondere mit der deutschen, jüdischen und amerikanischen Literatur sowie mit deutscher Gesellschaft, Politik und Geschichte auseinandersetzt. In ihrer zeitlosen Gültigkeit, stilistischen Brillanz und argumentativen Wucht prägten und prägen sie die Gattung in der deutschsprachigen Literatur maßgeblich. E-Book mit Seitenzählung der gedruckten Ausgabe: Buch und E-Book können parallel verwendet werden.

Maxim Biller wurde 1960 in Prag geboren, seit 1970 lebt er in Deutschland. Seine journalistischen und essayistischen Texte erschienen ab den späten 1980er Jahren u. a. in Tempo, Der Spiegel, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Süddeutsche Zeitung, Konkret und Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung. Er ist Kolumnist für Die Zeit. Seine Erzählungen und Romane wurden insgesamt in sechzehn Sprachen übersetzt. Zuletzt erschienen sein Memoir 'Der gebrauchte Jude' (2009), die Novelle 'Im Kopf von Bruno Schulz' (2013), der Roman 'Biografie' (2016), den die Süddeutsche Zeitung sein ?Opus Magnum? nannte, und 'Sieben Versuche zu lieben. Familiengeschichten' (2020). Sein Bestseller 'Sechs Koffer' (2018) stand auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis.

Maxim Biller wurde 1960 in Prag geboren, seit 1970 lebt er in Deutschland. Seine journalistischen und essayistischen Texte erschienen ab den späten 1980er Jahren u. a. in Tempo, Der Spiegel, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Süddeutsche Zeitung, Konkret und Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung. Er ist Kolumnist für Die Zeit. Seine Erzählungen und Romane wurden insgesamt in sechzehn Sprachen übersetzt. Zuletzt erschienen sein Memoir "Der gebrauchte Jude" (2009), die Novelle "Im Kopf von Bruno Schulz" (2013), der Roman "Biografie" (2016), den die Süddeutsche Zeitung sein ›Opus Magnum‹ nannte, und "Sieben Versuche zu lieben. Familiengeschichten" (2020). Sein Bestseller "Sechs Koffer" (2018) stand auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis.

Deutscher wider Willen
Ohne Zweifel links
Ichzeit
Der Übersetzer, seine Kinder und seine Frau
Antisemiten sind mir egal
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Unschuld mit Grünspan
Die unfriedliche Revolution
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Chaos und Schönheit
Die dritte Ethnie 148
Gebrauchsanweisung für den Hass
Die Schwierigkeiten beim Sagen der Wahrheit
Warum Ernst Jünger?
So viel Sinnlichkeit wie der Stadtplan von Kiel
Die Buchhändlerin der Nation
Wer nichts glaubt, schreibt

Der Fall Maxim Biller

Nachwort von Thomas Assheuer
Textnachweise
Register
Zum Autor

[28]Ohne Zweifel links


Als ich mit zehn Jahren aus Prag nach Deutschland kam, wusste ich leider schon, wie gefährlich das Leben sein konnte. Die Bolschewiken hatten in der Sowjetunion meinen jüdischen Großvater umgebracht, sie hatten in Prag meinen Onkel für Jahre ins Gefängnis gesteckt, sie hatten meinem Vater verboten, zu studieren, und dann waren sie auch noch im Sommer 1968 mit ihren Soldaten, Politoffizieren und Panzerdivisionen in die Tschechoslowakei einmarschiert, weil sie von Dubček, Havel und den dekadenten Filmen des Prager Barrandov-Studios genug hatten.

Ja, ich war wirklich sehr froh, in Deutschland zu sein, auf der anderen, der sicheren Seite der Stalin-Breschnew-Linie, hier würde mir bestimmt so schnell nichts passieren. Nur eine Sache wunderte mich und ging mir bald auf die Nerven: Fast keiner von denen, die ich hier in der Schule und in der Universität getroffen habe, hatte eine Ahnung davon, wie gefährlich das Leben sein konnte, wie dünn die Zivilisations- und Demokratieschicht war, auf der sich die Bewohner von US-Europa seit 1945 bewegten, wie schnell aus Freiheit Diktatur und aus freien Menschen Häftlinge und Tote werden konnten, wenn es ein charismatischer Massensadist und angeblicher Menschheitsretter unbedingt wollte.

Und schon gar nicht wussten meine von Brandt, Schmidt und Kohl verwöhnten Mitschüler und Kommilitonen, dass in der zweiten, besseren Hälfte des 20. Jahrhunderts der Kommunismus und alles, was sie dafür hielten, der größte Feind ihres süßen und freien Westlebens war. Im Gegenteil, sie liebten ihn, in allen seinen vulgären, oberflächlichen Varianten und Variationen, auf einmal gab es in Deutschland mehr K-Gruppen als Brotsorten, und die kommende Revolution sollte der ganz reale Horrorfilm sein, von dem sie sich maximalen [29]Pubertäts-Thrill versprachen. Kommunismus – egal ob als müder, moskautreuer Bolschewismus-Aufguss, egal ob als schmutzige maoistische Kulturrevolutions-Fantasie oder als jesuitische MG-Sophistik – war vor allem aber die Superpower-Ideologie, die sie fürs Erwachsenwerden brauchten. Mit ungelesenen Marx-Bänden im Bücherregal, mit simplifizierenden Nieder-mit-dem-Bösen-Dogmen in den Köpfen und wirren Alles-wird-gut-Idealen in den Herzen fühlten sie sich überhaupt erst stark genug, nein zu sagen, wenn ihre wilhelminisch strengen SPD-, CDU- und Ex-NSDAP-Eltern von ihnen verlangten, dass sie endlich mal wieder zum Friseur gingen, mit achtzehn eine der damals üblichen drei Staatsparteien wählten und den 12-Uhr-Sonntagsbraten ganz aufaßen. Sie waren links, damit sie nicht rechts sein mussten, und weil so viele andere aus ihrer Generation auch links waren, konnten sie sich gemeinsam vor den reaktionären Erwachsenen etwas weniger fürchten.

Wie seltsam, naiv und unreif die Westjugend war, wurde mir besonders an diesem warmen, grauen Hamburger Tag im Frühling oder im Sommer 1972 klar, als vier Hamburger Polizisten unseren jungen kommunistischen Sozialkundelehrer an den Armen und Beinen aus der Klasse raustrugen, weil kurz vorher die sozialliberale Brandt-Regierung in einem Anfall machiavellistischer Klarsicht beschlossen hatte, dass Leute, die den Staat abschaffen wollten, der sie bezahlte, keine Beamten mehr sein durften. Die halbe Schule war wütend, die meisten Schüler und auch einige Referendare hatten sich zuerst sogar schützend vor den kleinen, bärtigen und plötzlich sehr verschreckten Mann gestellt, aber dann waren sie zur Seite gegangen und skandierten: »Polizei, SA, SS! Polizei, SA, SS!« Ich skandierte natürlich nicht mit. Ich konnte unseren Sozialkundelehrer nicht ausstehen, ich fand, er hatte es nicht anders verdient. Er wollte, dass wir Vietcong-Schriften auswendig [30]lernten und erklärten, was wir aus ihnen für den BRD-Klassenkampf lernen könnten, er war so autoritär wie Kaiser Wilhelm, er hatte keinen Humor, und wenn ihm jemand widersprach, fing er an, zu schreien. Schade, dachte ich, dass nicht vier Jahre vorher ein paar nette westdeutsche Polizisten gekommen waren und alle sowjetischen Soldaten aus der ČSSR an allen vieren rausgetragen hatten.

Ungefähr zehn Jahre später war dann plötzlich alles ganz anders, es war besser, schöner, leichter, undogmatischer, freier und internationaler. Die Leute, die ich jetzt traf, in den Cafés, Bars und Diskotheken von München, redeten nicht mehr über Marx, Mao und Adorno, sondern über Depeche Mode, Vivienne Westwood, Andy Warhol und Hunter S. Thompson. Die Jungs schnitten sich die Haare ab, die Mädchen rasierten sich die Beine und die Achseln, und jeder Zweite hatte Freunde in New York und wollte sie dort bald besuchen.

Die Dauerparty der frühen und mittleren 80er Jahre, dachten damals viele und sagen manche bis heute, sei nicht mehr als ein ästhetizistisches Spiel gewesen, gedankenlose, harmlose Anything goes-Dekadenz und die Lust an Jacketts, deren Schultern so breit waren wie die echten Schultern von Arnold Schwarzenegger. In Wahrheit war es aber etwas sehr Tiefes, Politisches, Essenzielles. Es war – für viele – die gut durchdachte und noch besser gelaunte Reaktion auf das düstere, apodiktische, linke, unintelligente Jahrzehnt davor, es war ein Nein, das jetzt nicht den Eltern, sondern der vorherigen Jugendgeneration entgegengeschleudert wurde, den ehemaligen Sozialkundelehrern, den heuchlerischen Stern-Redakteuren und neuen Grünen, es war ein Arschtritt für jeden, der glaubte, das Leben bestünde nur aus politischen und moralischen Direktiven, weshalb er beim Sex mit seiner hässlichen Hippiefreundin statt an Kim Basinger an Petra Kelly dachte. Und oft war es auch die Wiederentdeckung der eigenen Jugend, die man so [31]lange unter den ungelesenen, unverstandenen Bändchen der Edition Suhrkamp begraben hatte.

Die meisten sagten Pop dazu – ein Wort, das mich bald aufregte, denn wenn Leute wie Diedrich Diederichsen oder Kid P. es benutzten, klang es bloß wieder wie die allerneueste altpubertäre Kommunistenlehre. Mir war zunächst aber egal, wie das, was wir damals dachten und machten, genannt wurde. Ich war einfach nur froh, dass der Westen, in dem ich lebte, immer freier, liberaler und offener zu werden schien, also genauso, wie es mir meine Eltern und ihre tschechischen, polnischen und russischen Emigrantenfreunde versprochen hatten. Und je mehr Artikel ich über die Alt-68er und ihre Kinder schrieb – ich lebte inzwischen vom Schreiben –, desto klarer wurde mir, was mich an ihnen schon immer gestört hatte: Sie waren auch nicht viel besser als ihre Todfeinde, die echten und die eingebildeten Nazis, nur dass an ihren Händen meist kein Blut klebte. Sie fürchteten sich wie ihre Eltern und Großeltern vor Amerikas Vielfalt, Liberalität und absoluter Meinungsfreiheit, sie sprachen – in wiedererwachendem Goebbels-Newspeak – von den Machenschaften der »Ostküste«, und überhaupt waren die USA aus ihrer Sicht an allem schuld, was auf der Welt nicht funktionierte, während sie zur Sowjetunion ein ähnlich taktisch-freundliches Verhältnis hatten wie Deutschland in Zeiten des Hitler-Stalin-Pakts. Dass sie Israel – zum Zweck einer leicht durchschaubaren Gewissensentlastung – immer lauter als das neue Dritte Reich beschimpften, fand ich sogar noch ziemlich unterhaltsam, weil es so verräterisch und unfreiwillig komisch war wie der Mann, der zum Psychiater kommt und sagt, er habe zwar kein Vaterproblem, würde aber komischerweise jede Nacht im Traum aus Papas Schädel Margaritas trinken.

Was ich aber an den Ur-68ern und ihren 70er-Jahre-Lehrlingen wirklich hasste, war ihr totalitärer, undemokratischer Idealismus, ihre 110-Dezibel-Besserwisserei, ihre offenbar fast [32]schon genetisch vererbte Unfähigkeit, ein Gegenargument zu analysieren und dann selbst eins zu entwickeln, um so der Lösung eines real existierenden Problems ganz pragmatisch ein wenig näher zu kommen. Die alten und nicht ganz so alten BRD-Linken, die sich allmählich in die von ihnen verachtete kapitalistische Gesellschaft professionell und institutionell hineinfraßen, waren die Sandinisten der freien Welt, und manchmal auch ihre Nordkoreaner. Wer anderer Meinung war als sie, musste darum aus dem Weg geräumt werden, in der Universität, in der Redaktion, sie wollten das Gute, schufen aber immer nur das Böse, und außerdem aßen...

Erscheint lt. Verlag 11.3.2020
Reihe/Serie Reclams Universal-Bibliothek
Reclams Universal-Bibliothek
Nachwort Thomas Assheuer
Verlagsort Ditzingen
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Essays / Feuilleton
Schlagworte Analyse • Autor • Autorschaft • Basiswissen • Biller Essays • Biller Texte • Biografie • Dekonstruktion • Dichtung • Die dritte Ethnie 148 • Diskursanalyse • Einführung • Erläuterungen • Erste Ausfahrt Uckermark • Erzählungen • Gedichte • gelb • gelbe bücher • Gender Studies • Geschichten • Goodbye Columbus • Grün • Grundlagen • Hermeneutik • Interdisziplinär • Interpretation • Intertextualität • Kultursemiotik • Kulturwissenschaft • Lektüre • Leseliste • Linguistik • Literatursoziologie • Literaturtheorie • Literaturverzeichnis • Literaturwissenschaft • Maxim Biller Essays • Medientheorie • Narratologie • Reclam Hefte • Reclams Universal Bibliothek • Rhetorik • Sechs Koffer • Sind sie auch ein Linksrechtsradikaler • Sprache • Sprachphilosophie • Sprachwissenschaft • Sprechen • Stilistik • Strukturalismus • Studenten • Studentinnen • Studierende • Textanalyse • textimmanent • Textsorten • universalbibliothek • Universität • Vorlesungen • Wissen • Wissenschaft • Wissenschaftliche Abhandlung
ISBN-10 3-15-961681-9 / 3159616819
ISBN-13 978-3-15-961681-0 / 9783159616810
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