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Zwischen den Palästen (eBook)

Roman. Die Kairo-Trilogie I
eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
688 Seiten
Unionsverlag
978-3-293-30588-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Zwischen den Palästen -  Nagib Machfus
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Abd al-Gawwad, der übermächtige Herrscher der Familie, ist gefürchtet und geliebt zugleich: Strotzend vor Vitalität und Lebenslust, ist er ein liebenswürdiger Freund und geistreicher Unterhalter, ein Kenner von Kunst und Gesang, und nicht zuletzt ein feinfühliger Liebhaber schöner Frauen. Doch wenn er die Treppe zu seinem Palast hochsteigt, verwandelt er sich zum gnadenlosen Patriarchen, der Ehefrau, Töchter und Söhne an seinen Fäden führt. Als die Wünsche und Hoffnungen jedes Einzelnen an die Oberfläche kommen, verstricken sich die Familienmitglieder immer tiefer im Geflecht ihrer verunsicherten Beziehungen.

Nagib Machfus, geboren 1911 in Kairo, gehört zu den bedeutendsten Autoren der Gegenwart und gilt als der eigentliche »Vater des ägyptischen Romans«. Sein Lebenswerk umfasst mehr als vierzig Romane, Kurzgeschichten und Novellen. 1988 erhielt er als bisher einziger arabischer Autor den Nobelpreis für Literatur. Nagib Machfus starb 2006 im Alter von 94 Jahren in Kairo.

Nagib Machfus, geboren 1911 in Kairo, gehört zu den bedeutendsten Autoren der Gegenwart und gilt als der eigentliche »Vater des ägyptischen Romans«. Sein Lebenswerk umfasst mehr als vierzig Romane, Kurzgeschichten und Novellen. 1988 erhielt er als bisher einziger arabischer Autor den Nobelpreis für Literatur. Nagib Machfus starb 2006 im Alter von 94 Jahren in Kairo.

1


Um Mitternacht wachte sie auf. Wie immer geschah das ohne jeden Wecker. Es war lediglich eine Eingebung, die ihr den beharrlichen Wunsch einflößte, genau zu dieser Zeit munter zu werden. Für einen kurzen Moment zögerte sie, war sie sich doch nicht schlüssig, ob sie wirklich die Augen aufschlagen sollte. Noch stürmten Traumbilder und das Gewisper von Gefühlen auf sie ein. Schließlich wurde sie immer unruhiger, und sie bekam Angst, der Schlaf könnte sie betrügen. Sie schüttelte leicht den Kopf, hob die Lider und blickte in die Finsternis des stockdunklen Zimmers. Es gab nicht das geringste Zeichen, aus dem sie hätte schließen können, wie spät es war. Die Straße, die unter ihrem Zimmer lag, kam bis zur Morgendämmerung nicht zur Ruhe. Die Wortfetzen, die zu Beginn der Nacht aus den Kaffeehäusern und Schenken an ihr Ohr drangen, waren auch noch um Mitternacht und kurz vor Sonnenaufgang zu vernehmen. Nichts deutete auf die Zeit hin, außer einem verborgenen, dem Zeiger einer achtsamen Uhr ähnlichen Gefühl und dem Schweigen, das auf dem Haus lag. Es verriet ihr, dass ihr Gebieter noch nicht an die Tür seines Hauses gepocht und mit der Spitze des Stocks noch nicht auf die Stufen der Treppe geschlagen hatte.

Um diese Zeit zu erwachen, war ihr in frühester Jugend zur Gewohnheit geworden, die sie auch in ihren alten Tagen noch bewahrte. Sie war damit vertraut gemacht worden, als sie die Sittsamkeit des ehelichen Lebens zu lernen hatte. Dazu gehörte, um Mitternacht aufzuwachen, zu warten, bis ihr Gebieter von seiner nächtlichen Feier heimkehrte, und ihm zu Diensten zu stehen, bis er endlich schlief. Ohne noch länger zu zögern, richtete sie sich im Bett auf, um der wohligen Verführung, weiterzuschlafen, zu widerstehen. Sie sprach die Worte »Im Namen Gottes, des barmherzigen Erbarmers«, schlüpfte unter der Bettdecke hervor und stellte die Füße auf den Boden. Sich an den Bettpfosten und Fensterläden entlangtastend, erreichte sie die Tür und öffnete sie. Schwacher Lichtschein drang von einer Lampe herein, die auf einer Konsole im Salon stand. Langsam ging sie auf sie zu, nahm sie in die Hand und kehrte ins Zimmer zurück. Die Öffnung der gläsernen Lampe spiegelte sich an der Decke als zittriger Kreis blassen Lichts wider, von einem Schattenrand umgeben. Sie stellte die Lampe auf den Tisch vor dem Sofa. Helligkeit breitete sich in dem großen viereckigen Raum mit den hohen Wänden und dem gleichmäßig verlaufenden Deckengebälk aus, wobei die kostbare Einrichtung mit dem Teppich aus Schiras, dem großen Bett mit den Messingsäulen, dem gewaltigen Schrank und dem breiten Sofa, bedeckt mit einem kleinen, vielfach gemusterten und farbenfrohen Teppich, im Verborgenen blieb. Die Frau ging zum Spiegel. Als sie ihr Bild betrachtete, bemerkte sie, dass das braune Kopftuch nach hinten verrutscht war und die kastanienbraunen Locken unordentlich auf der Stirn lagen. Sie griff nach dem Knoten, löste das Tuch, legte es sorgsam über das Haar und verknüpfte bedächtig und geschickt die beiden Enden. Dann strich sie sich über die Wangen, als wollte sie die letzten Schlafspuren verwischen. Sie war etwas über vierzig Jahre alt, mittelgroß und wirkte schmal, obwohl ihr ebenmäßiger, wohlproportionierter Körper gut gepolstert war. Das eher längliche, zart geschnittene Gesicht trug eine hohe Stirn. In den kleinen hübschen Augen lag ein träumerischer, honigfarben schimmernder Glanz. Die winzige feine Nase war bei den Flügeln ein wenig breiter. Unter den zart geschwungenen Lippen senkte sich ein spitzes Kinn, und auf der reinen, weizenfarbigen Haut prangte an ihrer rechten Wange ein tiefschwarzer Schönheitsfleck. Als wäre sie in Eile, legte sie sich, als sie auf den Holzerker zuging, den Schleier über Kopf und Gesicht, öffnete die Tür und trat hinein. Als sie in dem vom Zimmer getrennt gelegenen Käfig stand, wendete sie das Gesicht nach rechts und links, um durch die kleinen runden Löcher der geschlossenen Fensterläden einen Blick auf die Straße zu werfen.

Der Holzerker ging auf den Brunnen der Baina-l-Kasrain-Straße hinaus und überragte die Stelle, an der sich die Nahhasin-Straße, die in südlicher Richtung hinunterführte, mit der Baina-l-Kasrain-Straße kreuzte, die nach Norden hinaufstieg. Die Straße links war eng und vielfach gewunden. Dunkelheit hüllte sie ein, die nach oben hin noch dichter wurde, befanden sich doch dort die Fenster der im Schlaf liegenden Häuser. Unten war es ein wenig heller durch die Lichter der Handkarren, die Gaslampen von Kaffeehäusern und einigen Schenken, in denen die nächtlichen Unterhaltungen bis zum Sonnenaufgang andauerten. Die rechte Straße lag völlig im Dunkeln; dort gab es keine Wirtshäuser, sondern nur große Läden, deren Türen früh geschlossen wurden. Nichts lenkte den Blick auf sich, außer den Minaretten der Kalawun- und Barkuk-Moschee, die wie Trugbilder zaubernder Dämonen im Licht der strahlend hellen Sterne funkelten. Hatten sich ihre Augen an diesen Anblick auch seit einem Vierteljahrhundert gewöhnt, so waren sie doch dessen nie überdrüssig geworden. Vielleicht lag das daran, dass sie bei aller Eintönigkeit ihres Lebens nicht wusste, was Überdruss bedeutete. Im Gegenteil, gerade bei diesem Anblick hatte sie Vertrautheit und Freundlichkeit inmitten der Einsamkeit empfunden, die sie lange Zeit ihres Lebens hatte erdulden müssen. Das war, bevor die Kinder auf die Welt gekommen waren. Bis dahin hatte sie in dem großen Haus mit dem sandigen Hof, dem tiefen Brunnen, den zwei Geschossen und weiträumigen, hohen Zimmern den größten Teil des Tages und der Nacht allein zugebracht. Als sie heiratete, war sie ein junges Mädchen von weniger als vierzehn Jahren gewesen. Schon bald darauf, nachdem ihre Schwiegereltern gestorben waren, wurde sie die Herrin des Hauses. Eine alte Frau half ihr, die notwendigen Dinge zu erledigen, verließ sie aber bei Einbruch der Nacht, um im Backraum auf dem Hof zu schlafen. So blieb sie allein in der Welt der Nacht, die von Geistern und Gespenstern erfüllt war. Nickte sie für ein Stündchen ein, wachte sie die nächste Stunde, bis schließlich ihr Gebieter von einer seiner endlosen Nachtfeiern zurückkehrte.

Damit sich ihr Herz ein wenig beruhigte, hatte sie sich angewöhnt, gemeinsam mit der Dienerin, die eine Lampe vorantrug, durch alle Zimmer zu gehen, sich ängstlich in allen Winkeln umzusehen und dann die Räume, einen nach dem anderen, sorgfältig zu verschließen. Sie hatte immer mit dem ersten Geschoss begonnen, im oberen wurde der Vorgang auf die gleiche Weise wiederholt. Dabei sprach sie unentwegt Suren aus dem Koran, die ihr im Gedächtnis geblieben waren, um die Teufel zu vertreiben.

Hatte sie schließlich ihr Zimmer erreicht, schloss sie die Tür ab, schlüpfte ins Bett und hörte nicht auf, die Suren zu zitieren, bis sie eingeschlafen war. Wie sehr hatte sie doch damals, in den ersten Jahren, die Nacht gefürchtet. Über die Welt der Dämonen wusste sie viel mehr als über die Welt der Menschen, und so hatte sie denn auch nie das Gefühl verloren, in diesem großen Haus nicht allein zu leben. Auf längere Zeit konnten die Teufel den Weg zu diesen alten, großen, leeren Räumen nicht verfehlen. Vielleicht hatten sie sich dort sogar schon verkrochen, bevor sie in das Haus gebracht worden war, ja, bevor sie überhaupt das Licht der Welt erblickt hatte. Zu oft drang ihr deren Geflüster ans Ohr, zu oft streifte sie ihr sengender Atem. Nichts konnte helfen, außer die Fatiha und die Samadija zu sprechen oder in den Holzerker zu eilen und durch die Öffnungen den Blick über die Lichter der Karren und Kaffeehäuser schweifen zu lassen. Sie spitzte die Ohren, um ein Lachen oder Husten aufzuschnappen, das ihr den eigenen Atem wiedergab.

Dann waren nach und nach die Kinder geboren worden. Aber sie, die Neulinge auf dieser Welt, waren nichts weiter als zartes, frisches Fleisch, das weder die Furcht zerstreuen noch das Herz beruhigen konnte. Im Gegenteil, die Angst wuchs, bebte ihre Seele doch nun ihretwegen vor Kummer. Es nahm die Sorge zu, ihnen könnte Übles zustoßen. So barg sie die Kinder in ihren Armen, überschüttete sie mit dem warmen Atem liebevoller Zuneigung und umgab sie beim Schlafen und beim Wachsein mit dem schützenden Panzer von Suren und Amuletten, Beschwörungen und Zaubersprüchen. Aber wirkliche Ruhe fand sie erst dann, wenn der Gatte von seiner Nachtgesellschaft heimkehrte. Es geschah nicht selten, dass sie, wenn sie mit einem Kind gerade allein war, es liebkoste und in den Schlaf zu wiegen versuchte, das Kleine plötzlich an ihre Brust presste, angsterfüllt lauschte und dann laut, als wäre noch jemand im Raum, rief: »Geh weg von uns! Du hast hier nichts zu suchen! Wir sind fromme Muslims, die sich zu Gottes Einheit bekennen!« Voller Inbrunst sprach sie dann hastig die Samadija.

Je länger sie die Geister im Verlauf der Zeit ertragen musste, desto mehr ließ ihre Ängstlichkeit nach, und sie gewöhnte sich sogar etwas an deren Scherze, die ihr ja nie Schaden zugefügt hatten. Das ging so weit, dass sie beim Gefühl, von einem der Geister gestreift worden zu sein, in familiärem Umgangston erklärte: »He, kannst du nicht die Diener des Herrn respektieren? Gott steht zwischen dir und uns, also verschwinde mit Anstand!«

Wirklich beruhigt war sie aber erst, wenn ihr Gebieter nach Hause gekommen war. Allein seine Anwesenheit, ob er nun schlief oder wach war, machte sie sicher und ließ Frieden in ihre Seele einkehren. Da war es ihr gleichgültig, ob die Türen offen oder verschlossen waren, ob das Licht brannte oder nicht. Einmal, im ersten Jahr ihrer Ehe, war sie auf den Gedanken gekommen, in aller...

Erscheint lt. Verlag 12.3.2020
Übersetzer Doris Kilias
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Märchen / Sagen
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Ägypten • Arabien • Großstadt • Kairo • Kairo Trilogie
ISBN-10 3-293-30588-1 / 3293305881
ISBN-13 978-3-293-30588-5 / 9783293305885
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