Ostbewusstsein (eBook)
272 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-99656-3 (ISBN)
Valerie Schönian, Jahrgang 1990, wuchs in Magdeburg auf. Für ihr Studium der Politikwissenschaft und Germanistik ging sie nach Berlin und absolvierte anschließend die Deutsche Journalistenschule in München. Heute lebt sie als freie Journalistin in Berlin und arbeitet u.a. für das Leipziger Büro der ZEIT.
Valerie Schönian, Jahrgang 1990, wuchs in Magdeburg auf. Für ihr Studium der Politikwissenschaft und Germanistik ging sie nach Berlin und absolvierte anschließend die Deutsche Journalistenschule in München. Heute lebt sie als freie Journalistin in Berlin und arbeitet u.a. als für das Leipziger Büro der ZEIT.
2 Plötzlich Ossi
Wenn ich im Rückblick darüber nachdenke, wann es anfing, lande ich in Berlin, wohin ich nach meinem Abitur zog, um zu studieren. Dort wurde mir das erste Mal klar, dass es Unterschiede zwischen Ost und West gibt, weil ich Leute traf, die nicht wussten, was ein Polylux ist (westdeutsch: Overheadprojektor). Das war kein Problem. Eher lustig. Wie eben einige Leute mit dem Oktoberfest aufwachsen, andere mit dem Baumblütenfest. (In Magdeburg war es einfach: der Rummel.)
Mit 21 Jahren lebte ich für ein paar Wochen in Bayern, weil ich dort ein Praktikum absolvierte. Dabei hatte ich nicht den Gedanken, jetzt in »Westdeutschland« zu sein. Meine bayerischen Kolleginnen machten Witze über den grauen Osten, ich über den Versuch, unironisch Lederhosen zu tragen – alles war in Ordnung. Witze sind kein Problem, wenn alle Seiten einverstanden sind und sie auf Augenhöhe passieren. So fühlte es sich damals an.
Das änderte sich ab dem Herbst 2014, als ich für eineinhalb Jahre nach München zog. Obwohl ich mich da selbst bewusst noch nicht viel mit Ostdeutschland auseinandergesetzt habe, begann ich zu ahnen, dass irgendetwas nicht so in Ordnung ist, wie ich dachte. Eine bayerische Freundin fasste mir das, was sie in der Schule über die DDR gelernt hatte, so zusammen: Es war einmal ein schlimmer Staat, dank uns, den Westdeutschen, wurden die Leute gerettet, jetzt ist alles gut. Und dann begann zur selben Zeit auch noch Pegida in Dresden zu marschieren. Ich stand in München auf einer Gegendemo. Doch etwas unterschied mich von den Leuten um mich herum. Ich sah in den Demonstrierenden in Dresden Wütende. Viele andere, hatte ich das Gefühl, sahen zuallererst Ostdeutsche. Eine Freundin gestand mir, dass sie wegen Pegida in ganz finstere Klischees zurückfalle: »Die sind irgendwo tief in mir vergraben. Sodass ich denke: Scheiß Ossis! Ihr Jammerlappen, dass ihr euch immer noch benachteiligt fühlt!«
»Jammerlappen« dachte ich nicht. Aber so richtig verstand auch ich nicht, was dort los war in Ostdeutschland. Ab dem Herbst 2015, als Tausende Geflüchtete nach Deutschland einreisten und die Migrationspolitik die deutschen Wohnzimmertische erreichte, stritt auch ich mit meinen Eltern darüber. Ich war zu Besuch in Magdeburg, wir diskutierten über Flüchtlingspolitik, und mein Vater sagte, dass Migration eben reguliert werden müsse. Ich bekam Herzklopfen, vermutete Schlimmstes, wurde laut und schwor, zu Weihnachten nie wieder nach Hause zu kommen, sollte er jemals zu Pegida gehen oder die AfD wählen. Was mein Vater beides nicht tat und auch nicht tun wird. Er sagte da nur etwas, was mittlerweile für viele Menschen zu einem politischen Allgemeinplatz geworden ist. Ich jedoch wollte das nicht hören. Weil ich es unerträglich fand, Menschen Hilfe zu verweigern, obwohl man die Möglichkeit hätte, diese zu leisten (was ich immer noch finde). Aber ich wollte damals auch überhaupt nicht verstehen, woher die Skepsis kommt, die in Ostdeutschland zunächst größer war. Woher die Wut kommt, das Bedürfnis nach Protest. Das Gespräch mit meinen Eltern war schnell vorbei.
2016 zog ich zurück nach Berlin, und dort passierten mehrere Dinge gleichzeitig. Ich merkte, wie wenige sich für den Osten interessieren. Deshalb tat ich es umso mehr – ein bisschen aus Trotz. Je mehr ich meinen Blick auf den Osten richtete, desto mehr wurde mir das fehlende Interesse der anderen bewusst. Und desto mehr wuchs mein Lernbedürfnis. Danach, mich damit auseinanderzusetzen, warum die Ostdeutschen anscheinend immer noch irgendwie anders ticken.
Im März 2016 wurden neue Landesparlamente in Sachsen-Anhalt, Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz gewählt. In allen drei Ländern würde die AfD ins Parlament einziehen, das sagten die Umfragen voraus – und am stärksten sollte die Partei in Sachsen-Anhalt werden. Trotzdem bestimmten vor allem die westdeutschen Länder die Schlagzeilen.
Da gab es beispielsweise die Debatte um die Diskussionsrunden, in denen Politikerinnen vor einer Wahl gegeneinander antreten. In den Medien wurde breit über die Entscheidungen der beiden westdeutschen Landesoberhäupter Malu Dreyer und Winfried Kretschmann berichtet. Sie hatten erklärt, nicht an einer TV-Runde teilnehmen zu wollen, wenn auch die AfD beteiligt sei (Kretschmann änderte seine Entscheidung später). In Sachsen-Anhalt entschied der MDR, die AfD trotz ihrer Umfragewerte nicht in die Runde zu laden: Auch das war eine Entscheidung, die diskutiert gehört. Doch das passierte in der bundesweiten Presse wenig. Ich weiß noch, wie ich mich irgendwann wunderte und nachschaute, ob es denn überhaupt ein solches Fernsehduell in Sachsen-Anhalt geben würde. Sechs Wochen vor der Wahl musste ich einem Bekannten aus Nordrhein-Westfalen, der politisch interessiert und informiert ist, erklären, dass im Osten auch gewählt werde. Ein Hamburger Bekannter begründete die Aufmerksamkeit für Baden-Württemberg damit, dass dort die Grünen das erste Mal stärkste Kraft werden könnten. Ich schaute ihn entgeistert an. In Sachsen-Anhalt wurde die AfD schließlich die zweitstärkste.
Ich wollte verstehen, was da eigentlich passiert in dieser Gegend, in der ich aufgewachsen bin. Wo fängt man da an? Zu Hause. Also suchte ich das Gespräch mit meiner Familie.
Meine Familie wählt nicht die AfD, geht nicht zu Pegida, niemand von ihnen bezeichnet die Medien als eine Lügenpresse. Meine Verwandten zählen nicht zu den Leuten, die vor die Kameras geschoben werden, wenn es um ostdeutsche Wut geht. Aber was mich von meiner Familie unterschied: Ich konnte nicht einmal ein bisschen verstehen, warum die Leute skeptisch waren oder besorgt.
Ich sah das so: Im Osten gab es quasi keine Geflüchteten, gegen die die AfD so vehement auftrat, und Deutschland ging es gut. Was war das Problem?
Je länger ich meiner Familie zuhörte und sie erklärte, desto mehr kam es, ein bisschen, bei mir an: Woher das alles rührt. Was hier, im Osten, in den vergangenen Jahrzehnten eigentlich abgegangen ist.
Ich verstand, dass man misstrauisch wird, wenn vieles anders kommt als versprochen. Ich verstand die Traurigkeit, die entsteht, wenn man den eigenen Leuten beim Gehen zusehen muss. Ich verstand den Trotz, den man entwickelt, wenn man endlich auch mal gehört werden will. Ich verstand, wieso man Anerkennung für das Geleistete einfordert und mit Selbstbewusstsein über sein Leben reden will.
Ich verstand, dass nicht jedes Leben nach 1990 besser wurde. Meine Oma zum Beispiel hatte vorher alles, was sie brauchte. Dann wurde sie arbeitslos. Sie sagte, in der DDR habe sie besser gelebt, manchmal sehne sie sich zurück. Ich verstand auch meine Oma. Eine Tante erzählte mir, dass sie seit 40 Jahren arbeiten gehe, seit 25 Jahren Angst habe, ihren Job zu verlieren, und am Ende des Monats überlegen müsse, ob sie sich ihre Lieblingspralinen leisten könne. Als sie Angela Merkel sagen hörte, Deutschland gehe es gut und »wir schaffen das«, fragte sie sich: Wer ist »wir«?
Mir erschienen diese ganzen Gefühle sofort einleuchtend. Weil es meine Familie war, die mir diese Dinge erzählte. Und weil ich einige Folgen der Nachwendezeit natürlich selbst kannte: In Gardelegen, meiner Geburtsstadt, hatte beispielsweise einige Zeit zuvor der letzte Lebensmittelladen im Zentrum zugemacht. Die meisten Läden an der Hauptstraße sind jetzt geschlossen. Die Stadt hat die Besitzer aufgefordert, bunte Bilder in die Schaufenster zu stellen, damit das ein bisschen weniger auffällt.
Das erste Mal wurde mir in diesen Gesprächen bewusst, was es heißt, in einem anderen, jetzt umgestürzten System aufgewachsen zu sein. Das erste Mal sah ich durch meine Familie die ostdeutsche Perspektive, ohne mir dessen schon ganz bewusst zu sein.
Es war wie ein Vorhang, der sich öffnete. Die Leinwand wurde sichtbar. Der Saal gedimmt, die Popcorntüten knisterten, der Projektor ging an. Und auf der großen Fläche vor mir begann das Leben meiner Familie zu laufen. Die Kamera zeigte mir bekannte Szenen, aber in anderen Farben, aus anderen Winkeln, mit neuen Sinnzusammenhängen. Später merkte ich, dass ich in dieser Zeit gerade einmal den Vorspann sah. So viele Aha-Momente – und der Hauptfilm hatte noch nicht einmal begonnen. Ich sah zwar die ostdeutsche Perspektive, aber sie fühlte sich nicht wie meine eigene an.
Das änderte sich zum ersten Mal am 13. März 2016 – dem Abend der drei Landtagswahlen. Die AfD erhielt in Sachsen-Anhalt 24,2 Prozent der Zweitstimmen. Sie zog als zweitstärkste Kraft in den Landtag ein. Heute gehört das im Osten ja schon zur Regelmäßigkeit, damals war es das erste Mal. Da lief mein Heimatbundesland plötzlich doch auf allen Kanälen – ob Fernsehen, Radio oder Zeitungen. Und alle schienen überrascht zu sein.
Ich konnte es auch nicht fassen. Jede vierte Stimme. Ich dachte: Leute, so funktioniert das nicht! Auch wer enttäuscht ist und Veränderung will, kann keine rechtspopulistische Partei wählen.
Dann ging ich auf Facebook. Dort schrieben Menschen, die ich in den vergangenen Jahren in Berlin, Hamburg oder München kennengelernt hatte: »Schäm dich, Sachsen-Anhalt«, »Tja, was machste mit so Leuten« oder »Diese Hohlköpfe!«. Und da dachte ich: Leute, so funktioniert das aber auch nicht! Ihr könnt doch nicht jahrzehntelang wegschauen und dann alle Menschen eines Bundeslandes als Hinterwäldlerinnen abstempeln.
Ein paar Tage nach der Wahl unterhielt ich mich mit einem Westdeutschen, vielleicht 30 Jahre älter als ich, über das Wahlergebnis und versuchte zu erklären, was ich selbst gerade erst verstanden hatte. Gefühlte Sicherheit in der DDR, politischer Umsturz, neues Wirtschaftssystem, Abwanderung, Arbeitslosigkeit, Traurigkeit, Ohnmacht, Angst,...
Erscheint lt. Verlag | 16.3.2020 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft | |
Geisteswissenschaften ► Geschichte | |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | 30 Jahre Mauerfall • AfD • DDR • ddr bücher • Mauerfall • Nachwendekinder • Ossis • Ostalgie • Ostdeutsche Gesellschaft • Ostdeutschland • Ost West Unterschiede • Pegida • Wende • Wendekinder • Wessis • Westdeutschland • Wiedervereinigung • zonenkinder |
ISBN-10 | 3-492-99656-6 / 3492996566 |
ISBN-13 | 978-3-492-99656-3 / 9783492996563 |
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