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Hegel (eBook)

Der Weltphilosoph
eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
250 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-2269-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Hegel -  Sebastian Ostritsch
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In Zeiten, in denen sich die gesellschaftlichen Gräben weiter vertiefen und ein striktes Entweder-oder das Denken beherrscht, ist Hegels Philosophie des Sowohl-als-auch so aktuell wie nie zuvor. Leichtfüßig und souverän bringt uns Sebastian Ostritsch das Leben und die Ideen des letzten großen Systemdenkers der Philosophiegeschichte nahe. 'Alle Dinge', schreibt Georg Wilhelm Friedrich Hegel, 'sind an sich selbst widersprechend.' Bis heute gilt dieser Satz unter Philosophen als Zumutung, wenn nicht als Skandal. Doch nicht die Verherrlichung des logischen Widerspruchs ist Hegels Ziel, sondern vielmehr dessen Überwindung in einem dynamischen Prozess. Wer sich mit Hegel auf ein solches Denken einlässt, gerät in einen Rausch, den Sog der Vernunft, auch Dialektik genannt. Die Wahrheit einer Sache zeigt sich erst im Zusammenhang mit ihrem Gegenteil. Oder wie der Schwabe Hegel sagen würde: 'So isch no au wieder.' ('So ist es nun auch wieder.')

Sebastian Ostritsch, geboren 1983, studierte Philosophie und Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an den Universitäten Stuttgart und Paris. 2013 wurde er mit einer Arbeit über Hegels Rechtsphilosophie als Metaethik an der Universität Bonn promoviert. Ostritsch lehrt und forscht heute am Institut für Philosophie der Universität Stuttgart.

Sebastian Ostritsch, geboren 1983, studierte Philosophie und Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an den Universitäten Stuttgart und Paris. 2013 wurde er mit einer Arbeit über Hegels Rechtsphilosophie als Metaethik an der Universität Bonn promoviert. Ostritsch lehrt und forscht heute am Institut für Philosophie der Universität Stuttgart.

Dialektik oder »So isch no au wieder!«


Auch wer fast nichts von Hegel weiß, hat meist doch von seiner Dialektik gehört. Wer dann noch meint, ein bisschen mehr zu wissen, hält die Dialektik nicht selten für einen Dreischritt aus These, Antithese und Synthese. Allerdings findet sich bei Hegel selbst nirgends eine derartige Definition. Hegel hat sich im Gegenteil ausdrücklich gegen eine allzu schematische Auffassung seiner philosophischen Methode gewehrt. In seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie kritisiert Hegel gar Immanuel Kant dafür, sich an einem »geistlosen Schema der Triplizität« orientiert und dabei »allenthalben Thesis, Antithesis und Synthesis aufgestellt« zu haben.11

Es war wohl der heute weitgehend unbekannte Kieler Philosophieprofessor Heinrich Moritz Chalybäus, der nach Hegels Tod entscheidend zur Popularisierung der Dialektik als Dreischritt aus These, Antithese, Synthese beigetragen hat. Mit dieser Schematisierung hat er nicht nur Hegel einen Bärendienst erwiesen, sondern auch viele Kritiker Hegels in die Irre geführt. Wenn sich etwa im 20. Jahrhundert der Wissenschaftstheoretiker Karl Popper gegen Hegel wendet, indem er dem dialektischen Dreischritt unverzeihliche logische Fehler vorwirft, dann trifft seine Kritik höchstens Chalybäus und Konsorten, nicht aber Hegel selbst.

Ist nun aber die verbreitete Auffassung, Hegels Philosophie verfahre nach dem Dreischritt aus These, Antithese, Synthese, wirklich gänzlich falsch? Schließlich springt doch jedem, der Hegels Werke aufschlägt, sofort die fast ausnahmslose Dreiteilung der Bücher, Kapitel und Unterkapitel ins Auge! Nein, das dreigliedrige Schema ist nicht grundverkehrt, aber es ist eben nur ein Schema, das heißt eine starre Annäherung an das Wesentliche. Und das Wesentliche ist für Hegel der »Rhythmus der Erkenntnis«.12

Erkenntnis soll einen Rhythmus haben? Besteht Erkenntnis denn nicht gerade aus dem Auffinden und Festhalten unveränderlicher Fakten? Für Hegel tut sie das nicht, zumindest nicht die philosophische Erkenntnis. Diese besteht in einer Bewegung, und zwar einer Bewegung des Denkens. Philosophieren heißt für Hegel, sich auf diese Bewegung und ihre Eigengesetzlichkeiten einzulassen. Ein Schema wie das von These, Antithese und Synthese gleicht eher einem Metrum als einem Rhythmus. Es ist lediglich ein allgemeines Muster betonter und unbetonter Schläge, aber von den Akzentuierungen, Pausen und Verschiebungen, die einen lebendigen Rhythmus ausmachen, weiß das Schema nichts.

Wer sich auf den Rhythmus des Denkens einlässt, der entdeckt, dass Gedanken beweglich sind und zwar gemäß einer eigenen inneren Logik. Wer dieser inneren Logik folgt, der erlebt etwas Erstaunliches: Die scheinbar so festen Gedanken werden flüssig, sie lösen sich auf und nehmen sogleich eine neue Gestalt an. Sie werden, wenn zu Ende gedacht, zu anderen Gedanken, zu ihrem eigenen Gegenteil. Die Gedanken führen zu ihrer eigenen Negation, die aber nicht nichts, sondern eine »bestimmte Negation« ist.13 Dieses Umschlagen eines Gedankens in sein Gegenteil nennt Hegel das Dialektische. Mit Dialektik haben wir es also zu tun, wenn das Denken eines Gedankens über sich selbst hinausführt auf sein Gegenteil.

Der Alltagsverstand wird sogleich Beschwerde führen, dass man sich hierunter nichts vorstellen könne. Und überhaupt: Recht mystisch klingt es, dass ein Gedanke in sein Gegenteil umschlägt. Nun ist aber auch der Alltagsverstand durchaus mit dem Dialektischen vertraut. Selbst Sprichwörter zeugen davon. Man denke etwa an das römische »summum ius, summa iniuria« – »Wo Recht alles ist, herrscht höchstes Unrecht«. Wo bis zum Äußersten auf dem bestehenden Recht, der von einem Gesetzgeber gesetzten und daher positiven Gesetzgebung, beharrt wird, ohne mögliche Ausnahmen, Härtefälle oder den Gnadenakt zu berücksichtigen, dort schlägt das Recht in Unrecht um.

William Shakespeare, dessen Werke Hegel bereits mit acht Jahren von einem seiner Lieblingslehrer, »Herrn Praeceptor Löffler«, geschenkt bekam, hat die Dialektik von Recht und Unrecht in seinem Stück Der Kaufmann von Venedig eindrücklich dargestellt.14 Antonio – der titelgebende Kaufmann – borgt sich vom jüdischen Geldleiher Shylock die stolze Summe von dreitausend Dukaten, um damit seinen Freund Bassanio beim Werben um die Hand der schönen Portia zu unterstützen. Der Vertrag, den Shylock mit Antonio schließt, erklärt den Verzicht auf Zinsen, erlaubt dem Gläubiger aber stattdessen, seinem Schuldner ein Pfund Fleisch aus dem Leib zu schneiden, falls dieser das Geld nicht zurückzahlen kann. Und in der Tat: Antonio kann seine Schulden nicht begleichen, weil seine vollgeladenen Handelsschiffe wider Erwarten nicht zurückgekehrt sind. Getrieben von Rachsucht gegenüber der Christenheit, die ihn als Juden stets verachtet hat, beharrt Shylock stur auf dem gültigen Vertrag. In letzter Sekunde kann die Katastrophe durch eine juristische Spitzfindigkeit abgewendet werden: Allein auf Antonios Fleisch hat Shylock Anspruch, aber nicht auf sein Blut! Shylock muss sich geschlagen geben.

An der entscheidenden Dialektik ändert diese letzte Volte der dramatischen Handlung nichts. Shylocks Menschenmetzgerei ist formal rechtens und doch zugleich – daran besteht kein Zweifel – grausames Unrecht. Hätte der Geldleiher seinen Willen durchgesetzt, hätte das positive Recht, nicht aber die Gerechtigkeit gesiegt. Mit dem dialektischen Umschlagen von positivem Recht in Unrecht ergibt sich also zugleich der Begriff eines überpositiven Rechts, einer idealen Gerechtigkeit, die außerhalb jeder Gesetzgebung existiert.

Wie verhält sich dann aber das überpositive Recht zum positiven? Handelt es sich um einen unversöhnlichen Gegensatz, einen Widerspruch, oder lassen sich positives und überpositives Recht in einem Begriff des Rechts zusammenbringen? Diese Fragen, auf die wir bei Shakespeare keine Antworten erhalten, machen deutlich, dass mit dem dialektischen Umschlagen eines Gedankens in sein Gegenteil die Bewegung des Denkens noch nicht an ihr Ende gekommen ist. Es gilt, dem Rhythmus des Erkennens weiter nachzuspüren.

Der negative, gegensatzproduzierende Aspekt der Dialektik ist eigentlich nur ein Vorspiel. Worauf es letztlich ankommt, ist der positive, die Gegensätze versöhnende Aspekt der Dialektik: »das Spekulative«. Es fasst das »Entgegengesetzte in seiner Einheit«, überwindet die dialektisch hervorgebrachten Gegensätze, hebt sie auf.15

»Aufhebung« – das ist selbst ein spekulativer Ausdruck, vereint er in sich doch zwei gegensätzliche Bedeutungen, nämlich einerseits »aufhören lassen, ein Ende machen« und andererseits »aufbewahren, erhalten«.16 Aber wie sollen diese beiden scheinbar widersprüchlichen Bedeutungen zusammenpassen? Nun, einer Sache ein Ende zu machen bedeutet nicht zwangsläufig, sie gänzlich zu vernichten. So kann etwa einer noch formlosen Liebesbeziehung, einer Affäre, ein Ende gemacht werden, indem sie in die Form der Ehe überführt wird. Dabei wird die Liebesbeziehung nicht vernichtet, sondern in veränderter Form fortgeführt.

Diese Veränderung der Form, zu der es beim Übergang von Romanze zu Ehe kommt, verweist zugleich auf eine dritte spekulative Wortbedeutung von »Aufhebung«: nämlich das Höher- oder Emporheben. Wir feiern den Eheschluss, weil uns die eheliche Verbindung als höhere und nicht nur als eine andere Form der Liebesbeziehung zwischen zwei Menschen gilt. Aufhebung ist also zugleich Verneinung, Erhaltung und Erhöhung, oder für den Lateiner: negare, conservare und elevare.

Von ihrer negativen Seite her produziert die Dialektik zunächst Gegensätze, wie zum Beispiel den zwischen der egoistischen Eigenliebe und der genuinen Zuneigung zu einer anderen Person. Eigenliebe und Zuneigung zu einem anderen scheinen auf den ersten Blick in einem gegenseitigen Ausschlussverhältnis zu stehen. Das eine ist die Verneinung des anderen, dessen Negation. Die Spekulation hebt diesen Gegensatz auf, indem sie die wahrhafte Liebe als höhere Einheit begreift, in der die Eigenliebe und die Zuneigung zum anderen eins sind. Liebe, spekulativ verstanden, bedeutet: sich selbst im anderen und zugleich sich selbst im anderen wiederzufinden. Die Aufhebung ist daher auch Negation der Negation: Sie verneint die Verneinung.

Spekulation ist die ureigene Aufgabe der Vernunft. Die spekulative Vernunft eint und harmonisiert. Sie geht wortwörtlich aufs Ganze. Darin unterscheidet sich die Vernunft vom Verstand. Dieser löst Gedanken und Begriffe in Einzelteile auf. Er abstrahiert und isoliert, er trennt und fixiert. Es ist die Sache des Verstandes, die Dinge nüchtern zu zergliedern, zu typisieren und dann in den Schubladen unseres Denkens zu verstauen. Der Verstand erfüllt damit eine unverzichtbare Funktion: Er verleiht unserem Denken Struktur. Hegel ist deshalb auch kein Feind des Verstandes, sondern nur ein Gegner eines Verstandesdenkens, das die Alleinherrschaft über unseren Geist beansprucht. Denn zum Denken gehört auch die spekulative Vernunft. Anders als dem verständigen Sortiergeschäft geht es ihr um eine höhere Wahrheit, nämlich um den Gesamtzusammenhang des Denkens. Diesen Zusammenhang kann man aber nicht...

Erscheint lt. Verlag 16.3.2020
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Geisteswissenschaften Philosophie Geschichte der Philosophie
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Antithese • Berlin • Biografie • Denken • Dialektik • Gegensätze • Hölderlin • Hörsaal • Jena • Philosophie des Geistes • Philosophiegeschichte • Schelling • Schwaben • Stuttgart • Synthese • Systemdenker • These • Tübingen • Vorlesung
ISBN-10 3-8437-2269-2 / 3843722692
ISBN-13 978-3-8437-2269-8 / 9783843722698
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