Die Atemlehrerin (eBook)
300 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-76474-9 (ISBN)
Eine Dame mit leichtem deutschen Akzent unterrichtet Achtsamkeit in New York City: wie man bewusst atmet, den Körper erspürt und den Stress der Großstadt überlebt. Ihr Studio ist ein Geheimtipp für Sängerinnen, Tänzerinnen und verkrampfte Büromenschen. Ihre Schülerinnen meinen, sie sei ganz und gar entspannt. Aber ihre eigene, schmerzhafte Vergangenheit hält sie vor ihnen geheim.
Die Atemlehrerin erzählt die berührende Geschichte der Carola Joseph. Die Gymnastiklehrerin, 1901 geboren, lebt, arbeitet, forscht in Berlin, heiratet, heißt nun Carola Spitz, und verlässt die Stadt erst, als es fast schon zu spät ist. Sie wird zu einem jüdischen Flüchtling unter Zehntausenden, etabliert sich als »Carola Speads« in Manhattan und lehrt, als sie 98 Jahre alt ist, noch immer in ihrem Studio am Central Park.
Christoph Ribbat verknüpft eine Biografie aus nächster Nähe mit der Geschichte von Atemübungen und Gymnastikexperimenten im 20. Jahrhundert. Aus dem Nachlass einer nahezu unbekannten Emigrantin entsteht eine fesselnde Familien- und Kulturgeschichte. Wer sie liest, wird selbst beginnen, ganz bewusst Luft zu holen. Das - sagt Carola Spitz/Speads - macht glücklich.
<p>Christoph Ribbat lehrt am Institut für Anglistik/Amerikanistik der Universität Paderborn. Sein Buch <em>Im Restaurant </em>stand auf der Shortlist für den Preis der Leipziger Buchmesse und wurde in vierzehn Sprachen übersetzt. Zuletzt erschien bei Suhrkamp <em>Die Atemlehrerin: Wie Carola Spitz aus Berlin floh und die Achtsamkeit nach New York mitnahm.</em></p>
1. Das Studio der Körperlichen Umerziehung
Die Entspannungsexpertin ist nicht entspannt. Sie blickt Richtung Osten. Sie schaut auf die Bäume, die Wiesen, den See. Ihr Hals schmerzt. Eine Knorpelzwischenscheibe quetscht einen Nerv. Sie sorgt sich, dass die Miete für diese Wohnung viel zu hoch ist. Was für ein enormes finanzielles Risiko, hier einzuziehen. Aber was für ein Geschenk, so viel von diesem weiten Himmel zu sehen, von der Sonne und den Wolken. Möwen segeln dahin.
Der Bruch mit Charlotte wühlt sie auf. Sie, Carola, hat sie früher Charlöttchen genannt und Charlöttchen sie Carölchen. Mehr als zehn Jahre haben sie zusammengearbeitet. Sie waren wie Schwestern. Zusammen sind sie durch die harten Zeiten gegangen. Jetzt sprechen sie nicht mehr miteinander. Carola beobachtet, wie der Wind Streifen auf das Wasser des Sees bringt und wie sich diese Muster immer wieder ändern. Sie blickt auf Laubbäume und Tannen und schmale Pfade, die sich durchs Grün winden. In einer geraden Linie hinter den Bäumen, 800 Meter entfernt, sieht sie das Metropolitan Museum of Art an der Fifth Avenue. Hinter dem Museum liegt die Upper East Side und der East River und Queens und Long Island und dann der Atlantik und dann Europa. Sie fährt regelmäßig mit dem Bus nach Deutschland.
Ihre Schülerinnen und Schüler werden gleich kommen. Die Strohhalme liegen bereit. Es sind nicht die großen für Milkshakes, sondern die kleinen für Cocktails. Das Strohhalm-Experiment ist ihr wichtig. Gedämpft hört sie die Autos zehn Etagen unter ihr. Dieses helle, leere Zimmer hier oben ist ihr Arbeitsplatz: das Studio der Körperlichen Umerziehung. So hat sie es getauft. Sie ist dreiundfünfzig Jahre alt. Ihr Name vor dem Gesetz ist Carola Henriette Spitz. Für ihre Klienten heißt sie Carola Speads. In einem alten Pass Carola Spitzová. Vorher Carola Joseph. Irgendwann als Kind hieß sie Molle, weil sie eine Zeit lang ein bisschen ins Pummelige ging. Ihre Mutter hat sie aber auch als Erwachsene noch so genannt, selbst in ihren letzten Briefen aus Amsterdam.
Der Bus kreuzt den Park an der 86. Straße. Dann sind es noch einige Blocks und sie ist in Yorkville, Kleindeutschland. Schaller & Weber an der Second Avenue führen deutsches Apfelmus, Gewürzgurken und Pumpernickel sowie Kasseler Leberwurst, Braunschweiger Leberwurst und »Deutsche Blockwurst«.1 Das Schweinefleisch darin stört sie nicht. Ihr Mann ist Jude. Sie ist Jüdin. Sie haben auch jedes Jahr einen Christbaum, genau wie damals in Deutschland.
Das Haus, in dem sie seit einem knappen Jahr wohnt, heißt Rossleigh Court. Es liegt an der Ecke von 85. Straße und Central Park West. Daher hat es zwei Adressen. Für den privaten Briefverkehr nutzt sie: 1 West 85th Street. Sie hat viel Post zu erledigen, vor allem mit deutschen Behörden und ihren Anwälten in West-Berlin. Einer von ihnen, Herr Schwarz, ist Spezialist für Entschädigungsangelegenheiten. Er selbst hat seinen Vater in Theresienstadt verloren.2 Komplizierte, schmerzhafte Dinge tauscht sie mit den Juristen aus.
Ihre professionelle Anschrift, die des »Studio of Physical Re-Education«, lautet: 251 Central Park West. Jeder in New York weiß, was das bedeutet. Welch eine fantastische Lage das ist. Was für einen Blick man genießt. Vielleicht ist Rossleigh Court selbst nicht das glamouröseste Gebäude der Stadt. Aber einige Meter nach links ragen die luxuriösen Türme des Eldorado auf und rechts herunter geht es zum Dakota. Dort wird eines Tages ein Musiker namens John Lennon einziehen.
Häuser stehen nur auf der einen Seite von Central Park West. Wenn man die Straße überquert, läuft man also gleich in diese ganz andere Welt, ins Grüne, in den weiten Park, wo die Luft frischer ist als überall sonst in Manhattan, weil die Bäume die Atemluft filtern. Jetzt, im Herbst des Jahres 1954, qualmen in New York Hunderttausende Kohleheizungen, Tausende private Müllverbrennungsanlagen und Busse und Laster und Autos, täglich werden es mehr. Auf neu gebauten Einfallstraßen steuern die Pendler aus den Vororten ihre privaten Kraftfahrzeuge in die Stadt. Das ist ein sehr modernes Konzept. Überall lagert sich Ruß ab. An manchen Tagen meint man in New York, dass die Luft nur aus Abgasen besteht. Nur nicht hier am Park.3
Im Haus ist es still. Die Wände sind dick. Man bekommt nicht viel von den Nachbarn mit. Über die kroatische Familie im achten Stock munkelt man, dass sie Beziehungen zur SS gehabt und deshalb nach dem Krieg die Flucht nach New York ergriffen hätte. In der elften Etage wohnt Alberta Szalita. Während des Krieges war sie als Neurologin in einem Moskauer Krankenhaus tätig. Dort erhielt sie die Nachricht, im Herbst 1943, dass ihr Ehemann, ihr Vater, ihre Mutter, vier ihrer Schwestern und einer ihrer Großväter bei einer von Deutschen organisierten Massenerschießung umgebracht worden waren. Alberta Szalita ist in die Vereinigten Staaten ausgewandert. Sie hat sich zur Psychoanalytikerin ausbilden lassen. Sie hat versucht, ihre Beziehungen mit den Ermordeten zu reflektieren, so unmöglich das auch erschien. Vor dem Trauern sei sie davongelaufen, schreibt Szalita später in ihrer Autobiografie, und das Trauern habe sie eingeholt.4
Es ist ein Schicksal, das viele hier auf der Upper West Side teilen. Die meisten aber schweigen über solche Dinge. Vielleicht laufen sie noch davon. Carola könnte vom unvorstellbaren Schicksal ihrer Mutter und ihres Bruders berichten oder von ihren eigenen Erfahrungen in Berlin, Amsterdam und Paris. Sie spricht nicht darüber, auch nicht mit Stevie, Alan und Johnny, ihren Enkeln. Ihre Großmutter, das werden diese später als erfolgreiche Männer um die sechzig sagen, habe wohl ihre amerikanischen Leben nicht beeinträchtigen wollen. Sie kommen regelmäßig vorbei, die kleinen Jungs, meistens am Samstagnachmittag, wenn Carolas Wochenendkurs vorbei ist. Manchmal bleiben sie über Nacht. Ihre Omi erzählt ihnen von dem Schäferhund, den sie als Kind besaß und der bei ihr im Bett schlafen durfte. Damals in Berlin.
Im diesem Sommer haben hier die Sirenen geheult. New York rechnet damit, von Atombomben getroffen zu werden. Früher war die Stadt weit weg von Europas Kriegen. Im Nuklearzeitalter ist das anders. Operation Alert, abgehalten an einem Montag im Juni, ging davon aus, dass drei Wasserstoffbomben in der Stadt detoniert seien. Eine habe Queens, eine die Bronx und eine Manhattan getroffen, genau an der Kreuzung von First Avenue und 57. Straße. Zügig räumten die New Yorker die Bürgersteige und suchten die vorgesehenen Schutzräume auf. Die Übung sollte ihren Glauben daran verstärken, dass ihr Land mit allem umgehen könne, auch der größten denkbaren Attacke. Falls es sich aber tatsächlich um Bomben gehandelt hätte, das sagen Realisten, wären mehr als zwei Millionen Menschen zu Tode gekommen.5
Ihre Schülerinnen und Schüler suchen eine andere Art Schutzraum. Das ist Carolas Studio für sie: ein Ort, an dem sie sich wohlfühlen und sicher. Manche kommen direkt unter dem Gebäude mit der U-Bahn an, an der Station 86. Straße. Sie lassen das Rumpeln, das Quietschen, die stickige Dunkelheit hinter sich, steigen die Treppen hoch ans Tageslicht, laufen am Gebäude entlang, biegen rechts in die 85. Straße ein. Dort ist gleich der Eingang. Im Foyer hängt das Schild: ALL VISITORS & DELIVERIES MUST BE ANNOUNCED. PLEASE CO-OPERATE WITH DOORMAN. Irgendwann wird die Tafel THIS IS A SMOKE-FREE BUILDING daneben platziert. Die Schülerinnen und Schüler kooperieren mit dem Doorman.
Der Begriff »Kulturschock« stammt von Cora Du Bois, einer von Carolas Schülerinnen. Sie ist Anthropologin, eine der besten ihrer Epoche. Sie hat Feldforschung auf der Insel Alor betrieben, im Malaiischen Archipel, allein in einer für sie komplett fremden Welt. Du Bois geht davon aus, dass die ersten zwei Monate in einer anderen Kultur verlorene Zeit sind. Zuerst muss man den Schock der Fremde verarbeiten, sich gewöhnen: an die anderen Wege, das ungewohnte Essen, die Körpersprache. Du Bois will herausfinden, ob man diese Phase verkürzen kann. Ist es möglich, sich schneller zu verändern? Kann man flexibler reagieren? Carolas Unterricht scheint genau darauf vorzubereiten. Also hat Du Bois sie neulich eingeladen, zu einem Vortrag vor Anthropologen.6
Über den Kulturschock kann Carola nicht nur als...
Erscheint lt. Verlag | 17.2.2020 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Schlagworte | Achtsamkeit • Gindler-Arbeit • I can't breathe • Im Restaurant • Mad Men • Nationalsozialismus • Psychoanalyse • Weimarer Republik • Yoga |
ISBN-10 | 3-518-76474-8 / 3518764748 |
ISBN-13 | 978-3-518-76474-9 / 9783518764749 |
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