Verbrechen (eBook)
208 Seiten
btb (Verlag)
978-3-641-26778-0 (ISBN)
Ferdinand von Schirach erzählt unglaubliche Geschichten, die dennoch wahr sind. Präzise, schnörkellos, lakonisch wie ein Raymond Carver und gerade deswegen mit unfassbarer Wucht.
Der Spiegel nannte Ferdinand von Schirach einen »großartigen Erzähler«, die New York Times einen »außergewöhnlichen Stilisten«, der Independent verglich ihn mit Kafka und Kleist, der Daily Telegraph schrieb, er sei »eine der markantesten Stimmen der europäischen Literatur«. Seine Bücher wurden vielfach verfilmt und zu millionenfach verkauften internationalen Bestsellern. Sie erschienen in mehr als vierzig Ländern. Die Theaterstücke Terror und Gott zählen zu den erfolgreichsten Dramen unserer Zeit, und Essaybände wie Die Würde des Menschen ist antastbar sowie die Gespräche mit Alexander Kluge Die Herzlichkeit der Vernunft und Trotzdem standen monatelang auf den deutschen Bestsellerlisten. Ferdinand von Schirach wurde vielfach mit Literaturpreisen ausgezeichnet. Er lebt in Berlin. Zuletzt erschienen von ihm u.a. die Erzählsammlung Nachmittage sowie der Theatermonolog Regen.
Fähner
Friedhelm Fähner war sein Leben lang praktischer Arzt in Rottweil gewesen, 2800 Krankenscheine pro Jahr, Praxis an der Hauptstraße, Vorsitzender des Kulturkreises Ägypten, Mitglied im Lions Club, keine Straftaten, nicht einmal Ordnungswidrigkeiten. Neben seinem Haus besaß er zwei Mietshäuser, einen drei Jahre alten Mercedes E-Klasse mit Lederausstattung und Klimaautomatik, etwa 750000 Euro in Aktien und Obligationen und eine Kapitallebensversicherung. Fähner hatte keine Kinder. Seine einzige noch lebende Verwandte war seine sechs Jahre jüngere Schwester, die mit ihrem Mann und zwei Kindern in Stuttgart lebte. Über Fähners Leben hätte es eigentlich nichts zu erzählen gegeben.
Bis auf die Sache mit Ingrid.
Mit 24 Jahren hatte Fähner Ingrid auf dem sechzigsten Geburtstag seines Vaters kennengelernt. Auch sein Vater war Arzt in Rottweil gewesen.
Rottweil ist eine durch und durch bürgerliche Stadt. Jedem Fremden wird ungefragt erklärt, die Stadt sei von den Staufern gegründet und die älteste in Baden-Württemberg. Tatsächlich trifft man hier auf mittelalterliche Erker und hübsche Stechschilder aus dem 16. Jahrhundert. Die Fähners waren schon immer hier. Sie gehörten zu den sogenannten ersten Familien der Stadt, waren anerkannte Ärzte, Richter und Apotheker.
Friedhelm Fähner ähnelte dem jungen John F. Kennedy. Er hatte ein freundliches Gesicht, man hielt ihn für einen sorglosen Menschen, die Dinge glückten ihm. Nur wenn man genauer hinsah, fiel etwas Trauriges, etwas Altes und Dunkles in seinen Zügen auf, wie man es nicht selten in dieser Gegend zwischen Schwarzwald und schwäbischer Alb sieht.
Ingrids Eltern, Apotheker in Rottweil, brachten ihre Tochter zu der Feier mit. Sie war drei Jahre älter als Fähner, eine handfeste Provinzschönheit mit schweren Brüsten. Wasserblaue Augen, schwarze Haare, blasse Haut – sie war sich ihrer Wirkung bewusst. Die seltsam hohe, metallische Stimme, die keinerlei Modulation zuließ, irritierte Fähner. Nur wenn sie leise sprach, hatten ihre Sätze eine Melodie.
Sie hatte die Realschule nicht abgeschlossen und arbeitete als Kellnerin. »Vorübergehend«, sagte sie zu Fähner. Ihm war das gleichgültig. Sie war ihm auf einem anderen Gebiet, das ihn mehr interessierte, weit voraus. Fähner hatte bis dahin nur zwei kurze sexuelle Kontakte mit Frauen gehabt; sie hatten ihn eher verunsichert. Er verliebte sich sofort in Ingrid.
Zwei Tage nach der Feier verführte sie ihn nach einem Picknick. Sie lagen in einer Wetterhütte, und Ingrid machte ihre Sache gut. Fähner war so durcheinander, dass er sie schon eine Woche später bat, ihn zu heiraten. Ohne zu zögern, nahm sie an: Fähner war eine sogenannte gute Partie, er studierte Medizin in München, er war attraktiv und liebevoll, und er stand kurz vor dem ersten Examen. Vor allem aber zog seine Ernsthaftigkeit sie an. Sie konnte das nicht formulieren, aber sie sagte ihrer Freundin, Fähner werde sie nie sitzen lassen. Vier Monate später wohnte sie bei ihm.
Die Hochzeitsreise ging nach Kairo, es war sein Wunsch. Wenn man ihn später nach Ägypten fragte, sagte er, es sei »schwerelos«, auch wenn er wusste, dass ihn niemand verstand. Er war dort der junge Parsifal, der reine Tor, und er war glücklich. Es war das letzte Mal in seinem Leben.
Am Abend vor der Rückreise lagen sie im Hotelzimmer. Die Fenster waren geöffnet, es war immer noch zu heiß, die Luft staute sich in dem kleinen Zimmer. Es war ein billiges Hotel, es roch nach faulem Obst, und von unten hörten sie den Straßenlärm.
Trotz der Hitze hatten sie miteinander geschlafen. Fähner lag auf dem Rücken und verfolgte die Drehungen des Deckenventilators, Ingrid rauchte eine Zigarette. Sie drehte sich zur Seite, stützte ihren Kopf auf eine Hand und sah ihn an. Er lächelte. Sie schwiegen lange.
Dann begann sie zu erzählen. Sie erzählte von den Männern vor Fähner, von Enttäuschungen und Fehlern, aber vor allem von dem französischen Oberleutnant, der sie geschwängert hatte, und von der Abtreibung, die sie fast getötet hätte. Sie weinte. Er erschrak und nahm sie in die Arme. Auf seiner Brust spürte er ihren Herzschlag, er war hilflos. Sie ist mir anvertraut, dachte er.
»Du musst mir schwören, dass du auf mich aufpasst. Du darfst mich nie verlassen.« Ingrids Stimme zitterte.
Es rührte ihn, er wollte sie beruhigen, er habe das doch schon in der Kirche bei der Hochzeit geschworen, er sei glücklich mit ihr, er wolle …
Sie unterbrach ihn hart, ihre Stimme wurde lauter, sie hatte jetzt den metallisch-farblosen Klang. »Schwöre es!«
Und plötzlich verstand er. Das war kein Gespräch unter Liebenden, der Ventilator, Kairo, die Pyramiden, die Hitze des Hotelzimmers – alle Klischees verschwanden schlagartig. Er schob sie ein Stück von sich, um ihr in die Augen sehen zu können. Dann sagte er es. Er sagte es langsam, und er wusste, was er sagte. »Ich schwöre es.«
Er zog sie wieder zu sich und küsste ihr Gesicht. Sie schliefen noch einmal miteinander. Diesmal war es anders. Sie saß auf ihm, sie nahm sich, was sie wollte. Sie waren ernst, fremd und einsam. Als sie kam, schlug sie ihm ins Gesicht. Später lag er noch lange wach und starrte an die Decke. Der Strom war ausgefallen, der Ventilator bewegte sich nicht mehr.
Natürlich bestand Fähner sein Examen mit Auszeichnungen, legte seine Promotion ab und bekam eine erste Stelle im Kreiskrankenhaus Rottweil. Sie fanden eine Wohnung, drei Zimmer, Bad, Blick auf den Waldrand.
Als der Hausrat in München eingepackt wurde, warf sie seine Plattensammlung weg. Er bemerkte es erst beim Einzug in die neue Wohnung. Sie sagte, sie könne die Platten nicht ausstehen, er habe sie mit anderen Frauen gehört. Fähner war wütend. Sie sprachen zwei Tage fast nicht miteinander.
Fähner mochte die Klarheit des Bauhauses – sie richtete die Wohnung in Eiche und Kiefer ein, hängte Gardinen vor die Fenster und kaufte bunte Bettwäsche. Selbst die gestickten Untersetzer und die Zinnbecher nahm er hin, er wollte sie nicht bevormunden.
Einige Wochen später erklärte Ingrid, es störe sie, wie er sein Besteck halte. Anfangs lachte er und meinte, sie sei kindisch. Sie wiederholte den Vorwurf am nächsten Tag und die Tage darauf. Und weil sie es ernst nahm, hielt er das Messer anders.
Ingrid beschwerte sich, dass er den Müll nicht runterbringe. Er redete sich ein, dass das nur Anfangsschwierigkeiten seien. Bald darauf warf sie ihm vor, dass er zu spät nach Hause komme, er habe mit anderen Frauen geflirtet.
Die Vorwürfe rissen nicht ab, bald hörte er sie täglich. Er sei unordentlich, er verschmutze seine Hemden, er zerknittere die Zeitung, er rieche schlecht, er denke nur an sich, er rede Unsinn, er betrüge sie. Fähner verteidigte sich kaum noch.
Nach einigen Jahren begannen die Beschimpfungen. Zuerst verhalten, dann immer massiver. Er sei ein Schwein, er quäle sie, er sei ein Schwachkopf. Dann kamen die Fäkalsprache und das Anschreien. Er gab auf. Nachts stand er auf und las Science-Fiction-Romane. Wie zu seinen Studentenzeiten joggte er täglich eine Stunde. Sie schliefen schon lange nicht mehr miteinander. Er bekam Angebote von anderen Frauen, aber er hatte keine Affären. Mit 35 übernahm er die Praxis seines Vaters, mit 40 war er ergraut. Fähner war müde.
Als Fähner 48 war, starb sein Vater; als er 50 war, seine Mutter. Von dem Erbe kaufte er ein Fachwerkhaus am Stadtrand. Zu dem Haus gehörten ein kleiner Park, verwahrloste Stauden, 40 Apfelbäume, zwölf Kastanien, ein Teich. Der Garten wurde Fähners Rettung. Er ließ sich Bücher kommen, abonnierte Fachzeitschriften und las alles, was es über Stauden, Teiche und Bäume zu lesen gab. Er kaufte die besten Geräte, beschäftigte sich mit Bewässerungstechnik und lernte alles mit der ihm eigenen systematischen Gründlichkeit. Der Garten erblühte, und die Stauden wurden in der Umgebung so bekannt, dass Fähner Fremde zwischen den Apfelbäumen sah, die dort fotografierten.
Unter der Woche blieb er lange in der Praxis. Als Arzt war Fähner gründlich und mitfühlend. Seine Patienten schätzten ihn, seine Diagnosen waren Maßstab in Rottweil. Er verließ das Haus, bevor Ingrid aufwachte, und kehrte erst nach neun zurück. Die Abendessen voller Vorwürfe nahm er schweigend hin. Die metallische Stimme Ingrids reihte modulationslos Satz um Satz Anfeindungen aneinander. Sie war fett geworden, ihre blasse Haut hatte sich mit den Jahren rosa gefärbt. Ihr wulstiger Hals war nicht mehr fest, vor ihrer Kehle hatte sich ein Hautlappen gebildet, der im Takt ihrer Beschimpfungen hin und her waberte. Sie litt unter Atemnot und Bluthochdruck. Fähner wurde immer dünner. Als er eines Abends mit vielen Worten vorschlug, Ingrid möge Hilfe bei einem befreundeten Nervenarzt suchen, warf sie eine Pfanne nach ihm und brüllte, er sei eine undankbare Sau.
In der Nacht vor seinem 60. Geburtstag lag Fähner wach. Er hatte das ausgeblichene Ägyptenfoto hervorgeholt: Ingrid und er vor der Cheopspyramide, im Hintergrund Kamele, Touristenbeduinen und Sand. Als sie die Hochzeitsalben...
Erscheint lt. Verlag | 13.4.2020 |
---|---|
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Bestseller • Deutsche Gegenwartsliteratur • eBooks • Erzählungen • Gerechtigkeit • Gut und Böse • Kaffe und Zigaretten • Preisgekrönter Autor • Recht • Rechtsfälle • Schuld • Strafe • Strafverteidiger • Terror • Verbrechen |
ISBN-10 | 3-641-26778-1 / 3641267781 |
ISBN-13 | 978-3-641-26778-0 / 9783641267780 |
Haben Sie eine Frage zum Produkt? |
Größe: 1,3 MB
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich