Ich blieb in Auschwitz (eBook)
240 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-99407-1 (ISBN)
Eddy de Wind, Jahrgang 1916, war ein niederländischer Arzt jüdischer Herkunft. 1943 wurde er nach Auschwitz deportiert und überlebte den Holocaust. Nach seiner Rückkehr in die Niederlande arbeitete er als Psychiater und Psychoanalytiker. Einen Schwerpunkt seiner Arbeit bildete die Behandlung von Patienten, die unter Kriegstraumata litten. Er starb 1987.
Eddy de Wind, Jahrgang 1916, war ein niederländischer Arzt jüdischer Herkunft. 1943 wurde er nach Auschwitz deportiert und überlebte den Holocaust. Nach seiner Rückkehr in die Niederlande arbeitete er als Psychiater und Psychoanalytiker. Einen Schwerpunkt seiner Arbeit bildete die Behandlung von Patienten, die unter Kriegstraumata litten. Er starb 1987.
*
Der Zug hielt lange, so lange, dass sie ungeduldig wurden und sich endlich Klarheit wünschten, sich wünschten, endlich sehen zu können, was Auschwitz bedeutete. Die Klarheit sollte schnell kommen.
Bei Tagesanbruch setzt sich der Zug ein letztes Mal in Bewegung, um nach ein paar Minuten erneut auf einem von Flachland umgebenen Bahndamm zu halten. Dort standen Gruppen von zehn bis zwölf Männern. Sie trugen blau-weiß gestreifte Anzüge und ebensolche Mützen. Unzählige SS-Leute liefen seltsam geschäftig auf und ab.
Kaum war der Zug zum Stehen gekommen, stürmten die Männer in den Sträflingsanzügen zu den Waggons und rissen die Türen auf. »Das Gepäck rauswerfen, alles vor den Waggon.« Sie erschraken sehr, denn sie begriffen, dass ihnen jetzt alles genommen würde. Hektisch wühlten sie noch kurz zwischen den Kleidern, um das Wichtigste zu retten. Aber die Männer waren bereits in die Waggons gesprungen und begannen, Gepäck und Menschen hinauszuwerfen. Nach kurzem Zögern standen sie draußen. Doch schon bald strömten SS-Leute von überallher auf sie zu und trieben sie zu einer Straße, die parallel zum Zug verlief. Wer nicht schnell genug war, den traten sie oder verprügelten ihn mit ihren Stöcken, sodass jeder zusah, sich so schnell wie möglich in die Schlangen einzureihen, die sich gerade bildeten.
Erst da begriff Hans: Sie wurden auseinandergerissen. Männer und Frauen wurden voneinander getrennt. Hastig küsste er Friedel. »Auf Wiedersehen«, und schon war es vorbei. Vor den langen Reihen stand ein Offizier mit einem Stock, und langsam marschierten alle auf. Der Offizier warf einen flüchtigen Blick auf jeden Einzelnen und zeigte mit seinem Stock nach links oder nach rechts. Nach links gingen alle alten Männer, Invaliden und Jungen, die aussahen, als wären sie unter achtzehn. Nach rechts die jungen und kräftigen Männer.
Hans erreichte den Offizier, beachtete ihn aber nicht weiter. Er hatte nur Augen für Friedel, die in wenigen Metern Entfernung in ihrer Reihe stand und darauf wartete, dass die Frauen drankamen. Sie lächelte ihm zu, als wollte sie sagen: »Keine Sorge, alles wird gut.«
Daher hörte er nicht, dass ihn der Offizier – ein Arzt – fragte, wie alt er sei. Der Arzt ärgerte sich, dass er keine Antwort bekam, und versetzte Hans einen derartigen Schlag mit dem Stock, dass er gleich nach links taumelte.
Da stand er zwischen den Unglücklichen, den alten Männern. Neben ihm ein Blinder und auf der anderen Seite ein debil wirkender Junge. Hans biss sich auf die Unterlippe vor Angst. Er wollte das Schicksal der Kinder und Alten nicht teilen, begriff, dass nur die Starken eine Überlebenschance hatten. Aber es war nicht möglich, zur anderen Reihe hinüberzulaufen, denn überall hielten SS-Leute Wache, das Gewehr im Anschlag.
Friedel kam zu den jungen Frauen. Ältere Frauen und sämtliche Frauen mit Kindern bildeten eine weitere Reihe. Auf diese Weise entstanden vier Reihen, ungefähr hundertfünfzig Frauen und ebenso viele Männer. Die anderen siebenhundert warteten in ihren eigenen Reihen am Straßenrand.
Dann kam der Stabsarzt zurück, schnauzte die Älteren an und fragte sie, ob Ärzte unter ihnen seien. Vier Männer sprangen nach vorn. Der Arzt wandte sich an Van der Kous, einen alten Amsterdamer Hausarzt: »Welche Krankheiten gab es in Holland im Lager?«
Van der Kous zögerte und erzählte etwas von Augenerkrankungen. Verärgert wandte sich der Arzt von ihm ab.
Da witterte Hans seine Chance
»Sie meinen vermutlich ansteckende Krankheiten. Es gab ein paar harmlose Fälle von Scharlach.«
»Flecktyphus?«
»Nein, keinen einzigen Fall.«
»Gut, dann alle zurück in die Reihe!« Anschließend, an seinen Adjutanten gewandt: »Den nehmen wir mit.«
Der Adjutant winkte Hans zu sich und führte ihn ans Ende der Reihe mit jüngeren Menschen. Hans spürte, dass er einer großen Gefahr entronnen war. Und tatsächlich: Inzwischen waren Lastwagen gekommen, auf die die alten Männer und Frauen verladen wurden.
Da sah er zum ersten Mal, wie es bei der SS wirklich zuging. Die Menschen wurden gestoßen, getreten und geschlagen. Vielen fiel es schwer, auf die hohen Lastwagen zu klettern. Aber die Stöcke der Sturmmänner sorgten schon dafür, dass alle ihr Bestes gaben.
Eine alte Frau bekam einen Schlag auf den Kopf und blutete stark. Einige blieben zurück, sie schafften es einfach nicht auf die Wagen. Und wer herbeieilte, um ihnen zu helfen, wurde mit einem Tritt oder durch Anschnauzen verscheucht.
Dann fuhr der letzte Wagen vor. Zwei SS-Leute packten einen behinderten alten Mann an Armen und Beinen und warfen ihn auf die Ladefläche. Daraufhin setzte sich auch die Reihe der Frauen in Bewegung. Friedel konnte er nicht mehr sehen, wusste aber, dass sie in dieser Reihe mitlief. Nachdem sich die Frauen ein paar Hundert Meter entfernt hatten, gingen auch die Männer los.
Die Reihen wurden schwer bewacht. Auf beiden Seiten gingen Wachposten mit, das Gewehr im Anschlag. Auf etwa zehn Gefangene kam ein Posten. Hans lief ziemlich weit hinten. Er sah, wie sich die Posten links und rechts von ihm ein Zeichen gaben. Sie schauten sich kurz um, dann kam der von links auf Hans zu und verlangte dessen Armbanduhr. Es war ein schöner Chronograf. Er hatte ihn von seiner Mutter zum Staatsexamen bekommen.
»Die brauche ich beruflich, ich bin Arzt.«
Der Wachposten grinste kurz. »Scheiße, Arzt – ein Hund bist du! Her mit der Uhr!« Der Mann packte ihn am Arm, um ihm die Uhr zu entreißen. Kurz wollte sich Hans wehren. »Aha, ein Fluchtversuch«, sagte der Mann und legte das Gewehr an.
Hans begriff, wie ohnmächtig er war. Er wollte nicht schon an seinem ersten Tag in Auschwitz »auf der Flucht erschossen« werden. Deshalb gab er seine Uhr her.
Als sie die Gleise überquerten, sah er Friedel in der Kurve. Sie winkte, und er atmete erleichtert auf. Nach den Gleisen kamen sie an einem Schlagbaum vorbei, daneben Wachposten. Jetzt schienen sie das eigentliche Lagergelände erreicht zu haben. Es handelte sich um Lagerflächen für Baumaterial. Darauf standen Schuppen und riesige Holz- und Ziegelsteinhaufen. Kleine Transportwagen fuhren vorbei, handbetrieben. Wagen, die von Männern gezogen wurden. Manchmal säumten größere Gebäude die Straßen, Fabriken, darin war Motorenlärm zu hören. Dann kamen wieder Holz, Ziegel und Schuppen. Ein Kran, der Zementwannen hochhob. Überall war etwas los, überall wurde gebaut. Aber neben den Kränen und Transportwagen fielen vor allem die Männer in Sträflingskleidung auf. Hier war nichts motorisiert, hier wurde die Arbeit von Tausenden, Zehntausenden Händen verrichtet.
Strom ist praktisch, Elektrizität ist effizient, sie lässt sich über Hunderte von Kilometern hinweg anwenden; Benzin ist schnell und wirkungsvoll. Aber Menschen sind billig. Das sah man an den hungrigen Blicken, den nackten Oberkörpern; wie Taue standen die Rippen hervor, die den Rumpf gerade noch so zusammenhielten. Das sah man an den langen Reihen von Menschen, die Steine schleppten und in Holzschuhen oder oft barfuß vorwärtshumpelten. Sie trotteten geradeaus, ohne auf- oder sich umzuschauen, die Gesichter völlig ausdruckslos. Keinerlei Reaktion auf die Neuankömmlinge. Ab und zu folgte ihnen ein Traktor mit Anhängern voller Steine. Der Motor stampfte langsam: ein Dieselmotor. Hans musste an die Abende auf dem Wasser zurückdenken, wenn er in seinem Boot lag und die Frachter vorbeituckerten.
Was war das damals für ein Leben gewesen, was hatte es nicht alles in Aussicht gestellt! Er riss sich zusammen, spürte, dass er jetzt nicht grübeln durfte, sondern kämpfen musste. Vielleicht würde es dann eines Tages wieder so werden wie früher.
Dann standen sie vor dem Tor und sahen zum ersten Mal das Lager.
Es bestand aus großen Steingebäuden, die an Kasernen erinnerten, fünfundzwanzig ungefähr. Sie hatten zwei Stockwerke und ein Dach mit kleinen Speicherfenstern. Die Straßen zwischen den Gebäuden waren gut in Schuss. Es gab Trottoirs mit sauberen Steinplatten und kleine Rasenflächen. Alles war gepflegt, ordentlich gestrichen und glänzte in der strahlenden Herbstsonne.
Es hätte eine Mustersiedlung sein können, ein Lager mit Tausenden von Arbeitern, die ein großes, nützliches Werk verrichten. Über dem Tor, in schmiedeeisernen Buchstaben, das Motto des Konzentrationslagers. Eindrücklich, aber gefährlich: »ARBEIT MACHT FREI« – eine Suggestion, die beruhigend auf die unendlich vielen Menschen einwirken sollte, die hier hereingekommen waren. Hier und durch viele ähnliche Tore anderswo in Deutschland.
Aber das war nur eine Illusion, denn dieses Tor war nichts anderes als das Höllentor, und statt »Arbeit macht frei« hätte dort stehen müssen: »Lasst, die ihr eintretet, alle Hoffnung fahren.«
Denn das Lager war mit Hochspannungsdraht eingezäunt. Zwei Reihen Betonmasten, fein säuberlich geweißt, drei Meter hoch. Die Isolatoren hielten Draht: Stacheldraht. Der Draht wirkte unverwüstlich, schwer zu überwinden. Aber das, was man nicht sah, war noch viel schlimmer: 3000 Volt Hochspannung. Vereinzelt glomm ein kleines rotes Licht, um anzuzeigen, dass Strom hindurchfloss. Und alle zehn Meter warnte ein Schild mit einem Totenkopf und der Aufschrift in Deutsch und Polnisch: »Halt! Stoj!« Im Abstand von hundert Metern hatte man kleine Wachtürme errichtet, auf denen sich jeweils ein SS-Mann mit einem Maschinengewehr befand.
Nein, von hier gab es kein Entkommen, außer es geschah ein Wunder. Das erzählten auch diejenigen, denen sie im Lager begegneten, denn innerhalb der...
Erscheint lt. Verlag | 3.1.2020 |
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Übersetzer | Christiane Burkhardt |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Geschichte ► Allgemeine Geschichte ► 1918 bis 1945 | |
Schlagworte | Auschwitz • Holocaust • Juden • Judenverfolgung • Nationalsozialismus • Zweiter Weltkrieg |
ISBN-10 | 3-492-99407-5 / 3492994075 |
ISBN-13 | 978-3-492-99407-1 / 9783492994071 |
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Größe: 3,7 MB
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