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Offene See (eBook)

Spiegel-Bestseller
Roman

*****

eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
270 Seiten
DuMont Buchverlag
978-3-8321-8496-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Offene See -  Benjamin Myers
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Ausgezeichnet als »Lieblingsbuch der Unabhängigen« 2020! Eine zeitlose und geradezu zärtliche Geschichte über die Bedeutung und Kraft menschlicher Beziehungen Der junge Robert weiß schon früh, dass er wie alle Männer seiner Familie Bergarbeiter sein wird. Dabei ist ihm Enge ein Graus. Er liebt Natur und Bewegung, sehnt sich nach der Weite des Meeres. Daher beschließt er kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, sich zum Ort seiner Sehnsucht, der offenen See, aufzumachen. Fast am Ziel angekommen, lernt er eine ältere Frau kennen, die ihn auf eine Tasse Tee in ihr leicht heruntergekommenes Cottage einlädt. Eine Frau wie Dulcie hat er noch nie getroffen: unverheiratet, allein lebend, unkonventionell, mit sehr klaren und für ihn unerhörten Ansichten zu Ehe, Familie und Religion. Aus dem Nachmittag wird ein längerer Aufenthalt, und Robert lernt eine ihm vollkommen unbekannte Welt kennen. In den Gesprächen mit Dulcie wandelt sich sein von den Eltern geprägter Blick auf das Leben. Als Dank für ihre Großzügigkeit bietet er ihr seine Hilfe rund um das Cottage an. Doch als er eine wild wuchernde Hecke stutzen will, um den Blick auf das Meer freizulegen, verbietet sie das barsch. Ebenso ablehnend reagiert sie auf ein Manuskript mit Gedichten, das Robert findet. Gedichte, die Dulcie gewidmet sind, die sie aber auf keinen Fall lesen will. »Ein intensiver und bewegender Roman, der an J. L. Carrs >Ein Monat auf dem Land< denken lässt.« The Guardian

BENJAMIN MYERS, geboren 1976, ist Journalist und Schriftsteller. Myers hat nicht nur Romane, sondern auch Sachbücher und Lyrik geschrieben. Für seine literarischen Arbeiten hat er mehrere Preise erhalten. Sein Roman >Offene See< (DuMont 2020) stand wochenlang auf der SPIEGEL-Bestsellerliste und wurde mit dem Preis des unabhängigen Buchhandels als Lieblingsbuch des Jahres ausgezeichnet. 2021 erschien >Der perfekte Kreis< (DuMont). Er lebt mit seiner Frau in Nordengland.

1

Die Bucht tat sich vor mir auf, ein weites glaziales Becken, vor mehreren Hunderttausend Jahren von knirschendem Eis und rieselndem Wasser geformt.

Ich näherte mich ihr von Norden und sah ein gigantisches halbes Amphitheater mit Farmen und Dörfchen darin, während das Land vom Moor her hinunter drängte. Dahinter erstreckten sich die Felder bis hin zum blaugrünen Meer, über dem schwindelerregend einige Häuschen hingen, wie eingestreut in diesen Einschnitt ins Land. Zwischen ihnen und dem Wasser: ein schmaler glitzernder Streifen Sand. Ein bronzenes Band.

Die Häuser hockten waghalsig über den Gezeiten auf einer bröckelnden Steilklippe aus lockerer Erde und nassem Lehm, die durch salzige Gischt und Brandung allmählich erodiert wurde. Sie muteten an wie gestrandete Matrosen, die in den Stürmen von Jahrhunderten Schiffbruch erlitten hatten. Die Zeit selbst nagte an diesem Küstenabschnitt, gestaltete unsere Insel neu in einer Epoche der Unsicherheit.

Mir kam der Gedanke, dass das Meer uns die endliche Existenz aller festen Materie vor Augen führt und dass die einzig wahren Grenzen nicht Schützengräben und Unterstände und Kontrollpunkte sind, sondern zwischen Fels und Meer und Himmel liegen.

Ich blieb stehen, um meine Feldflasche am Straßenrand an einer Quelle zu füllen, die in einen Steintrog plätscherte, und kam mir vor, als hätte ich ein Gemälde betreten. Die Sonne war eine gleißend weiße Scheibe über einer lasierten Landschaft, und ich begriff, vielleicht zum ersten Mal, was Menschen dazu brachte, einen Pinsel in die Hand zu nehmen oder ein Gedicht zu schreiben: der Impuls, die den Herzschlag beschleunigende Empfindung einzufangen, dieses Im-Jetzt-Sein, ausgelöst durch eine ebenso atemberaubende wie unerwartete Aussicht. Kunst war der Versuch, den Moment in Bernstein zu gießen.

Das frische Wasser rann mir durch die Kehle wie seidene Bänder, kühlte meinen Magen für einen Moment und sammelte sich dort. Nie schmeckt Wasser besser, als wenn es frisch aus der Erde kommt und aus Metall getrunken wird; ganz gleich, welches Behältnis, ob Kelle oder Kanne, irgendwie scheint Metall den Geschmack zum Leben zu erwecken.

Ich trank noch mehr, legte dann die hohlen Hände zusammen und hielt sie in den Strahl, eine Pfütze auf meinen rosigen Handtellern, tupfte mir das Wasser auf Stirn, Gesicht und Hals. Ich füllte meine Feldflasche erneut und ging weiter.

Es war Krieg gewesen, und obwohl der Kampf zu Ende war, tobte er noch immer in den Männern und Frauen, die ihn mit sich nach Hause genommen hatten.

Er lebte in ihren Augen weiter oder hing ihnen schwer um die Schultern wie ein blutgetränkter Umhang. Und er blühte in ihren Herzen, eine schwarze Blume, die dort Wurzeln geschlagen hatte und nie mehr ausgerissen werden konnte. Die Samen waren so toxisch, so tief gesät, dass die Erinnerungen nichts anderes sein konnten als für alle Zeiten giftig.

 Kriege dauern an, lange nachdem die Schlachten geendet haben, und damals fühlte sich die Welt an, als wäre sie voller Löcher. Sie erschien mir vernarbt und zerschmettert, ein Ort, der von den Mächtigen seines Sinns beraubt worden war. Alles war in Scherben, alles verbrannt.

Ich war weder alt genug, um mich zum Helden gemacht zu haben, noch jung genug, um den Wochenschaubildern entkommen zu sein oder den langen dunklen Schatten, die die heimkehrenden Soldaten wie leere Särge hinter sich herzogen. Denn niemand gewinnt einen Krieg wirklich; manche verlieren bloß ein bisschen weniger als andere.

Ich war ein Kind, als er begann, und ein junger Mann, als er zu Ende ging, und danach war Verlust allenthalben sichtbar, hing wie eine große schwere Wolke über der Insel, und selbst noch so viele rot-weiß-blaue Flaggen oder Orden, die den Überlebenden an die schluchzende Brust gesteckt wurden, konnten nichts daran ändern.

Den Geschichtsbüchern sollte nicht unbedingt Glauben geschenkt werden: Der Sieg der Alliierten schmeckte nicht süß, und die Winter, die folgten, sollten so eisig und unerbittlich sein wie alle Winter. Denn so wenig sich die Elemente auch um den Wahnsinn der Menschen scheren, denjenigen, die die ersten Filmaufnahmen von Stacheldraht und Massengräbern gesehen hatten, kam nun selbst der weiße, jungfräuliche Schnee unrein vor.

Doch mit den Augen der Jugend gesehen, war der Krieg eine Abstraktion, eine Erinnerung zweiten Grades, die bereits verblasste. Es war nicht unser Krieg. Er würde nicht unser Leben ruinieren, ehe es überhaupt begonnen hatte.

Im Gegenteil, er hatte in mir einen Hang zum Abenteuer geweckt, ein Fernweh, den Wunsch, über das Ende der Straße hinauszutreten, wo das Pflaster endlich in Felder überging und das industrialisierte Nordengland sich unter dem ersten warmen Dunst einer bevorstehenden Zeit des Wachstums verlor, zu erkunden, was genau eigentlich hinter dieser schimmernden Luftspiegelung lag, die den Horizont in einen wogenden Ozean aus erblühendem Grün verwandelte.

Ich war sechzehn und frei und hungrig. Hungrig nach Essen, wie wir das alle waren – die Mangelversorgung hielt noch viele Jahre an –, doch mein Appetit beschränkte sich nicht nur auf das rein Essbare. Allen, die das Glück hatten, am Leben zu sein, erschien der gegenwärtige Augenblick wie ein kostbares leeres Gefäß, das nur darauf wartete, mit Erfahrungen gefüllt zu werden. Zeit war wertvoller geworden. Sie war das Einzige, das wir in Hülle und Fülle besaßen, obwohl der Krieg uns gelehrt hatte, dass auch sie eine begrenzte Ressource war und dass es eine der größten Sünden war, sie unklug zu verbringen oder verschwenderisch mit ihr umzugehen.

Wir waren junge Männer und Frauen, und wir lebten jetzt für die Gefährten, die auf fremden Feldern gefallen oder wie Moorhühner vom Himmel geschossen worden waren, oder für die armen in Massengräbern verscharrten Seelen.

Das Leben wartete da draußen, bereit, gierig getrunken zu werden. Vertilgt und verschlungen zu werden. Meine Sinne waren erwacht und unersättlich, und ich schuldete es mir selbst und all den anderen meiner Generation, die nach ihren Müttern schreiend gestorben oder in den Lachen ihres eigenen Blutes ertrunken waren, mich mit dem Leben vollzustopfen.

Stärker als alles andere war jedoch der Lockruf der natürlichen Welt, in die ich mich versenken wollte. Aus Büchern wusste ich, dass der Norden Englands ein abwechslungsreiches Terrain aus Heidelandschaften und Wäldern, Mooren und Bergen, Schluchten und Tälern bot, alles bewohnt von Pflanzen- und Tierarten, die nur darauf warteten, von meinen staunenden und neugierigen Augen gesehen zu werden.

Zu Hause hatte ich alle Möglichkeiten erschöpft, gewissenhaft Aufzeichnungen von sämtlichen Zug- und Standvögeln gemacht, die ich gesichtet hatte. Ich hatte eine kleine Sammlung aus sorgfältig gewaschenen und von Fleischresten gesäuberten Knochen und Schädeln angelegt, die ich in einer Teekiste neben dem alten Kohlenkasten an der Hintertür aufbewahrte, da meine Mutter sie nicht im Haus haben wollte. Ich hatte geangelt und frettiert, Ratten gejagt und Fallen gestellt und einmal sogar mit schlechtem Gewissen das Ei eines brütenden Raben aus seinem luftigen Nest geraubt, doch schon bald war mir nicht mehr wohl bei der Vorstellung, Tiere aus Spaß zu töten, aus reinem Nervenkitzel zu erlegen. Schon allein, ihr gewohntes Leben zu stören, kam mir frevelhaft vor. Ich hatte so viel Zeit meiner Kindheit auf Bäumen verbracht, jetzt jedoch war ich der vertrauten Ausblicke überdrüssig, des immer gleichen Wandels der Jahreszeiten. Ich wollte sehr viel mehr von dem erleben, was anderswo geschah, jenseits der Grenzen meines ländlichen Bergarbeiterdorfs, das irgendwo zwischen der Stadt und dem Meer in einer sanft gewellten Landschaft lag. Ich wollte überrascht werden. Nur wenn ich allein in der Natur war, hatte ich je eine Ahnung von meinem wahren Ich bekommen; die übrige Zeit bestand nur aus Spielplatzlärm und Schulunterricht, häuslichen Pflichten und banaler Zerstreuung.

Ich war im Frühjahr voller Ungeduld aufgebrochen. Der Rucksack auf meinen Schultern enthielt lediglich das Allernotwendigste für eine Reise, deren einziges Ziel die Bewegung war: Schlafsack, eine Decke und eine Unterlegplane, Kleidung zum Wechseln. Zwei Töpfe, einen Becher, meine Feldflasche, Taschenmesser, Gabel, Löffel und Teller. Eine kleine Schaufel für das Geschäft im Freien. Keine Landkarte.

Einen Rasierer brauchte ich ebenfalls nicht.

Außerdem hatte ich Schreibblock und Stift dabei, ein Stück Seife, eine Zahnbürste, Streichhölzer und eine Maultrommel, die mir mein Großvater geschenkt hatte. Er gab mir den klugen Rat, dass man immer Geld verdienen könne, wenn man ein Musikinstrument beherrschte, da die Engländer ein Volk seien, das fleißiges Bemühen höher bewerte als Talent und dem es schon genüge, wenn jemand sich an etwas versuchte. Und obwohl ich mir noch nicht beigebracht hatte, dieses seltsame und verwunschen klingende Instrument zu spielen, hatte ich die feste Absicht dazu. Auf den Wegen und Straßen, die vor mir lagen, stellte ich mir jede Menge freie Zeit und ziemlich viele Abende vor, deren einsame Stille sich gewiss mit etwas Musik lindern ließe, ganz gleich, wie misstönend und ungeschickt sie erzeugt wurde.

Am Morgen meines Aufbruchs bestand meine Mam zudem darauf, mir ein Päckchen in den Rucksack zu stopfen, das einige dicke Scheiben Schinken, Käse, Äpfel und ein großes Fladenbrot enthielt, alles eingewickelt in einen Waschlappen, von dem ich ihr hoch und heilig versprechen musste, dass ich ihn wenigstens einmal am Tag benutzen würde.

Die Luft war kühl, als ich die historische Stadt verließ und den Fluss unterhalb der hohen Türme der mächtigen Kathedrale erreichte, die...

Erscheint lt. Verlag 20.3.2020
Übersetzer Ulrike Wasel, Klaus Timmermann
Sprache deutsch
Original-Titel The Offing
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte bücher wie die von seethaler • buch zum abschalten • buch zum runterkommen • buch zur entspannung • der große sommer • der perfekte kreis • Ein ganzes Leben • England • Englische Literatur • Entschleunigung • Erfahrungen • Erinnerungen • Essen • europäische Literatur • Familie • Familiengeheimnis • fest und flauschig empfehlung • Freundschaft • Heilung • J.L. Carr • Journalist • Kindheit • Kochen • Krieg • Landschaft • Leidenschaft • Liebe • Lieblingsbuch der Unabhängigen 2020 • Lieblingsbuch der unabhängigen Buchhandlungen 2020 • Literatur • Meer • Natur • reise durch nordengland • religiöse & inspirierende belletristik • Robert Seethaler • stilles buch • The Offing • Tod • Trauer • Trost • Verlust • Weihnachtsgeschenk • wie ein monat auf dem land
ISBN-10 3-8321-8496-1 / 3832184961
ISBN-13 978-3-8321-8496-4 / 9783832184964
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