Das Gewicht der Worte (eBook)
576 Seiten
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
978-3-446-26667-4 (ISBN)
Seit seiner Kindheit ist Simon Leyland von Sprachen fasziniert. Gegen den Willen seiner Eltern wird er Übersetzer und verfolgt unbeirrt das Ziel, alle Sprachen zu lernen, die rund um das Mittelmeer gesprochen werden. Von London folgt er seiner Frau Livia nach Triest, wo sie einen Verlag geerbt hat. In der Stadt bedeutender Literaten glaubt er den idealen Ort für seine Arbeit gefunden zu haben - bis ihn ein ärztlicher Irrtum aus der Bahn wirft. Doch dann erweist sich die vermeintliche Katastrophe als Wendepunkt, an dem er sein Leben noch einmal völlig neu einrichten kann. Wieder ist Pascal Mercier ein philosophischer Roman gelungen, bewegend wie der 'Nachtzug nach Lissabon.'
Pascal Mercier, 1944 in Bern geboren, lebt in Berlin. Nach Perlmanns Schweigen (1995) und Der Klavierstimmer (1998) wurde sein Roman Nachtzug nach Lissabon (2004) einer der großen Bestseller der vergangenen Jahre und in zahlreiche Sprachen übersetzt. 2007 folgte die Novelle Lea. Unter seinem bürgerlichen Namen Peter Bieri veröffentlichte er, ebenfalls bei Hanser, Das Handwerk der Freiheit (2001) sowie Eine Art zu leben (2013). Pascal Mercier wurde 2006 mit dem Marie-Luise-Kaschnitz-Preis ausgezeichnet und 2007 in Italien mit dem Premio Grinzane Cavour für den besten ausländischen Roman geehrt. 2007 erhielt er die Lichtenberg-Medaille der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen.
1
»Welcome home, Sir«, sagte der Beamte bei der Passkontrolle am Londoner Flughafen. Simon Leyland sah ihn an, wie man jemanden ansieht, der gerade etwas Wichtiges gesagt hat, etwas, was einen trifft. Er nahm seinen Pass entgegen. »Thank you«, sagte er, »thank you very much.« Langsam ging er den Gang entlang zur Rolltreppe, die hinunter zur Gepäckausgabe führte. Ab und zu trat er zur Seite, blieb stehen und betrachtete alles, als sähe er es zum ersten Mal. Auf der Treppe dann blätterte er im Pass und betrachtete sein Foto. Das letzte Mal hatte er es in seinem Arbeitszimmer in Triest betrachtet. Da war es das Foto von einem gewesen, der keine Zukunft mehr hatte. Jetzt zeigte das Bild einen Mann, für den sich die Zukunft wieder öffnete. So richtig glauben konnte er es immer noch nicht. Lange ließ er den Blick auf dem Bild ruhen und stolperte unten an der Treppe, als die gleitende Stufe, die ihn getragen hatte, unter dem festen Boden verschwand. Während er auf seinen Koffer wartete, dachte er daran, wie er den Pass in Triest in die Schublade zu den anderen Dokumenten gelegt hatte, die die Kinder finden würden. Ohne dass er es hätte erklären können, hatte er ihn mit der flachen Hand auf die Papiere gedrückt. Es war eine Bewegung der Endgültigkeit gewesen, ein Druck, der etwas besiegelte, und noch während die Bewegung andauerte, war er darüber erschrocken. Das war im September gewesen, ein glutheißer Tag voller Schirokko. Jetzt war November, und das Flugzeug war im Landeanflug durch feinen Nebel geglitten.
Leyland ging auf die Treppe zu, die hinunter zur U-Bahn führte, und blieb oben stehen. Er betrachtete das große, leuchtende Emblem der Bahn, den breiten roten Kreis, durchschnitten von einem blauen Balken mit den weißen Buchstaben UNDERGROUND. Vier oder fünf Jahre alt war er gewesen, als er es zum ersten Mal sah. Er war mit der Mutter im Zug von Oxford nach London gefahren, sie waren in Paddington Station ausgestiegen und hatten die U-Bahn genommen. Die Londoner nannten sie the tube, und sie waren stolz darauf, dass es die älteste U-Bahn der Welt war, hatte ihm die Mutter erklärt. Gebannt hatte er in die schwarze Mündung des Tunnels geblickt, an dessen Wänden Bündel von dicken, rußgeschwärzten Kabeln entlangliefen. Weit hinten im Dunkel erschienen Lichter von trübem Gelb, die immer größer und heller wurden, begleitet von einem geheimnisvollen, bedrohlichen Grollen, das immer mehr anschwoll. Als der Zug schließlich mit einer Bewegung aus dem Tunnel schoss, die wie ein Überfall war, und donnernd in die Station einfuhr, schob er ein Luftkissen vor sich her, das über den Bahnsteig fegte und das lose Papier auf dem Bahnsteig aufwirbelte. Die Luft roch nach Keller, nach Staub und Kohleofen, und doch auch ganz anders, es war ein Geruch, wie es ihn nur dort unten gab, es war der Geruch der großen, geheimnisvollen Stadt, und der Junge an der Hand der Mutter hatte die Luft tief eingeatmet.
Jetzt ging Leyland die Stufen hinunter zum Bahnsteig. Heathrow war das Ende der Piccadilly Line, und der Zug stand schon bereit. Er stieg ein und setzte sich so, dass er das Diagramm des U-Bahnnetzes sehen konnte. Er kannte das Netz auswendig, und es gab keine Station, bei der er nicht mindestens einmal ausgestiegen wäre. Der Gedanke, dass es unter dieser riesigen Stadt — so tief unten, dass man endlos lange auf den steilen Rolltreppen stand — überall Tunnel gab, in denen Hunderte von Zügen mit trüben Lichtern durch das rußige Dunkel fuhren, hatte nie aufgehört, ihn zu faszinieren, und in seinen Arbeitszimmern hatte er an der Wand stets einen Plan des Netzes aufgehängt. Sidney, sein Sohn, hatte lange vergeblich versucht, ihn zu einem mobilen Telefon zu überreden. Schließlich hatte er ihm eines zum Geburtstag geschenkt und darauf ein Programm installiert, das über Unregelmäßigkeiten in der Londoner U-Bahn informierte. Das Signal klang wie ein heller, träge fallender Wassertropfen, und dann war da etwa zu lesen: Central Line: two minutes delay at Bond Street. Leyland konnte nicht genug davon bekommen und trug das Telefon stets bei sich, obwohl er es hasste, überall erreichbar zu sein. Wenn das Signal in Gesellschaft ertönte, holte er das Telefon hervor und las mit ausdruckslosem Gesicht vor: Circle Line: three minutes delay at Victoria Station. Die Leute hielten es für eine Marotte, aber es war viel mehr als das. Manchmal setzte er sich auf die Molo Audace, die große Mole am Triestiner Hafen, ließ die Beine baumeln und wartete auf das Signal aus London. Er ging erst weg, wenn er es gehört und die Botschaft gelesen hatte. Diese Mole und die tube: wenn sie nur am selben Ort hätten sein können.
Leyland lauschte dem gedämpften Klopfen der Räder, als der Zug losfuhr. Immer, wenn er es nach längerer Zeit wieder hörte, spürte er, wie sehr er das sanfte, rhythmische Klopfen vermisst hatte. Es war ein Geräusch, das alles leichter machte. Im September, als er den Pass für immer weglegte, hatte er sich vorgestellt, hier in der Bahn zu sitzen und das Geräusch zu hören. Es würde nichts mehr helfen, hatte er gedacht. Nichts würde mehr helfen. Jetzt schloss er die Augen. Es war vorbei. Es war doch vorbei.
Leicester Square. Leyland ging den Gang entlang zur Northern Line. Auf dem Bahnsteig stand er vor dem Automaten mit Cadbury’s Schokolade. Bei jedem Besuch in London pflegte er Münzen einzuwerfen und eine Tafel mit dem dunkelblauen Papier und der goldenen Aufschrift herauszuziehen. Langsam ließ er die Schokolade jeweils im Mund zergehen, übersprang mehrere Züge und atmete tief ein, wenn das Luftkissen über ihn hinwegfegte. Dabei dachte er an das letzte Mal und an das vorletzte und rief sich in Erinnerung, was in der Zwischenzeit geschehen war. Was habe ich aus der Zeit meines Lebens gemacht?, fragte er sich dann regelmäßig. Manchmal schien ihm das eine einfache und klare Frage zu sein; dann wieder schien sie einen sonderbaren Klang zu haben, und er war nicht sicher zu wissen, wonach er fragte, und wie eine Antwort lauten könnte. Er war dann in Gedanken in Triest, er sah alles genau vor sich, jede Straße und jeden Raum, er konnte alle wichtigen Begebenheiten rekapitulieren, und trotzdem hatte er das beunruhigende Gefühl, dass das alles nicht ganz wirklich war. Dass es an ihm vorbeiglitt, ohne ihn mitzunehmen. Wie konnte das sein? Umgekehrt kam es ihm, wenn er durch Triest ging, manchmal vor, als verlöre sein früheres Leben in London immer mehr an Wirklichkeit. In solchen Momenten klang das helle Signal der Londoner U-Bahn auf seinem Telefon wie eine ferne, verblassende Erinnerung, oder wie ein Phantasma, eine Episode purer Phantasie. Nur wenn er an einer Übersetzung arbeitete und Stunde um Stunde nach den richtigen Worten suchte, war er sicher vor diesem Gefühl der zurückweichenden, schwindenden Wirklichkeit. Nur dann war alles in Ordnung und voller Gegenwart.
Dieses Mal zog er keine Schokolade aus dem Automaten. Dieses Mal sollte es anders sein. Die Frage nach der Zeit seines Lebens würde sich jetzt neu stellen. Er war hierhergekommen, um ihr auf neue Weise zu begegnen. Wie — das wusste er noch nicht. Warren Shawn, sein Onkel, hatte ihm sein Haus in Hampstead vererbt. In den letzten Tagen in Triest hatte er immer öfter daran gedacht, und immer mehr war es ihm als der richtige Ort erschienen, um über die nächste Wegstrecke nachzudenken. Sidney und Sophia hatten bemerkt, dass er den großen Koffer mitnahm. Beim Abschied am Flughafen hatte Sophia auf seinen Pass gezeigt. »Du hast nie einen italienischen beantragt«, hatte sie gesagt. Er war seiner Tochter, die bald Ärztin sein würde, übers Haar gefahren. »Keine Sorge, ich komme wieder«, hatte er gesagt. Als das Flugzeug abhob, hatte er hinuntergeblickt und gedacht: vierundzwanzig Jahre. Und jetzt?
Die Räder der Bahn klopften. Tottenham Court Road, Goodge Street, Warren Street, Euston. Noch vier Stationen bis Belsize Park. Der Zug fuhr ein. Das war die Station, die er von allen am besten kannte. Drei Jahre lang war er hier ein- und ausgestiegen, als er im Belsize Retreat Hotel in der Mansarde gewohnt und für einen Hungerlohn als Nachtportier gearbeitet hatte. Das war mehr als vierzig Jahre her. Er hatte jede Bank auf dem Bahnsteig gekannt, jede Reklame, beinahe jede Kachel an der Wand und jede Fuge. Auf der anderen Seite der Station hatte es zwei Automaten mit Cadbury’s Schokolade gegeben, auf dieser Seite nur einen. Als er bei seinem letzten Besuch hier ausgestiegen war, hatte er gesehen, dass der eine Automat beschädigt war und schräg an der Wand hing. Auf stille, unsichtbare Weise hatte er die Fassung verloren. Im Traum hatte er den Automaten wieder richtig befestigt. Wenn er dann wegging und zurückblickte, hing er wieder schief.
Als der Zug in Hampstead einfuhr,...
Erscheint lt. Verlag | 27.1.2020 |
---|---|
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Bestseller • Bille August • Bruno Ganz • Charlotte Rampling • Christopher Lee • England • Fehldiagnose • Film • Italien • Jack Huston • Jeremy Irons • London • Martina Gedeck • Medizin • Mittelmeer • Nachtzug nach Lissabon • #ohnefolie • ohnefolie • Oxford • Philosophie • Roman • Schweizer Literaturclub • spiegel bestseller • Sprache • Tom Courtenay • Triest • Übersetzung • Verfilmung • Verlag |
ISBN-10 | 3-446-26667-4 / 3446266674 |
ISBN-13 | 978-3-446-26667-4 / 9783446266674 |
Informationen gemäß Produktsicherheitsverordnung (GPSR) | |
Haben Sie eine Frage zum Produkt? |
Größe: 2,1 MB
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich