Wirklich nett (eBook)
336 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-30047-7 (ISBN)
Marcy Dermansky hat bereits drei hochgelobte Romane geschrieben, die bislang nicht ins Deutsche übersetzt wurden. Sie hat ein paar Jahre in Deutschland (Wiesbaden) verbracht und lebt nun mit ihrer Tochter in Montclair, New Jersey.
Marcy Dermansky hat bereits drei hochgelobte Romane geschrieben, die bislang nicht ins Deutsche übersetzt wurden. Sie hat ein paar Jahre in Deutschland (Wiesbaden) verbracht und lebt nun mit ihrer Tochter in Montclair, New Jersey. Martin Ruben Becker, lebt als Übersetzer in München und hat u.a Bücher von Joseph Luzzi, Robert Goolrick, Favell Lee Mortimer und David Bergen übersetzt.
Eins
Rachel
Als ich meinen Professor küsste, dachte ich nicht, dass er meinen Kuss erwidern würde. Seine Lippen waren weich. Er schmeckte nach Kaffee. Nach dem Kaffee, den ich für ihn gekocht hatte.
«Das war wirklich nett», sagte er.
Mein Professor lächelte mich an. Obwohl er anfangs zögerlich gewesen war, hatte er den Kuss doch erwidert.
Mein Professor, mein Lehrer in Kreatives Schreiben, hatte mich gebeten, den Tag über auf seine Hündin Princess aufzupassen. Es war der letzte Tag im Semester. Er hatte einen Pudel. Ein großer Hund mit aprikosenfarbenem Fell. Ich liebte Pudel. Ich war mit Pudeln aufgewachsen. Der Familien-Pudel, Posey, war gerade gestorben. Sie war eine große, weiße, wunderschöne Hündin gewesen. Ich war nicht nach Hause gefahren, um mich von ihr zu verabschieden, weil das Semester sowieso beinahe vorüber war. Ich wünschte, ich wäre gefahren. Mein Professor brachte seinen Pudel oft mit an die Uni. Er liebte seinen Hund. Ich verstand genau, warum.
Mein Professor wohnte in Brooklyn. Er pendelte den Hudson River hoch zum Campus. Er nahm die Metro-North. Fast das ganze Semester lang war er krank gewesen. Ein Virus, sagte er, eine Grippe, die einfach nicht weggehen wollte. Er war unglaublich schön, mein Professor, genau wie sein Hund. Zusammen waren sie ein atemberaubendes Paar. Mein Professor hatte lange Wimpern, große Augen, braune Haut. Seidiges Haar. Er war groß und dünn, viel zu dünn. Er stammte aus Pakistan.
Mein Professor hatte einen Roman veröffentlicht, der im Jahr seines Erscheinens alle wichtigen Preise gewonnen hatte. Ich hatte versucht, sein Buch zu lesen, aber es war mir nicht gelungen. Ein Satz war so lang wie ein ganzer Absatz. Ein Absatz war so lang wie eine ganze Seite. Bei einer Lesung auf dem Campus bat ich ihn, mir ein Exemplar seines Buches zu signieren. Obwohl ich nicht in der Lage gewesen war, es zu Ende zu lesen, sagte ich zu ihm, ich fände es wunderschön.
«Das sind Sie auch, Rachel», hatte er gesagt und zu mir aufgesehen. Sein Kompliment war aus heiterem Himmel gekommen und hatte mich völlig überrumpelt.
Ich dachte, dass er es vermutlich nicht so gemeint hatte, so ungefähr wie ich mein Kompliment für seinen Roman.
Mein Professor war in meiner Wohnung in der Nähe des Campus, als ich ihn küsste.
Wir saßen in meiner Küche. Meine Mitbewohner waren in der Bibliothek und lernten für ihre Prüfungen. Mein Professor trank den guten Kaffee, den ich für ihn gekocht hatte. Seine Hündin, Princess, hockte vor unseren Knien, und wir streichelten sie beide, wobei sich unsere Hände beinahe berührten. Er wirkte erregt, mein Professor, aufgewühlt in einer Weise, wie ich es noch nie bei ihm erlebt hatte.
«Ich konnte im Zug keinen Platz kriegen», hatte er gesagt und einfach meine Wohnung betreten, ohne darauf zu warten, dass ich ihn hereinbat, und Princess sprang hinter ihm her und wedelte mit dem Schwanz. Er hatte die Tasse Kaffee angenommen, die ich ihm angeboten hatte, und genickt, als ich Milch eingoss. «Es gab mehrere freie Plätze, aber niemand rückte zur Seite.»
«Warum nicht?», fragte ich.
«Wegen meiner Hautfarbe, natürlich», sagte er bitter.
Ich starrte ihn an.
«Weil die Leute denken, ich bin ein Terrorist», sagte er.
«Sie sind Schriftsteller», sagte ich. «Ein berühmter Romancier.»
Mein Professor schüttelte den Kopf. «Ich musste den Schaffner bitten, einer Frau zu sagen, dass sie ihre Taschen runternehmen soll. Die Fahrt dauert über eine Stunde. Ich wollte wirklich nicht die ganze Zeit stehen. Ich hatte sie schon zweimal angesprochen. Ich wusste, dass ich weitergehen sollte, aber ich war müde. Ich bin heute müde. Ich bin auch wütend. Das ist nicht das erste Mal. Eigentlich bin ich es schon gewohnt, aber heute war es mir zu viel. Ich bin nur ein Mensch, der zur Arbeit gehen will. Ich bin gut angezogen, oder etwa nicht?»
Mein Professor trug ausgewaschene Jeans, ein verwaschenes blaues Hemd, das unglaublich weich aussah. Slipper. Sein Haar wurde länger, bedeckte seine Ohren, hing ihm in die Augen.
Mein Professor hatte mir einmal gesagt, dass ich eine gute Autorin werden könnte, wenn ich nur einfach drauflosschreiben würde. Seine Hausaufgaben kamen und gingen, und ich gab nie etwas ab. Ich wollte, dass alle meine Texte brillant wurden, was darauf hinauslief, dass es mir unmöglich war, überhaupt etwas zu schreiben. Ich würde ein Nicht Bestanden bekommen, für ein Seminar, das im Prinzip alle mit einer Eins abschlossen.
«Das hört sich ja schrecklich an», sagte ich. «Die hört sich nach einer ganz grässlichen Frau an.»
«Ich bin mir sicher, dass sie sich selbst überhaupt nicht so sieht. Ich bin mir sicher, sie spendet Geld für Planned Parenthood und wählt die Demokraten. Sie weiß nicht mal, dass sie eine Rassistin ist. Sie ist die Art von Frau, die sagt, dass sie indisches Essen mag, dann aber keinen Koriander isst.»
Ich wollte meinem Professor sagen, dass ich ganz viel frischen Koriander benutzte, wenn ich Salsa zubereitete. Dass ich, auch wenn ich oft meinen Rucksack auf den Sitz neben mir stellte, in der Hoffnung, dass sich niemand neben mich setzte, doch immer dafür sorgte, dass der Platz frei war, bevor mich jemand fragen musste. Das sagte ich meinem Professor.
«Natürlich, Rachel», sagte er. «Natürlich tust du das. Du bist ein wunderbarer Mensch.»
Er sah so traurig aus, mein Professor, und dies war schon das zweite Mal, dass er mir ein Kompliment gemacht hatte, und so küsste ich ihn.
Zunächst erwiderte er meinen Kuss nicht, und dann, gerade als ich schon wieder von ihm ablassen wollte, tat er es doch.
«Sie fanden das nett?», fragte ich ihn. «Wirklich nett? Sie fanden, dass das ein wirklich netter Kuss war?»
Einmal, Anfang des Semesters, hatte ich eine Kurzgeschichte eingereicht, und er hatte darin jedes wirklich gestrichen.
«Das ist das Schönste, was mir seit langem passiert ist», sagte mein Professor.
Er hatte jedes sehr durchgestrichen. Jedes einfach. Danach war nicht mehr viel von der Geschichte übrig gewesen.
«Wirklich?», sagte ich.
«Wirklich.» Mein Professor nahm noch einen Schluck von seinem Kaffee. Er seufzte. «Wenn du nichts dagegen hast, möchte ich, dass du mich noch mal küsst.»
«Ist das denn okay?», fragte ich ihn.
«Ich weiß es nicht», sagte er. «Ehrlich, ich bin so verdammt rechtschaffen. Ich gehe erst über die Straße, wenn die Ampel grün ist. Aber jetzt will ich, was ich will, und ich möchte, dass du mich noch mal küsst.»
Und das tat ich dann.
Diesmal legte ich die Hand an seinen Hinterkopf, strich ihm mit den Fingern durchs Haar, schmiegte mich an ihn und ließ ihn nicht mehr los. Ich überlegte, ob ich ihm meine Zunge in den Mund schieben sollte, entschied mich aber dagegen. Es schien mir durchaus möglich, dass mein Professor jeden Moment seine Meinung wieder ändern könnte.
Schließlich entzog er sich mir.
«Ich werde zu spät zum Seminar kommen», sagte er und blickte auf seine Armbanduhr.
Es war eine wunderschöne Uhr. Sie sah alt und wertvoll aus. Sie hatte römische Ziffern, und das braune Lederarmband war weich und abgetragen. Ich wollte seine Uhr berühren, aber ich hielt mich zurück. Ich wollte nicht, dass mein Professor mich für merkwürdig hielt. Ich wollte ihn nicht merken lassen, dass ich wirklich alles an ihm liebte. Dass ich sein blaues Hemd liebte. Ich hielt mich davon ab, sein Hemd zu berühren. «In zehn Minuten fängt mein Seminar an», sagte er.
Mein Professor stand auf. Sein Pudel, Princess, stand ebenfalls auf, aber er wollte seinen Pudel ja bei mir lassen. Ich hatte mich darauf gefreut, den Tag mit seiner Hündin zu verbringen. Er hatte einen Hundeknochen mitgebracht, damit sie etwas zu kauen hatte.
«Sei ein braves Mädchen», sagte er.
Ich brachte meinen Professor zur Tür, und Princess folgte uns. Ich wollte nicht, dass mein Professor uns verließ. Ich wollte ihn in meine Arme schließen. Ich wollte ihn beschützen. Ich war in Sorge um ihn. Er wirkte, als bräuchte er Schutz.
«Es tut mir leid», sagte ich. «Es tut mir wirklich leid.»
«Was tut dir leid?»
Ich wusste es nicht. «Dass Sie wegen mir zu spät kommen», sagte ich.
Mein Professor zuckte mit den Schultern. Er würde zu spät kommen. Aber trotzdem schien er nicht in Eile zu sein. Er strich mir mit seinen Fingerspitzen über die Seite. Er hatte lange, wunderschöne Finger.
«Ich bringe Princess um sechs in Ihr Büro», sagte ich.
Das war der Plan, auf den wir uns bereits geeinigt hatten. Ich würde den Tag über auf seine Hündin aufpassen, mit ihr Gassi gehen, ihr Futter geben und mit ihr spielen. Bis jetzt hatte mein Professor sie immer mit ins Seminar genommen, aber es hatte Beschwerden gegeben. Ein Student behauptete, allergisch gegen Hunde zu sein, was lächerlich war, denn Princess war ein Pudel, und die sind hypoallergen. Und dann gab es noch eine Studentin, die behauptete, Princess hätte sie angeknurrt. Ich glaubte nicht, dass das stimmen konnte. Princess war die allernetteste Hündin.
Als mein Professor mich gefragt hatte, wie viel ich dafür haben wollte, hatte ich gesagt, dass ich kein Geld wolle. Daraufhin hatte er mir gesagt, er gebe mir zwanzig Dollar. Er wolle nicht den geringsten Anschein, hatte er gesagt, von irgendetwas Ungebührlichem. Das war gestern gewesen.
Um halb sechs, eine halbe Stunde zu früh, erschien mein Professor an meiner Tür, die Arme an den Seiten. Es hatte überraschend angefangen zu regnen, und er war...
Erscheint lt. Verlag | 15.6.2021 |
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Übersetzer | Martin Ruben Becker |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Amerika • amerikanischer Roman • Celeste Ng • Conneticut • Dreiecksbeziehung • Dreiecksgeschichte • Familie • Kreatives Schreiben • Mutter Tochter Beziehung • Pool • Professor • Pudel • Roman • Scheidung • Sex • Sommer • Studentin • Twitter • USA • Verbotene Liebe |
ISBN-10 | 3-644-30047-X / 364430047X |
ISBN-13 | 978-3-644-30047-7 / 9783644300477 |
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