Taghaus, Nachthaus (eBook)
384 Seiten
Kampa Verlag
978-3-311-70159-0 (ISBN)
Olga Tokarczuk, 1962 im polnischen Sulechów geboren, studierte Psychologie in Warschau und lebt heute in Breslau. Ihr Werk (bislang neun Romane und drei Erzählbände) wurde in 37 Sprachen übersetzt. 2019 wurde sie mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet. Für Die Jakobsbücher, in Polen ein Bestseller, wurde sie 2015 (zum zweiten Mal in ihrer Laufbahn) mit dem wichtigsten polnischen Literaturpreis, dem Nike-Preis, geehrt und 2018 mit dem Jan-Michalski-Literaturpreis. Im selben Jahr gewann sie außerdem den Man Booker International Prize für Unrast. Zum Schreiben zieht Olga Tokarczuk sich in ein abgeschiedenes Berghäuschen an der polnisch-tschechischen Grenze zurück.
Olga Tokarczuk, 1962 im polnischen Sulechów geboren, studierte Psychologie in Warschau und lebt heute in Breslau. Ihr Werk (bislang neun Romane und drei Erzählbände) wurde in 37 Sprachen übersetzt. 2019 wurde sie mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet. Für Die Jakobsbücher, in Polen ein Bestseller, wurde sie 2015 (zum zweiten Mal in ihrer Laufbahn) mit dem wichtigsten polnischen Literaturpreis, dem Nike-Preis, geehrt und 2018 mit dem Jan-Michalski-Literaturpreis. Im selben Jahr gewann sie außerdem den Man Booker International Prize für Unrast. Zum Schreiben zieht Olga Tokarczuk sich in ein abgeschiedenes Berghäuschen an der polnisch-tschechischen Grenze zurück.
Marta
Den ganzen ersten Tag verbrachten wir damit, unseren Grund und Boden abzuschreiten. Die Gummistiefel versanken im lehmigen Boden. Die Erde war rot, der Schmutz, der an den Händen klebte, war rot, und wenn man die Hände wusch, färbte sich das Wasser rot. R. betrachtete zum wiederholten Mal die Bäume im Obstgarten. Alte, buschige Bäume, die in alle Richtungen wucherten. Solche Bäume würden bestimmt keine Früchte hervorbringen. Der Obstgarten zog sich bis zum Wald hin und hörte an der dunklen Wand der Fichten auf. Die Fichten standen da wie ein Heer. Am Nachmittag fiel wieder ein mit Schnee vermischter Regen. Das Wasser sammelte sich auf der lehmigen Erde, es bildete kleine Bäche und Rinnsale und verschwand irgendwo unter der Hauswand. Ein unentwegtes Rauschen machte uns Sorgen, und wir stiegen mit einer Kerze in den Keller hinab. Über die steinernen Stufen ergoss sich ein regelrechter Bach, spülte über den Steinfußboden und floss dann tiefer unten wieder hinaus. Wir erkannten, dass das Haus auf einem Bachlauf stand, es war unvorsichtigerweise über fließendem unterirdischem Wasser gebaut, und jetzt ließ sich nichts mehr daran ändern. Es blieb uns keine Wahl, wir mussten uns an das dumpfe, unablässige Geräusch und die unruhigen Träume gewöhnen.
Draußen vor dem Fenster war noch ein Bach, er führte trübes, rotes Wasser, das ziellos die unbeweglichen Wurzeln der Bäume unterspülte und dann im Wald verschwand.
Aus dem Fenster des langen Zimmers sah man Martas Haus. Seit drei Jahren dachte ich darüber nach, wer Marta war. Sie erzählte immer etwas anderes über sich. Jedes Mal nannte sie ein anderes Geburtsjahr. Wie alles hier existierte auch Marta für R. und mich nur im Sommer, im Winter verschwand sie. Sie war klein, ganz weißhaarig und zahnlos. Ihre Haut war runzlig, trocken und warm. Ich weiß es, weil wir uns zur Begrüßung auf die Wangen küssten, manchmal umarmten wir einander auch unbeholfen, und dann nahm ich ihren Geruch wahr. Sie roch nach Feuchtigkeit, die sich nicht trocknen lässt. Dieser Geruch bleibt haften, man wird ihn nicht los. Kleidung, die im Regen durchnässt worden ist, muss man gründlich waschen, wie meine Mutter sagte, aber sie wusch in der Regel alles, ohne dass es notwendig war. Sie öffnete die Schränke, zog die sauberen, gestärkten Leintücher heraus und warf sie in die Waschmaschine, als habe die Nichtbenutzung sie genauso verschmutzt wie die Benutzung. Der feuchte Geruch an sich war unangenehm, aber an Martas Kleidung und auf ihrer Haut roch er vertraut und freundlich. Wenn Marta hier war, befand sich alles an seinem Platz, alles war in bester Ordnung.
Marta kam gleich am zweiten Abend. Zuerst tranken wir Tee, dann Hagebuttenwein vom letzten Jahr, der dunkel und schwer war und so süß, dass der Kopf schon nach dem ersten Schluck wie benebelt war. Ich räumte Bücher aus einer Kiste. Marta hielt ihr Glas in beiden Händen und schaute teilnahmslos zu. Ich dachte, Marta könne nicht lesen. So kam es mir vor. Das war möglich, denn sie war so alt, dass ihr die Schulpflicht vielleicht erspart geblieben war. Ihr Blick blieb nie an einem Buchstaben hängen, aber ich fragte sie nie danach.
Die Hunde liefen aufgeregt zwischen drinnen und draußen hin und her. Auf ihrem Fell brachten sie den Geruch von Kälte und Wind mit herein. Sie wärmten sich in der geheizten Küche auf, danach zog es sie wieder in den Garten. Marta kraulte ihnen mit ihren langen, knochigen Fingern den Rücken und sagte ihnen immer wieder, wie schön sie seien. So redete sie den ganzen Abend mit den Hunden. Ich sah ihr aus dem Augenwinkel zu, während ich die Bücher auf den Holzregalen aufstellte. Die Wandlampe beleuchtete ihren Scheitel mit seinem Federbüschel dünner, weißer Haare. Im Nacken wurden sie zu einem Zopf.
Ich kann mich an so viele Dinge erinnern, aber ich weiß nicht mehr, wann ich Marta zum ersten Mal gesehen habe. Ich kann mich an alle ersten Begegnungen mit Menschen, die später für mich wichtig wurden, erinnern; ich weiß noch, ob die Sonne schien, ich kann mich an Einzelheiten der Kleidung erinnern (die komischen DDR-Stiefel, die R. trug), ich erinnere mich an die Gerüche, die Geschmäcker und gleichsam die Beschaffenheit der Luft, ob sie rau und steif oder glatt und kühl wie Butter war. Von solchen Bedingungen hängt die erste Begegnung ab. Solche Dinge schreiben sich den einzelnen, vielleicht animalischen Teilen des Gehirns ein und lassen sich einfach nicht vergessen. Aber an die erste Begegnung mit Marta kann ich mich nicht mehr erinnern.
Es muss Anfang des Frühjahrs gewesen sein, denn das ist hier die Zeit, in der alles beginnt. Es muss auf dem unebenen Gelände des Tales gewesen sein, denn Marta begibt sich nie allein an einen anderen Ort. Bestimmt roch es nach Wasser, nach geschmolzenem Schnee. Sie trug sicher diesen grauen Pullover mit den großen ausgeleierten Knopflöchern.
Ich wusste nicht viel von Marta. Ich wusste nur das, was sie mir erzählt hatte. Alles musste ich mir selbst zusammenreimen, und mir wurde klar, dass ich Geschichten über sie erfand. Ich schuf eine Marta mit einer Vergangenheit und einer Gegenwart. Denn sobald ich sie bat, mir etwas über ihre Jugend zu erzählen, darüber, wie damals all das aussah, was jetzt so selbstverständlich erscheint, wechselte sie das Thema, schaute zum Fenster hinaus oder schwieg einfach, widmete ihre ganze Aufmerksamkeit dem Kohl, den sie gerade raspelte, oder flocht ihre fremd-eigenen Haare. Ich verstand das nicht als Unwillen, etwas zu erzählen. Es war, als hätte Marta nichts über sich zu erzählen. Als hätte sie keine Geschichte. Sie sprach gerne von anderen Menschen, die ich vielleicht ein paar Mal zufällig gesehen hatte oder die ich gar nicht kannte, weil ich ihnen nicht mehr begegnen konnte, denn sie waren schon lange tot. Sie sprach auch von Menschen, die mit Sicherheit gar nicht existierten – später stellte sich heraus, dass Marta gerne Dinge erfand. Und von Orten, an denen sie diese Menschen wie Pflanzen einsetzte. Sie konnte stundenlang reden, bis ich genug hatte und einen höflichen Vorwand fand, sie zu unterbrechen und über die Wiese nach Hause zu gehen. Manchmal hielt sie in ihren Ausführungen plötzlich und ohne Grund inne, wochenlang kam sie dann nicht mehr auf dieses Thema zu sprechen, um irgendwann unvermittelt wieder anzufangen: »Weißt du noch, wie ich dir erzählt habe …«.
»Ja, das weiß ich noch.«
»Also, das ging so weiter …«, und dann spann sie einen eingetrockneten Faden weiter, während ich versuchte, mich daran zu erinnern, von wem sie gesprochen hatte und wo sie stehen geblieben war. Und merkwürdigerweise war mir meistens nicht die Geschichte selbst in Erinnerung geblieben, sondern Marta, während sie erzählte, ihre kleine Gestalt mit den runden Schultern in dem Pullover mit den ausgeleierten Knopflöchern, ihre knochigen Finger. Ich wusste noch, ob sie dabei gegen die Windschutzscheibe des Autos geredet hatte, als wir auf dem Weg nach Wambierzyce waren, um dort Bretter zu bestellen, oder ob es beim Kamillepflücken auf Bobols Feld gewesen war. Auf die Geschichten selbst konnte ich mich nie besinnen, sondern nur auf die Szene, die Umstände, die Welt, die sie in mir Wurzeln schlagen ließ, als seien es gleichsam unwirkliche, erfundene, erträumte, in ihrem und in meinem Kopf hin- und hergespiegelte, von den Worten verwaschene Geschichten. Sie brach die Erzählung so plötzlich ab, wie sie sie angefangen hatte. Wegen einer Gabel, die auf den Boden gefallen war und deren blechernes Scheppern den letzten Satz zersplittert hatte, behielt sie das letzte Wort im Mund und musste es verschlucken. Oder Soundso kam herein, ohne anzuklopfen; wie es so seine Angewohnheit ist, stapfte er von draußen in seinen schweren Stiefeln herein und hinterließ eine Spur aus Wasser, Schlamm, Tau, je nach Witterung, und in seiner Anwesenheit konnte man kein einziges Wort mehr sagen, weil er so laut war.
Ich vergaß viele Dinge, die mir Marta erzählte. Die eine oder andere zusammenhanglose Pointe blieb mir in Erinnerung, so wie Senf, der noch auf dem Tellerrand liegt, wenn die Mahlzeit verzehrt worden ist. Einzelne Szenen, manche schrecklich, manche komisch. Einzelne aus dem Zusammenhang gerissene Bilder, zum Beispiel von Kindern, die mit bloßen Händen im Bach Forellen fingen. Ich wusste nicht, warum ich solche Einzelheiten anhäufte, die ganze Geschichte aber vergaß, obwohl sie ja doch einen Sinn gehabt haben musste, denn sie war eine Erzählung mit Anfang und Ende. Ich behielt nur die Kerne, die meine Erinnerung hinterher, und zwar ganz zu Recht, ausspucken musste.
Es war nicht so, dass ich nur zuhörte. Ich sprach auch mit ihr. Irgendwann am Anfang erzählte ich ihr, dass ich Angst vor dem Sterben hatte, nicht vor dem Tod, sondern vor dem Moment, wenn ich nichts mehr auf später würde verschieben können. Und dass diese Angst immer kommt, wenn es dunkel ist, und niemals tagsüber, und dass sie ein paar schreckliche Momente lang dauert, wie ein epileptischer Anfall. Gleich darauf schämte ich mich, dass ich so unvermittelt ein Bekenntnis abgelegt hatte. Dann versuchte ich, das Thema zu wechseln.
Marta hatte kein Therapeutenherz. Sie fragte nicht nach, sie ließ nicht das Geschirr in der Spüle stehen, um sich zu mir zu setzen und mir auf die Schultern zu klopfen. Sie versuchte nicht wie andere Leute, alles Wesentliche zeitlich einzuordnen, und fragte nicht: »Wann hat das angefangen?« Es ist ja ohnehin so, dass das am wichtigsten ist, was sich gerade abspielt, was man gerade vor Augen hat. Die Fragen nach Anfang und Ende vermitteln kein Wissen, das von irgendeinem Wert ist.
Manchmal dachte ich, Marta höre gar nicht zu oder...
Erscheint lt. Verlag | 29.11.2019 |
---|---|
Übersetzer | Esther Kinsky |
Verlagsort | Zürich |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Alltag • Dorflegenden • Heilige • Legende • Literaturnobelpreis • Metapyhsik • Nacht • Neuauflage • Niederschlesien • Polen • Schlesien • Tag • Traum • Tschechoslowakei • Unterbewußtsein |
ISBN-10 | 3-311-70159-3 / 3311701593 |
ISBN-13 | 978-3-311-70159-0 / 9783311701590 |
Informationen gemäß Produktsicherheitsverordnung (GPSR) | |
Haben Sie eine Frage zum Produkt? |

Größe: 1,1 MB
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich