Sengendes Licht, die Sonne und alles andere (eBook)
Der Musikjournalist Jon Savage hat zahlreiche Interviews mit zentralen Figuren der Joy-Division-Geschichte zu einer umfassenden Oral History zusammengestellt. Entstanden ist die beeindruckende Geschichte einer Band, die eine ganze Generation bewegte und das Bild der Stadt Manchester entscheidend prägte. Und es ist auch der niederschmetternde Bericht über Krankheit und innere Dämonen, die einen charismatischen Sänger und visionären Texter dazu brachten, der Welt zu entfliehen.»
Jon Savage, geboren 1953 in London, ist ein britischer Pop-Musikjournalist und Publizist. Für die Musikzeitschriften Sounds, New Musical Express und Melody Maker war er von 1977 bis in die 1980er hinein tätig. Seither schrieb Savage regelmäßig als Popmusik-Kritiker für die angesehenen britischen Tageszeitungen The Observer und den New Statesman sowie das Magazin Mojo.Bekannt wurde er vor allem durch seine vielbeachteten Bücher England's Dreaming von 1991 (dt. 2001) sowie Teenage von 2007 (dt. 2008).
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DIE SPRACHE DER STÄDTE
Fabriklandschaft, Greater Manchester, Oktober 1977 (Jon Savage)
Tony Wilson: Ich denke, dass im französischen Situationismus der Fünfzigerjahre die Psychogeografie und die Stadt als Konzept im Zentrum standen, und genauso gehörte auch die im Niedergang begriffene Stadt zum Leben von Joy Division: Das waren Jungs aus Macclesfield und Salford, und dann war da noch die Stadt – Manchester. Sie zieht sich thematisch durch das Ganze hindurch, Manchester als die archetypische moderne Stadt.
C.P. Lee: Früher hat man gesagt: »Was man heute in Manchester denkt, wird morgen in London gemacht.« Im neunzehnten Jahrhundert war das ja wirklich ein unglaublich innovativer Ort. In Salford, das nicht zu Manchester gehört, aber direkt daneben liegt, gab es die erste Straßenbeleuchtung, die ersten Straßenbahnen. All das kam aus Manchester: der soziale Wohnungsbau, die erste öffentliche Leihbibliothek – viele großartige Innovationen, die wir für Erfindungen des zwanzigsten Jahrhunderts halten, sind dort im neunzehnten Jahrhundert entstanden.
Aber gleichzeitig birgt das alles auch ein Spannungsverhältnis. Ein Spannungsverhältnis, das um den Pöbel herum entsteht, die Arbeiterklasse. Sie tritt als Meute auf. Einige führende Persönlichkeiten in Manchester wollten mit diesen Leuten arbeiten und vieles verbessern, die Stadt nach vorne bringen, aber es gab andere, die den Pöbel für sehr gefährlich hielten, wodurch Spannungen entstanden.
Ein Viertel wie Angel Meadows heißt so, weil die Toten so dicht unter der Erde lagen, dass ihre Knochen herausschauten, wenn es regnete hatte und die oberste Erdschicht weggespült worden war. Das waren Gegenden, die Polizisten grundsätzlich nur zu zweit betraten. In den Dreißigerjahren war mein Vater Polizist und musste dort mit einem Kollegen auf Streife gehen. Um drei Uhr morgens saßen die Leute noch draußen, und mein Vater fragte: »Wieso sitzen die da?« Der andere meinte: »Die bleiben so lange sitzen, bis sie vollgesoffen sind, damit sie trotz der Bettwanzen schlafen können.«
Man hatte also eine innovative, wohlhabende Stadt, was der Baumwollindustrie zu verdanken war. Manchester wurde ja auch Cottonopolis genannt, war entstanden mit Blick auf die Zukunft, durch Visionen von der Zukunft. Es gab fantastische Errungenschaften wie den Ship Canal. Dreißig Meilen weit entfernt liegt das Meer direkt vor Liverpool, aber Manchester hat nicht untätig zugesehen. Man hat sich gesagt: »Wir bringen das Meer in die Stadt«. Und hat den Ship Canal gebaut, einfach fantastisch.
In Salford gab es Hafenanlagen, weshalb es auch Barbary Coast genannt wurde. Dort lebten lauter dunkelhäutige Matrosen aus Indien, auch viele Italiener, Spanier und andere Menschen aus dem Mittelmeerraum, die mit Ohrringen und Halstüchern herumspaziert sind, das war fantastisch. Männer mit Affen auf den Schultern. Dank der Hafenanlagen kamen sie alle nach Manchester, und die Stadt wurde zu einem unglaublich opulenten Schmelztiegel der unterschiedlichsten Einflüsse und Stile. Gleichzeitig barg sie aber auch viele Schattenseiten für die Arbeiterklasse, die nicht unbedingt was vom Kuchen abbekommen hat.
Anfang des neunzehnten Jahrhunderts entwickelte sich eine riesige politische Bewegung, zunächst im englischen Nordwesten. Die Chartisten und die Befürworter des Freihandels wollten im Prinzip genau das, was wir jetzt haben, nämlich ein allgemeines, freies Wahlrecht. 1819 veranstalteten sie eine Massendemonstration auf dem St. Peter’s Field in Manchester. Und was macht man, wenn Leute das Wahlrecht fordern? Man schickt ihnen die Kavallerie auf den Hals. Die Kavallerie hat die dort Versammelten massakriert. Hunderte wurden verletzt, fünfzehn starben, wahrscheinlich sogar mehr.
Das Ganze wurde mit dem Bau der Manchester Free Trade Hall gefeiert, sie wurde zu einem gewaltigen Epizentrum der psychogeografischen Energie. Alle wichtigen Künstler und Musiker des zwanzigsten Jahrhunderts sind dort aufgetreten. Außerdem war sie ein Ort der politischen Auseinandersetzungen. Wenn die Gewerkschaften streikten, hielten sie dort ihre Versammlungen ab. Louis Armstrong hat dort gespielt, Bob Dylan wurde 1966 ausgebuht und ausgepfiffen. 1976 traten die Sex Pistols in der Free Trade Hall auf, und 1996 segnete der Dalai Lama dort die Menschen aus Manchester.
Sie wurde auf einem blutigen Schlachtfeld errichtet. Das ist es auch, was Manchester so einzigartig macht, weil es diese unglaubliche Dichotomie zwischen Besitzenden und Besitzlosen gibt, den Reichen und den Armen, den Denkern und den Nicht-Denkern. Dieses Spannungsverhältnis und diese Energie haben Manchester zu der lebendigen und bedeutenden Stadt gemacht, die sie heute ist.
Tony Wilson: Bei zwei Begriffen dachte man immer an die Städte im englischen Norden, insbesondere an Manchester. Der eine war »Slum« – ich hab noch im Ohr, wie Laurence Olivier auf Granada TV in einem Stück von Harold Pinter sagt: »You’re a slum slug.« Slums waren dreckige Wohngebiete der Arbeiterklasse. Der andere Begriff ist »Arbeitslosigkeit«. Das sind die beiden Begriffe – das »S«-Wort und das »A«-Wort –, meist in Verbindung mit »dreckig«. Manchester war eine wirklich dreckige Stadt, eine dirty, dirty old town. Ich glaube, wir mussten uns ganz schön Mühe geben, um nicht zu vergessen, dass sie historisch gesehen das Zentrum der modernen Welt war, dass wir hier die industrielle Revolution erfunden hatten; aber damit eben auch diese Zustände.
Ich bin erst vor Kurzem dazu gekommen, Elizabeth Gaskell zu lesen, ihren Roman Mary Barton. Im Prinzip entstand die Idee zum Kommunismus dadurch, dass Marx und Engels sich die ganze Scheiße angesehen haben, die erste Industriestadt.
Der große Triumph von Manchester in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts war, dass die erste große Industriestadt nach dem Amerikanischen Bürgerkrieg gespalten war, und zwar aus der Perspektive ihrer Einwohner, zum Glück: Wir haben nämlich zu denen gehalten, mit denen wir keine Geschäfte gemacht haben. Unsere Geschäftspartner waren die Plantagenbesitzer, aber jedes Mal, wenn der Süden und Richmond wollten, dass wir die Konföderation anerkannten, verhinderten aufständische Arbeiter in Manchester das. Westminster machte einen Rückzieher und erkannte den Süden nicht an. Deshalb gibt es in Manchester auch einen Lincoln Square.
Die meisten Menschen in Manchester wissen gar nicht, warum wir einen Lincoln Square haben, da keiner die Inschrift lesen kann. Präsident Lincoln hat in einem Brief an die arbeitende Bevölkerung von Manchester geschrieben, sie habe zu den wichtigsten Kräften bei der Überwindung dieses Übels gehört. Und das entgegen der eigenen Interessen. Weil wir uns nicht mit unseren Geschäftspartnern, den Plantagenbesitzern, identifiziert haben, sondern glaubten, mit den schwarzen Sklaven mehr gemein zu haben, was vermutlich sehr wahr ist.
Trotzdem waren wir danach gearscht. Außerdem wurde damals die Schifffahrt, vor allem Frachttransporte, ein wichtiger ökonomischer Faktor. Es gibt eine wunderbare Statistik aus der Zeit um 1870: Der Transport einer Tonne Kohle von New York nach Liverpool kostete sechs Shilling und vier Pence; dieselbe Tonne Kohle von Liverpool nach Manchester zu befördern kostete acht Shilling und sechs Pence. Im Prinzip waren wir also dadurch gearscht, dass wir keinen Hafen hatten. Daher sagten sich ein paar Mancunians, im wahren Geist der Stadt: »Na gut, dann bauen wir eben einen Hafen in Manchester.«
Also ging’s los, und es wurde ein Kanal von der Mersey-Mündung bis nach Manchester hinein gebaut. So richtig hat das allerdings nicht funktioniert, weil die ganzen modernen Fabriken auf der Liverpooler Seite des Mersey standen und es eigentlich keinen Grund gab, den Ship Canal runterzufahren. Aber dann meinte jemand: »Warum bauen wir nicht an einem Ort, der sich besonders gut für moderne Fabriken eignet?« Und dann ist das weltweit erste Industriegebiet entstanden, Trafford Park war das, und dadurch kam dann auch der Ship Canal in Schwung. Das Geschäft meiner Eltern befand sich eine halbe Meile von der Hafeneinfahrt in Salford entfernt.
Bernard Sumner: Weil alles so hässlich war, hielt man ständig nach etwas Schönem Ausschau, wenn auch vielleicht nur unterbewusst. Ich glaube, bis ich ungefähr neun war, hatte ich noch keinen Baum gesehen. Ich war von Fabriken umgeben, und da war nichts Schönes, gar nichts. Man hatte also eine Wahnsinnssehnsucht nach schönen Dingen, weil man sich halb in einem Zustand der sensorischen Deprivation befand, dadurch dass man in einer so brutalen Umgebung aufwuchs. Und wenn man doch mal was Schönes sah oder hörte, dachte man, »oh, eine neue Erfahrung«, und war total dankbar dafür.
Ich weiß noch, wie ich als Scooter Boy mit meinem Roller aufs Moor rausgefahren bin und gar nicht fassen konnte, wie weit man dort in die offene Landschaft schaut. Durch den Scooter hatte ich auf einmal die Freiheit, mich zu bewegen, mitten im Winter aufs Moor rauszufahren, die Schule zu schwänzen. Überall lag dort Schnee. Ich bin da hochgefahren, hab mich einfach nur umgesehen und gedacht: »Wahnsinnig schön.« Das ist mir bis heute geblieben.
Die Berge sind der Zufluchtsort vor all dem Schrecklichen, der toten Industrielandschaft von Salford und weiten Teilen von Manchester; der krasse Gegensatz zwischen dem Moor und dem Industriedreck, von dem wir in den Sechzigerjahren umgeben waren. Ich weiß noch, wie mir mal jemand auf dem Nachhauseweg von der...
Erscheint lt. Verlag | 21.4.2020 |
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Übersetzer | Conny Lösch |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | The Searing Light, the Sun and Everything Else: Joy Division |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Schlagworte | Biografie • Biographien • eBooks • Factory • Ian Curtis • Kunst • Manchester • Musik • Musikjournalismus • New Wave • Oral History • Post-Punk • Siebzigerjahre • Underground |
ISBN-10 | 3-641-25046-3 / 3641250463 |
ISBN-13 | 978-3-641-25046-1 / 9783641250461 |
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