Das Rätsel der Ankunft (eBook)
448 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-491130-4 (ISBN)
V. S. Naipaul wurde 1932 in Trinidad geboren. 1950 ging er mit einem Stipendium nach England. Nach vier Jahren Studium in Oxford widmete er sich ganz seiner schriftstellerischen Tätigkeit. Es erschienen über zwanzig Romane und Sachbücher, darunter »Ein Haus für Mr. Biswas«, »An der Biegung des großen Flusses« und »Das Rätsel der Ankunft«. Für seine Werke wurde V. S. Naipaul mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. dem Booker Prize. 2001 erhielt er den Nobelpreis für Literatur. V. S. Naipaul starb am 11. August 2018 in London.
V. S. Naipaul wurde 1932 in Trinidad geboren. 1950 ging er mit einem Stipendium nach England. Nach vier Jahren Studium in Oxford widmete er sich ganz seiner schriftstellerischen Tätigkeit. Es erschienen über zwanzig Romane und Sachbücher, darunter »Ein Haus für Mr. Biswas«, »An der Biegung des großen Flusses« und »Das Rätsel der Ankunft«. Für seine Werke wurde V. S. Naipaul mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. dem Booker Prize. 2001 erhielt er den Nobelpreis für Literatur. V. S. Naipaul starb am 11. August 2018 in London. Sabine Roth, geboren 1963, Literaturstudium in München, Toronto, Canterbuy und Oxford, ist seit 1991 als Übersetzerin tätig. Zu den von ihr übersetzten Autoren gehören neben V.S. Naipaul auch Jane Austen, John le Carré, Hilary Mantel, Elizabeth Strout und Lemony Snicket.
Zweiter Teil Die Reise
Um über Jack und über Jacks Haus und seinen Garten schreiben zu können, mußte ich erst mein zweites Leben im Tal leben und dort ein zweites Mal die Natur für mich entdecken. Aber eine Version der Geschichte – eine Abart – beschäftigte mich schon wenige Tage nach meiner Ankunft im Tal, im Gärtnerhäuschen des Herrenhauses.
In dem Häuschen waren zu dieser Anfangszeit noch die Bücher und einige Möbel der Leute, die vor mir hier gewohnt hatten. Unter den Büchern fand ich eines, das sehr klein war, ein Taschenbuch, kleiner von Format als die üblichen kleinen Taschenbücher und nur ein paar Seiten dick. Das Büchlein, zu einer Reihe gehörig, die sich »Die kleine Kunstbibliothek« nannte, handelte von den frühen Gemälden von Giorgio de Chirico. Etwa ein Dutzend von de Chiricos frühen surrealistischen Gemälden waren darin abgebildet. Von ihrer Technik her wirkten die Gemälde in diesen sehr kleinen Reproduktionen nicht sonderlich interessant; sie wirkten seicht, billig. Und auch inhaltlich fehlte es ihnen an Tiefe: willkürliche Ansammlungen unverbundener Motive – Aquädukte, Eisenbahnzüge, Arkaden, Handschuhe, Obst, Statuen – vor halb klassischen, halb modernen Kulissen, hier und da mit einem Anstrich wohlfeiler Rätselhaftigkeit: auf einem Bild beispielsweise dem übergroßen Schatten einer unsichtbaren Gestalt, die hinter einer Ecke hervorkam.
Aber eins der Bilder fesselte mich, vielleicht durch seinen Titel: »Das Rätsel der Ankunft«. Auf eine indirekte, poetische Weise schien mir dieser Titel auf etwas in meiner eigenen Erfahrung anzuspielen; und später erfuhr ich, daß de Chiricos surrealistische Gemälde ihre Titel nicht vom Maler selbst bekommen hatten, sondern von dem Dichter Apollinaire, der 1918 – viel zu früh – nach einer Kriegsverletzung an der Grippe starb, tief betrauert von Picasso und vielen anderen.
Das Interessante an dem Bild selber, dem »Rätsel der Ankunft«, war, daß es sich – vielleicht auch wieder aufgrund des Titels – in meiner Erinnerung veränderte. Das Original (oder vielmehr die Abbildung in dem Bändchen der »Kleinen Kunstbibliothek«) war jedesmal eine Überraschung. Eine klassische Szene, eine Mittelmeerszene, altrömisch – so schien es mir. Ein Kai; im Hintergrund ragt über Mauern und Torbögen (die aussehen wie Pappschablonen) die Mastspitze eines antiken Segelschiffs auf; auf der Straße im Vordergrund, die ansonsten verlassen liegt, stehen zwei verhüllte Gestalten, die eine möglicherweise der Ankömmling, die andere ein Bewohner der Hafenstadt. Die Szene ist trostlos und dabei mysteriös; sie spricht vom Mysterium des Ankommens. Zu mir jedenfalls sprach sie davon, so wie vor mir zu Apollinaire.
Und im Wintergrau des Herrensitzes in Wiltshire, während jener ersten vier Tage mit ihrem Nebel und ihrem Regen, als ich so wenig klar sehen konnte, kam mir – schwerelos über dem Buch schwebend, an dem ich zu der Zeit arbeitete – die Idee zu einer Geschichte, die ich eines Tages über diese Szene auf dem de-Chirico-Bild schreiben könnte.
Meine Geschichte sollte in der Antike spielen, am Mittelmeer. Mein Erzähler würde schnörkellos schreiben, ohne den Versuch eines historischen Stils oder einer historischen Einordnung seiner Zeit. Er würde – aus einem Grund, den ich mir erst noch ausdenken mußte – in diesem antiken Hafen mit seinen schablonenhaften Mauern und Torbögen ankommen. Er würde die beiden verhüllten Gestalten an der Kaimauer mit ihrer ganzen Aura von Stummheit und Trostlosigkeit, von Leere, links liegenlassen und zu einem Tor oder einer Tür kommen. Durch diese Tür würde er hindurchgehen und aufgeschluckt werden vom Leben und Lärm einer menschenwimmelnden Stadt (ich sah eine Art indischer Basar-Szene vor mir). Die Mission, in der er unterwegs war – Familienangelegenheiten, Studien, religiöse Initiation –, würde ihm Begegnungen und Abenteuer bescheren. Sie würde ihn ins Innere von Häusern und Tempeln führen. Nach und nach würde ihn ein Gefühl der Vergeblichkeit beschleichen; er würde sein Ziel aus den Augen verlieren, und irgendwann würde er nichts anderes mehr wissen, als daß er in die Irre gegangen war. Die Abenteuerlust würde der Panik weichen. Er würde fliehen wollen, sich zurückwünschen zum Kai und seinem Schiff. Aber er würde den Weg nicht wissen. Mir schwebte irgendein religiöses Ritual vor, in das er, von freundlichen Menschen ermutigt, nichtsahnend hineingeriet, nur um plötzlich zu begreifen, daß er zum Opfer auserkoren war. In der höchsten Gefahr würde er eine Tür vor sich sehen, sie aufstoßen und sich auf demselben Kai wiederfinden wie bei seiner Ankunft. Er ist gerettet; die Welt ist so, wie sie immer war. Nur eines fehlt jetzt. Über den schablonenhaften Mauern und Gebäuden ragt kein Mast mehr auf, kein Segel. Das antike Schiff hat abgelegt. Die Lebensfahrt des Reisenden ist beendet.
Was mir dabei vor Augen stand, war weniger eine historische Erzählung als einfach eine Phantasie. Sie würde ohne Recherchen auskommen. Anhaltspunkte zu Meer und Seefahrt oder den Jahreszeiten würde ich mir bei Vergil holen, Aufschlüsse über die Landes- oder Provinzverwaltung im Römischen Reich bei den Evangelisten und in der Apostelgeschichte; Apul würde mir Stimmungen und einen Einblick in die Gedankenwelt der alten Religion liefern, Horaz, Martial und Petron die Sittenbilder dazu.
Die Aussicht, meine Imagination in diese klassische römische Welt ausschicken zu dürfen, lockte mich. Eine schöne, klare, gefährliche Welt, Lichtjahre entfernt von der Gegend, in die es mich verschlagen hatte; Lichtjahre entfernt auch (diese Geschichte, die mehr Stimmung denn Handlung war) von dem Buch, an dem ich gerade schrieb. Ein kräftezehrendes Buch; acht oder neun Monate belegte es mich nun schon mit Beschlag, und noch immer stand nicht einmal die Rohfassung.
Im Mittelpunkt des Buches, an dem ich schrieb, stand eine Episode, die in einem afrikanischen Land spielte, einem ehemaligen Kolonialgebiet mit weißen und asiatischen Siedlern, das nun unabhängig war. Es war die Geschichte zweier Weißer, die eine Autofahrt unternehmen, eine ganztätige Autofahrt in Zeiten eines Stammeskrieges, der urplötzlich ausbricht, urplötzlich Schluß macht mit der kolonialen Ordnung und Einfachheit. Afrika hat diesen beiden Weißen ihre Chance gegeben, hat sie groß gemacht, das Äußerste aus ihnen herausgeholt; jetzt, da sie nicht mehr jung sind, verschlingt es sie. Es war ein brutales Buch – brutal weniger von der äußeren Handlung als von den Emotionen her.
Es war ein Buch über die Angst. Alle Komik verstummte vor dieser Angst. Und den Nebel, der über dem Tal lagerte, in dem ich schrieb, die Dunkelheit, die so früh anbrach, die Ungewißheit, wo ich überhaupt war – all diese Unwägbarkeiten, die ich von dem Tal ausgehen fühlte, übertrug ich auf mein Afrika. Und es wäre mir nicht eingefallen, daß die Geschichte vom »Rätsel der Ankunft« – von der sonnenbeschienenen Meerfahrt, die ihr Ende in einer gefährlichen antiken Stadt findet –, daß diese Mittelmeergeschichte, diese Erholung von der Düsternis und den schöpferischen Strapazen meines Afrika-Buchs, eigentlich nichts anderes war als eine Variante der Geschichte, an der ich bereits schrieb.
Und ebensowenig wäre mir eingefallen, sie als den Versuch zu sehen, einen Handlungszusammenhang, einen erzählerischen Rahmen für einen Traum oder Alptraum zu liefern, der mir schon ein Jahr oder länger zu schaffen machte. In diesem Traum erfolgte, Mal für Mal, am entscheidenden Punkt des Traumgeschehens etwas, das sich nur als Explosion in meinem Kopf beschreiben läßt. Jeder Traum endete auf die gleiche Weise: mit dieser Explosion, die mich flach auf den Rücken warf, vor Zeugen, auf einer Straße etwa oder in einem Raum voller Menschen – mich in diese Pose der Erniedrigung warf, während um mich herum alle standen – mich in die Schlafhaltung warf, in der ich mich dann beim Erwachen wiederfand. Die Explosion hallte so laut und so gedehnt in meinem Schädel, daß ich in dem Teil meines Gehirns, der wundersamerweise noch denken und Schlußfolgerungen ziehen konnte, sicher wußte, daß ich unmöglich überleben konnte, daß ich wirklich und wahrhaftig starb, daß die Explosion dieses Mal, in diesem Traum, ungeachtet all der anderen Träume, die sich zuletzt doch als Träume erwiesen hatten, tödlich ausgehen würde, daß ich hier bei vollem Bewußtsein meinen eigenen Tod erlebte. Und wenn ich erwachte, fühlte mein Kopf sich ganz sonderbar an, durchgerüttelt, erschöpft: als wäre es in meinem Gehirn tatsächlich zu einer Art Entladung gekommen.
Dieser Traum oder Alptraum oder Akt der Dramatisierung – denn vielleicht bedingte ja eine blitzartige Turbulenz im Gehirn das aufzuckende Tableau der Straße, des Cafés, der Party, des Busses, wo ich zwischen den Umstehenden kollabierte – begleitete mich seit einem Jahr oder länger. Es war ein Traum, der geistiger Erschöpfung entsprang, und er war eine Form des Trauerns.
Ich hatte sehr viel geschrieben, Bücher von großer Schwierigkeit; hatte mehr oder weniger seit meiner Schulzeit unter starkem Druck gearbeitet. Vor dem Schreiben war das Lernen gekommen; mir war das Schreiben nicht in den Schoß gefallen. Davor war Oxford gekommen, und davor die Schule in Trinidad, wo ich für das Oxford-Stipendium gelernt hatte. Es war eine lange Lehrzeit gewesen, die der Schriftstellerlaufbahn vorausging! Und dann mußte ich feststellen, daß das Schriftstellersein nicht (wie ich geglaubt hatte) ein...
Erscheint lt. Verlag | 29.7.2020 |
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Übersetzer | Sabine Roth |
Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | An der Biegung des großen Flusses • Autobiographie • Autobiographischer Roman • Ein Haus für Mr. Biswas • England • Fischer Klassik • Indien • Kolonialgeschichte • Kolonialismus • Literatur-Nobelpreis • Moderner Klassiker • Nature writing • Nobelpreis für Literatur 2001 • Trinidad |
ISBN-10 | 3-10-491130-4 / 3104911304 |
ISBN-13 | 978-3-10-491130-4 / 9783104911304 |
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