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Die Zeuginnen (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2019 | 1. Auflage
576 Seiten
Berlin Verlag
978-3-8270-7999-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Zeuginnen -  Margaret Atwood
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»Und so steige ich hinauf, in die Dunkelheit dort drinnen oder ins Licht.« - Als am Ende vom »Report der Magd« die Tür des Lieferwagens und damit auch die Tür von Desfreds »Report« zuschlug, blieb ihr Schicksal für uns Leser ungewiss. Was erwartete sie: Freiheit? Gefängnis? Der Tod? Das Warten hat ein Ende! Mit »Die Zeuginnen« nimmt Margaret Atwood den Faden der Erzählung fünfzehn Jahre später wieder auf, in Form dreier explosiver Zeugenaussagen von drei Erzählerinnen aus dem totalitären Schreckensstaat Gilead. »Liebe Leserinnen und Leser, die Inspiration zu diesem Buch war all das, was Sie mich zum Staat Gilead und seine Beschaffenheit gefragt haben. Naja, fast jedenfalls.Die andere Inspirationsquelle ist die Welt, in der wir leben.«

Margaret Atwood, geboren 1939 in Ottawa, gehört zu den bedeutendsten Autorinnen unserer Zeit. Ihr »Report der Magd« wurde für inzwischen mehrere Generationen zum Kultbuch. Zudem stellt sie immer wieder ihr waches politisches Gespür unter Beweis, ihre Hellhörigkeit für gefährliche Entwicklungen und Strömungen. Sie wurde vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem renommierten Man Booker Prize, dem Nelly-Sachs-Preis, dem Pen-Pinter-Preis und dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Margaret Atwood lebt in Toronto. Auf Deutsch erschien zuletzt ihr Lyrikband »Innigst«.

Margaret Atwood, geboren 1939 in Ottawa, lebt in Toronto und gehört zu den bedeutendsten Erzählerinnen unserer Zeit. Sie wurde u.a. mit dem Man Booker Prize ausgezeichnet, dem Nelly-Sachs-Preis, dem Pen-Pinter-Preis und dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Monika Baark, 1968 in Tel Aviv geboren, studierte Anglistik und Kunstgeschichte. Sie lebt in Berlin und übersetzt u.a. Jeanette Winterson, Amity Gaige und Miriam Toews.

Abschrift der Zeugenaussage 369A


 

2


Ich soll euch erzählen, wie es für mich war, im Innern von Gilead aufzuwachsen. Ihr sagt, es wäre hilfreich, und ich möchte euch ja gern helfen. Vermutlich rechnet ihr mit nichts als Gräueln, doch wahr ist, dass viele Kinder geliebt und verhätschelt wurden, in Gilead genau wie überall, und dass viele Erwachsene liebevoll, aber fehlbar waren, in Gilead genau wie überall.

Ich hoffe, ihr werdet zudem berücksichtigen, dass wir alle ein wenig nostalgisch werden, wenn wir an das Gute denken, das uns als Kind auf die eine oder andere Weise widerfahren ist, egal, wie absonderlich die Umstände dieser Kindheit Außenstehenden erscheinen mögen. Ich stimme euch zu, dass Gilead in Vergessenheit geraten sollte – zu viel davon war verkehrt, zu viel heuchlerisch, und es gab zu viel, das sicherlich unvereinbar mit dem Willen Gottes ist – aber ein wenig Raum müsst ihr mir gönnen, um das Gute zu betrauern, das uns verloren gehen wird.

 

An unserer Schule stand Rosa für Frühling und Sommer, Violett für Herbst und Winter, Weiß für besondere Tage: Sonntage und Feierlichkeiten. Bedeckte Arme, bedecktes Haar, die Röcke bis zum fünften Geburtstag knielang und danach höchstens eine Handbreit über dem Knöchel, denn die Begierden der Männer waren etwas Schreckliches, und diese Begierden mussten in Schach gehalten werden. Die Männeraugen, die immer hierhin schweiften und dorthin schweiften wie die Augen eines Tigers, diese Scheinwerferaugen mussten abgeschirmt werden von der betörenden und wahrhaft blendenden Macht, die wir waren – von unseren wohlgeformten oder dünnen oder dicken Beinen, von unseren anmutigen oder knubbligen oder wurstförmigen Armen, von unserer Pfirsichhaut oder unserem fleckigen Teint, von unseren glänzenden Locken oder unseren störrischen Mähnen oder unseren strohigen Zöpfen, es spielte keine Rolle. Wie wir auch aussehen mochten, ob wir wollten oder nicht, wir waren Fallstrick und Verlockung, wir waren die unschuldige und schuldlose Ursache dafür, dass wir allein durch unser Dasein die Männer trunken machen konnten vor Lust, bis sie ins Taumeln gerieten und in den Abgrund stürzten – in welchen Abgrund eigentlich?, fragten wir uns, war es wie eine Klippe? – und in Flammen aufgehen würden wie Schneebälle aus brennendem Schwefel, geschleudert von der zornigen Hand Gottes. Wir waren die Wächterinnen einer unschätzbaren Kostbarkeit, die tief in uns verborgen lag; wir waren kostbare Blumen, die in sicheren Gewächshäusern erblühen mussten, um nicht überfallen und entblättert und unseres Schatzes beraubt und zertrampelt zu werden von ausgehungerten Männern, die hinter jeder Ecke lauern könnten dort draußen in der scharfkantigen, sündenvollen Welt.

Solcherlei Dinge erzählte uns die schniefende Tante Vidala in der Schule, während wir Stickereien anfertigten für Taschentücher und Fußschemel und Bilder: Blumen in einer Vase, Früchte in einer Schale, das waren die bevorzugten Motive. Tante Estée, unsere Lieblingslehrerin, sagte immer, Tante Vidala übertreibe und es sei unvernünftig, uns in Angst und Schrecken zu versetzen, denn derart anerzogene Aversionen könnten sich negativ auf unser künftiges Eheleben auswirken.

»Es sind nicht alle Männer so, ihr Mädchen«, sagte sie mit beruhigender Stimme. »Die Besseren haben einen eher guten Charakter. Einige können sich durchaus beherrschen. Und wenn ihr erst mal verheiratet seid, werdet ihr sehen, es ist alles halb so wild und gar nicht so furchteinflößend.« Nicht, dass sie irgendeine Ahnung gehabt hätte, denn die Tanten waren nicht verheiratet; sie durften nicht heiraten. Das war der Grund, weshalb sie schreiben und Bücher lesen konnten.

»Wenn die Zeit gekommen ist, werden wir und eure Väter und Mütter eure Ehemänner weise wählen«, pflegte Tante Estée zu sagen. »Ihr braucht also keine Angst zu haben. Seid einfach schön fleißig und vertraut den Älteren, dass sie tun werden, was am besten ist, und alles wird gut. Ich werde dafür beten.«

Aber trotz Tante Estée mit ihren Grübchen und ihrem freundlichen Lächeln war es Tante Vidalas Version, die sich durchsetzte und in meinen Albträumen auftauchte: die eingeschlagenen Scheiben des Gewächshauses, das Zerreißen und Zerfetzen und das Trampeln der Hufe, und wie ich in Form von rosafarbenen, weißen und violetten Bruchstücken überall verstreut bin. Mir graute vor dem Gedanken, älter zu werden – alt genug zum Heiraten. Ich hatte kein Vertrauen in die weisen Entscheidungen der Tanten: Ich hatte Angst, am Ende mit einem brennenden Ziegenbock vermählt zu werden.

 

Die rosafarbenen, weißen und violetten Kleider waren Vorschrift für besondere Mädchen wie uns. Gewöhnliche Mädchen aus Ökonofamilien hatten immer das Gleiche an – diese hässlichen mehrfarbigen Streifen und grauen Umhänge, genau wie die Sachen ihre Mütter. Sie lernten nicht einmal sticken oder häkeln, nur Nähen und Seidenblumen basteln und derlei Pflichten. Sie kamen nicht so wie wir in die Schar der Auserwählten, um mit den allerbesten Männern verheiratet zu werden – den Söhnen Jakobs und den übrigen Kommandanten oder deren Söhnen –; wobei sie später noch auserwählt werden konnten, wenn sie älter waren, vorausgesetzt, sie waren hübsch genug.

Das sagte aber niemand. Man sollte sich nicht brüsten mit seinem guten Aussehen, das war unbescheiden, oder das gute Aussehen anderer zur Kenntnis nehmen. Aber wir Mädchen wussten Bescheid: Es war besser, hübsch zu sein als hässlich. Sogar die Tanten schenkten den Hübschen mehr Beachtung. War man aber schon in der Vorauswahl, spielte das Aussehen keine so große Rolle mehr.

Ich schielte nicht wie Huldah, ich hatte kein dauerhaft verkniffenes Gesicht wie Shunammite, ich hatte keine fast unsichtbaren Augenbrauen wie Becka, aber ich war noch unfertig. Ich hatte ein Teiggesicht wie die Kekse, die Zilla, meine Lieblings-Martha, mir zur Belohnung backte, mit den Rosinenaugen und den Kürbiskernzähnen. Aber trotz meiner nur durchschnittlichen Schönheit war ich sehr, sehr auserwählt. Doppelt auserwählt: Nicht nur war ich in der Vorauswahl zur Kommandantenfrau, erst mal war ich von Tabitha auserwählt worden, meiner Mutter.

So hat Tabitha es mir immer erzählt. »Ich ging im Wald spazieren«, sagte sie, »und kam an ein verwunschenes Schloss, und dort waren viele kleine Mädchen gefangen, und keines davon hatte eine Mutter, und sie waren verzaubert von den bösen Hexen. Ich hatte einen Zauberring und konnte damit das Schlosstor öffnen, aber ich konnte nur ein einziges kleines Mädchen retten. Also sah ich sie mir alle genau an, und dann fiel meine Wahl auf dich!«

»Und was wurde aus den anderen?«, fragte ich. »Den anderen kleinen Mädchen?«

»Die wurden von anderen Müttern gerettet«, sagte sie.

»Hatten die auch alle einen Zauberring?«

»Natürlich, mein Liebling. Nur mit einem Zauberring kann man eine Mutter sein.«

»Wo ist der Zauberring?«, fragte ich dann. »Wo ist er jetzt?«

»Na hier, an meinem Finger«, sagte sie und zeigte mir den Mittelfinger ihrer linken Hand. Das sei der Herzfinger, sagte sie. »Aber mein Ring konnte nur einen einzigen Wunsch erfüllen, und den habe ich für dich benutzt. Der Ring ist jetzt also nur noch ein ganz normaler Mutterring.«

Und dann durfte ich den Ring anprobieren, der aus Gold und mit drei Diamanten besetzt war: einem großen und je einem kleineren zu beiden Seiten. Er sah wirklich aus, als wäre er vielleicht mal ein Zauberring gewesen.

»Hast du mich hochgehoben und getragen?«, fragte ich jedes Mal. »Aus dem Wald rausgetragen?« Ich kannte die Geschichte auswendig, aber ich hörte sie gern immer wieder.

»Nein, mein Liebes, dazu warst du schon zu groß. Hätte ich dich getragen, hätte ich husten müssen, und dann hätten uns die Hexen gehört.« Das war einleuchtend: Sie hustete wirklich ziemlich viel. »Also nahm ich dich an der Hand, und wir haben uns aus dem Schloss geschlichen, damit uns die Hexen nicht hören – Pst, Pst, haben wir beide gemacht –, und sie hielt sich den Finger an die Lippen, und auch ich hielt mir begeistert den Finger an die Lippen und machte Pst. »Und dann mussten wir ganz schnell durch den Wald laufen, um den bösen Hexen zu entkommen, denn eine davon hatte uns aus der Tür gehen sehen. Wir sind gerannt, und dann haben wir uns in einem hohlen Baum versteckt. Es war sehr gefährlich!«

Ich hatte tatsächlich eine verschwommene Erinnerung daran, an jemandes Hand durch einen Wald zu laufen. Hatte ich mich in einem hohlen Baum versteckt? Mir schien, als hätte ich mich irgendwo versteckt. Also stimmte die Geschichte vielleicht.

»Und was ist dann passiert?«, fragte ich.

»Und dann habe ich dich in dieses schöne Haus gebracht. Bist du nicht glücklich hier? Wo dich alle so sehr lieb haben! Was für ein Glück für uns beide, dass ich dich auserwählt habe, nicht wahr?«

Dann schmiegte ich mich an sie, sie legte den Arm um mich, und ich lag mit dem Kopf an ihrem dünnen Körper, durch den ich ihre knochigen Rippen spüren konnte. Ich drückte mein Ohr an ihren Brustkorb und konnte ihr Herz hören, wie es in ihrem Innern vor sich hin hämmerte – immer schneller und schneller, schien mir, während sie auf eine Reaktion von mir wartete. Ich wusste, meine Antwort war wirksam: Ich konnte sie zum Lächeln bringen oder auch nicht.

Was konnte ich da anderes sagen als Ja und Ja? Ja, ich war glücklich. Ja, ich hatte Glück gehabt. Außerdem war es die Wahrheit.

 

3


Wie alt war ich damals? Vielleicht sechs oder sieben. Ich kann es nicht genau sagen, weil ich keine klaren Erinnerungen an die Zeit davor habe.

Ich...

Erscheint lt. Verlag 10.9.2019
Übersetzer Monika Baark
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte aktuell • Befreiung • Buch • Bücher • Der Report der Magd Roman • Desfred • dystopische Literatur • dystopischer Roman • entertain • Feminismus • Fortsetzung "Report der Magd" • Frauen • Friedenspreis des Deutschen Buchhandels • geschenke frauen • Geschenk Freundin • Handmaid's Tale • kanadische Autoren • kanadische Autorin • Kanadische Literatur • Magenta • Margaret Atwood • Neuerscheinung 2019 • Report der Magd • Roman • Romane • sklavinnen • The Handmaid’s Tale – Der Report der Magd • The Testaments • zum Nachdenken
ISBN-10 3-8270-7999-3 / 3827079993
ISBN-13 978-3-8270-7999-2 / 9783827079992
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