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Mitternachtskinder (eBook)

Roman - „Längst haben die ‚Mitternachtskinder‘ Klassikerstatus erlangt.“ (FAZ) – Friedenspreis für Salman Rushdie 2023

(Autor)

eBook Download: EPUB
2019
736 Seiten
Penguin Verlag
978-3-641-26152-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Mitternachtskinder - Salman Rushdie
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'Dieses Buch ist einzigartig, und sein Autor gehört in eine Reihe mit den Großen der Weltliteratur.' New York Times
Als Saleem Sinai am 15. August 1947 um Mitternacht zur Welt kommt, wird er mit Fanfaren und Feuerwerken begrüßt - denn genau in diesem Moment erlangt Indien seine Unabhängigkeit. Von da an ist Saleems Leben untrennbar mit dem Schicksal dieses außergewöhnlichen Subkontinents verbunden. Doch obwohl er nur eines von eintausend Mitternachtskindern ist, hat er eine ganz besondere Fähigkeit. Seine telepathische Gabe ermöglicht es ihm, in die faszinierende Geschichte seiner Familie einzutauchen - eine Geschichte, die sich vor dem Hintergrund eines von Umwälzungen gebeutelten Jahrhunderts abspielt.

Salman Rushdie erhält den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2023 »für seine Unbeugsamkeit, seine Lebensbejahung und dafür, dass er mit seiner Erzählfreude die Welt bereichert.« (Aus der Begründung der Jury)

Salman Rushdie, 1947 in Bombay geboren, ging mit vierzehn Jahren nach England und studierte später in Cambridge Geschichte. Mit seinem Roman »Mitternachtskinder«, für den er den Booker Prize erhielt, wurde er weltberühmt. 1996 wurde ihm der Aristeion-Literaturpreis der EU für sein Gesamtwerk zuerkannt. 2007 schlug ihn Königin Elizabeth II. zum Ritter. 2022 ernannte ihn das deutsche PEN-Zentrum zum Ehrenmitglied. 2023 wurde er mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet.

Das Laken mit dem Loch


Es war einmal ein kleiner Junge, der wurde in der Stadt Bombay geboren ... Nein, so geht es nicht, ich kann mich um das Datum nicht herummogeln: Ich wurde am 15. August 1947 in Dr. Narlikars privatem Entbindungsheim geboren. Und die Zeit? Die Zeit spielt auch eine Rolle. Also dann: nachts. Nein, man muss schon genauer sein ... Schlag Mitternacht, um die Wahrheit zu sagen. Uhrzeiger neigten sich einander zu, um mein Kommen respektvoll zu begrüßen. Oh, sprich’s nur aus: Genau in dem Augenblick, in dem Indien die Unabhängigkeit erlangte, purzelte ich in die Welt. Schweres Atmen war zu hören. Und draußen vor dem Fenster Feuerwerk und Menschenmassen. Ein paar Sekunden später brach mein Vater sich den großen Zeh; aber verglichen mit dem, was mich in diesem verhängnisvollen Augenblick befallen hatte, war sein Unfall eine bloße Lappalie, denn dank der verborgenen Willkürherrschaft dieser verbindlich grüßenden Uhren war ich auf geheimnisvolle Weise an die Geschichte gefesselt, war mein Geschick unlösbar mit dem meines Landes verkettet worden. Für die nächsten drei Jahrzehnte sollte es kein Entkommen geben. Wahrsager hatten mich prophezeit, Zeitungen feierten meine Ankunft, Politiker bescheinigten meine Echtheit. Ich hatte in der ganzen Sache nichts zu sagen. Ich, Saleem Sinai, später auch verschiedentlich Rotznase, Fleckengesicht, Kahlkopf, Schnüffler, Buddha und sogar Scheibe-vom-Mond genannt, war vom Schicksal schwer mit Beschlag belegt worden – selbst unter günstigsten Umständen eine gefährliche Verstrickung. Und ich konnte mir zu der Zeit noch nicht einmal selbst die Nase putzen.

Nun läuft jedoch die Zeit ab (da sie keine weitere Verwendung für mich hat). Ich werde bald einunddreißig Jahre alt. Vielleicht. Wenn mein zerfallender, überbeanspruchter Körper es zulässt. Aber ich kann nicht darauf hoffen, mein Leben zu retten, ich kann nicht einmal damit rechnen, tausendundeine Nacht zu haben. Ich muss schnell arbeiten, schneller als Scheherazade, wenn mein Leben bei meinem Tod einen Sinn – ja, Sinn – gehabt haben soll. Ich gebe es zu: Mehr als alles andere fürchte ich die Sinnlosigkeit.

Und es gibt so viele Geschichten zu erzählen, zu viele, solch ein Übermaß an ineinander verwobenen Leben, Ereignissen, Wundern, Orten, Gerüchten, solch ein unentwirrbares Gemisch aus Unwahrscheinlichem und Alltäglichem! Ich habe Leben verschlungen; und um mich, nur mich allein, kennen zu lernen, müssen Sie auch das Ganze verschlingen. Verzehrte Massen drängen und schieben in mir; und nur von der Erinnerung an ein großes weißes Laken geleitet, in dessen Mitte ein annähernd rundes Loch mit einem Durchmesser von ungefähr fünfzehn Zentimetern geschnitten worden war, an den Traum von diesem löchrigen, verstümmelten Leinenviereck geklammert, das mein Talisman, mein Sesam-öffnedich ist, muss ich mich an die Arbeit machen, mein Leben von dem Punkt an neu zu schaffen, an dem es wirklich begann, gut zweiunddreißig Jahre vor irgendetwas so Offensichtlichem, so Gegenwärtigem wie meiner von Uhren geplagten, von Verbrechen befleckten Geburt.

Übrigens ist auch das Laken befleckt, mit drei Tropfen eines alten verblichenen Rots. Wie der Koran uns sagt: Lies im Namen deines Herrn, der erschuf. Er schuf den Menschen aus einem Klumpen Blut.

 

An einem kaschmirischen Morgen zu Beginn des Frühjahrs 1915 schlug mein Großvater Aadam Aziz sich, als er zu beten versuchte, an einem frostgehärteten Erdklumpen die Nase auf. Drei Tropfen Blut kullerten aus seinem linken Nasenloch, wurden in der frostigen Luft sofort hart und lagen, in Rubine verwandelt, vor seinen Augen auf dem Gebetsteppich. Nachdem er sich ruckartig aufgerichtet hatte und wieder erhobenen Kopfes kniete, merkte er, dass auch die Tränen, die ihm in die Augen geschossen waren, sich verfestigt hatten; und in dem Augenblick, in dem er sich verächtlich Diamanten von den Wimpern wischte, beschloss er, nie wieder, weder für einen Gott noch für einen Menschen, die Erde zu küssen. Dieser Entschluss hinterließ jedoch ein Loch in ihm, eine Leerstelle in einer lebenswichtigen Kammer seines Inneren, und machte ihn anfällig für Frauen und Geschichte. Trotz seines unlängst abgeschlossenen Medizinstudiums war er sich dessen zunächst nicht bewusst, stand auf, rollte den Gebetsteppich zu einem dicken Stumpen, klemmte ihn sich unter den rechten Arm und blickte mit klaren, diamantfreien Augen über das Tal.

Die Welt war wieder neugeboren. Nachdem das Tal einen Winter lang in einer Eischale aus Eis herangereift war, hatte es sich feucht und gelb seinen Weg ins Freie gepickt. Das junge Gras wartete seine Zeit unter der Erdoberfläche ab; die Berge zogen sich für die warme Jahreszeit in ihre luftigen Erholungsorte zurück. (Im Winter, wenn das Tal unter dem Eis schrumpfte, drängten die Berge heran und grollten um die Stadt am See wie wütend aufgerissene Rachen.)

In jenen Tagen war der Sendemast noch nicht gebaut, und der Tempel von Sankara Acharya, eine kleine schwarze Blase auf einem staubfarbenen Hügel, beherrschte noch die Straßen und den See von Srinagar. In jenen Tagen gab es am Ufer des Sees noch kein Armeelager; keine endlosen Schlangen von Lastern und Jeeps in Tarnfarben verstopften die schmalen Bergstraßen, keine Soldaten versteckten sich hinter den Berggipfeln jenseits von Baramulla und Gulmarg. In jenen Tagen wurden Reisende nicht als Spione erschossen, wenn sie Brücken fotografierten, und das Tal hatte sich, abgesehen von den Hausbooten der Engländer auf dem See, trotz seiner frühjährlichen Erneuerungen seit dem Mogul-Reich kaum verändert; die Augen meines Großvaters aber – die wie alles übrige an ihm fünfundzwanzig Jahre alt waren – sahen die Dinge anders ... und seine Nase hatte angefangen zu kribbeln.

Um das Geheimnis der veränderten Sehweise meines Großvaters zu offenbaren: Er hatte fünf Jahre, fünf Frühlinge, fern von zu Hause verbracht. (Der Erdklumpen war im Grunde nicht mehr als ein Katalysator, wenn auch seine Gegenwart, als er unter einer zufälligen Falte im Gebetsteppich kauerte, entscheidend war.) Bei seiner Rückkehr nun sah er alles durch weit gereiste Augen. Anstelle der Schönheit des winzigen, von Riesenzähnen umschlossenen Tals bemerkte er nun die Beschränktheit und unmittelbare Nähe des Horizonts; und er war traurig, zu Hause zu sein und sich so vollkommen eingeschlossen zu fühlen. Er hatte auch – ihm unerklärlich  – das Gefühl, der gewohnte Ort weise ihn ab, weil er gebildet und mit Stethoskop ausgestattet zurückkam. Unter dem Wintereis war er kühl neutral gewesen, aber jetzt bestand kein Zweifel mehr: Die Jahre in Deutschland hatten ihn in eine feindliche Umgebung zurückkehren lassen. Lange Zeit später, als das Loch in ihm vor Hass verkrampft war und er kam, um sich vor dem Schrein des schwarzen steinernen Gottes im Tempel auf dem Hügel zu opfern, sollte er versuchen, sich an die Frühlinge seiner Kindheit im Paradies zu erinnern, daran, wie es war, bevor Reisen und Erdklumpen und Panzer alles durcheinander brachten.

An dem Morgen, an dem das Tal, mit einem Gebetsteppich wie mit einem Handschuh bekleidet, ihm einen Nasenstüber versetzte, hatte er widersinnigerweise versucht, so zu tun, als hätte sich nichts geändert. So war er in der um Viertel nach vier herrschenden bitteren Kälte aufgestanden, hatte die vorgeschriebenen Waschungen vorgenommen, sich angezogen und die Astrachanmütze seines Vaters aufgesetzt; danach hatte er den zu einem Stumpen zusammengerollten Gebetsteppich in den kleinen Garten vor ihrem alten, dunklen Haus am Seeufer gebracht und ihn über dem wartenden Klumpen ausgebreitet. Der Boden unter seinen Füßen trat sich trügerisch weich und machte ihn gleichzeitig unsicher und unvorsichtig.«Im Namen Allahs, des Gnädigen, des Barmherzigen ...» – der Einleitungsteil, bei dem er die Hände wie ein Buch gefaltet vor sich hielt, tröstete einen Teil in ihm, beunruhigte aber einen anderen, größeren –«... Preis sei Allah, dem Herrn der Welten ...» – aber nun kam ihm Heidelberg in den Sinn; dort war Ingrid, kurze Zeit seine Ingrid, und ihr Gesicht drückte Verachtung aus für sein nach Mekka gewandtes geistloses Plappern; dort ihre Freunde Oskar und Ilse Lubin, die Anarchisten, die seine Gebete mit ihren Antiideologien verspotteten –«... Dem Gnädigen, dem Barmherzigen, dem Herrscher am Tage des Gerichts ...!» – Heidelberg, wo er zusammen mit Medizin und Politik gelernt hatte, dass Indien – wie das Radium – von den Europäern «entdeckt» worden war; selbst Oskar war von Bewunderung für Vasco da Gama erfüllt, und das hatte Aadam Aziz letztendlich von seinen Freunden getrennt, ihr Glaube, dass er irgendwie die Erfindung ihrer Vorfahren sei –«... dir allein dienen wir, und zu dir allein flehen wir um Beistand ...» – hier war er also und versuchte, obwohl sie ihm nicht aus dem Kopf gingen, sich wieder mit einem früheren Ich zu vereinigen, das nichts von ihrem Einfluss wusste, aber alles kannte, was es wissen sollte, Unterwerfung beispielsweise, das, was er nun tat, als seine Hände, von alten Erinnerungen geführt, nach oben flogen, die Daumen sich auf die Ohren pressten und die Finger sich spreizten, als er auf die Knie sank –«... Führe uns auf den rechten Weg, den Weg derer, denen du deinen Segen gewährt hast ...» Aber es hatte keinen Zweck, er war in einem seltsamen Zwischenreich gefangen, saß in der Falle zwischen Glauben und Unglauben, und dies war letzten Endes nur eine Scharade –«... die nicht dein Missfallen erregt haben und die nicht irre gegangen sind.» Mein Großvater beugte den Kopf zur Erde. Vornüber beugte er sich, und die...

Erscheint lt. Verlag 23.9.2019
Übersetzer Karin Graf
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel Midnight's Children
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 1947 • 20.Jahrhundert • eBooks • Familiengeschichte • Familiensaga • Fantasy • friedenspreises des deutschen buchhandels • Gabe • Indien • Mitternachtskind • Roman • Romane • Schicksal • Telepathie • Unabhängigkeit
ISBN-10 3-641-26152-X / 364126152X
ISBN-13 978-3-641-26152-8 / 9783641261528
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