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Fliege fort, fliege fort (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2019
288 Seiten
Paul Zsolnay Verlag
978-3-552-06406-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Fliege fort, fliege fort - Paulus Hochgatterer
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Der meisterhafte neue Roman von Paulus Hochgatterer: Psychiater Horn und Kommissar Kovacs, das Duo aus den Bestellern 'Die Süße des Lebens' und 'Das Matratzenhaus' ermitteln.
Der Sommer hält Einzug in Furth am See. Während sich die Hotelterrassen füllen und die Schüler auf ihre Zeugnisse warten, nehmen besorgniserregende Ereignisse ihren Anfang. Auf immer grausamere Weise werden Gewalttaten gegen ältere Menschen verübt. Die Opfer scheint nur eins zu verbinden - das Bestreben zu schweigen. Schließlich verschwindet auch noch ein Kind. Der Psychiater Raffael Horn und Kommissar Ludwig Kovacs - das aus den Bestsellern 'Die Süße des Lebens' und 'Das Matratzenhaus' bekannte Ermittlerduo - beginnen die spärlichen Anhaltspunkte zu verknüpfen und in lang vergangene dunkle Geschichten einzutauchen. Der meisterhafte neue Roman von Paulus Hochgatterer - Spannung auf höchstem literarischen Niveau.

Paulus Hochgatterer, geboren 1961 in Amstetten/Niederösterreich, lebt als Schriftsteller und Kinderpsychiater in Wien. Er erhielt diverse Preise und Auszeichnungen, zuletzt den Österreichischen Kunstpreis 2010. Bei Deuticke erschienen bisher: Über die Chirurgie (Roman, 1993, Neuauflage 2005), Die Nystensche Regel (Erzählungen, 1995), Wildwasser (Erzählung, 1997), Caretta caretta (Roman, 1999), Über Raben (Roman, 2002), Eine kurze Geschichte vom Fliegenfischen (Erzählung, 2003), Die Süße des Lebens (Roman, 2006), Das Matratzenhaus (Roman, 2010), Katzen, Körper, Krieg der Knöpfe. Eine Poetik der Kindheit (2012) und Der Tag, an dem mein Großvater ein Held war (Erzählung, 2017). 2019 erschien sein neuer Roman Fliege fort, fliege fort.

Damals


Alle sehen ihn. Er läuft schräg über die Wiese, dann den Feldweg entlang. Er stolpert, fällt hin, richtet sich wieder auf. Die Sonne liegt auf ihm, und sein Haar strahlt weiß. Es ist, als würde er durch ein Bild laufen, denkt sie. Manchmal nimmt sie die Dinge wahr, als seien sie nichts als gemalte Bilder. Er läuft kollernd wie ein kleines rundliches Tier. Wie ein junger Bär, denkt sie. Oder wie ein Wombat, nicht in Australien, sondern hier bei uns, mitten im September. Der Sommer war sehr groß, denkt sie, demnächst wird jemand seinen Schatten auf die Sonnenuhren legen, und auf den Fluren die Winde … Rilke-Blabla. Warum sie nicht anders kann, als sich für Pathos schlecht zu fühlen, weiß sie nicht.

Am Himmel bläht sich eine Wolke von Staren, zieht sich zusammen, fächert sich wieder auf. Vor ihr fällt die Wiese steil ab, braun gepunktet von unzähligen Maulwurfshügeln. Dahinter der Wald, ganz rechts der Teich, an der Zufahrt zum Bootssteg in flammendem Rot die beiden Wildkirschbäume.

Seine Arme machen kurze, schaufelnde Bewegungen, während er läuft. Sie erinnert sich, dass die braune Cordhose, die er trägt, dunkelgrüne Aufnäher über den Knien hat und dass sein Hemd hellgelb ist, mit feinen blauen Streifen. Der Rucksack mit seinen Sachen steht noch da, unmittelbar neben dem Eingang zum Speisesaal.

»Er kommt wieder«, sagt die Sozialarbeiterin und setzt sich an einen der Terrassentische. Sie nimmt eine Flügelmappe mit Gummizug aus ihrer Tasche, legt sie vor sich hin und kramt nach einem Stift. »Er kennt sich hier nicht aus«, sagt sie, »irgendwann wird er müde sein und umkehren.«

Sie sieht das Grau am Haaransatz der Frau, die korallenroten Perlen ihrer Halskette und das rosa-weiße Karo der Bluse. Mit einem Ruck steht sie auf. »Ich werde ihn holen«, sagt sie. Die Sozialarbeiterin hebt den Kopf und blickt sie erstaunt an. »Wie Sie meinen«, sagt sie, »sind Sie neu?«

»Ja«, sagt sie, »ich bin neu.«

Er ist schon ziemlich nahe an der Straße. Das nimmt sie wahr, als sie losrennt. Er läuft in flachen Schlangenlinien, ein wenig x-beinig, manchmal hüpft er, so, als befinde sich ein Hindernis auf dem Weg.

Er ist neuneinhalb Jahre alt, das hat sie sich gemerkt, Geburtstag Anfang Mai, das vierte von sechs Geschwistern, dritte Klasse Volksschule, schlechte Noten in allen Fächern, äußerst unregelmäßige Teilnahme am Unterricht.

»Bleib stehen!«, ruft sie. Er reagiert nicht, zweigt an der Straße nach links ab, nimmt wenige Schritte später den Forstweg in Richtung Wald. Sie läuft locker und merkt, wie der Abstand zwischen ihnen kleiner wird. Sie wird ihn einholen, denkt sie, ihn von hinten umfassen und einfach halten. Er wird sich nicht wehren.

»Du bist eine Romantikerin«, hatte ihr Vater gesagt, als sie ihm erzählte, sie habe beschlossen, das Literaturwissenschaftsstudium aufzugeben. Sie hatte gelacht und gesagt, ja, absolut sentimental. Es gehe ihr schlicht und einfach darum, die Welt ein Stück besser zu machen. Er hatte sie angeschaut, mit den Schultern gezuckt und gesagt, was könne ein Vater schon tun, wenn seine Tochter so etwas sage.

Der Boden ist trocken und weich von den Lärchennadeln vergangener Jahre. »Bleib stehen, ich tu dir nichts!«, ruft sie, obwohl es ihr ziemlich blöd vorkommt. Er schaut sich nach wie vor nicht um. Seine Arme rotieren jetzt, als wolle er sich irgendwo eingraben. Sie ist inzwischen so nahe, dass sie sein Keuchen hören kann. Sie reduziert ihr Tempo. Haare wie helles Stroh, denkt sie. »Bleib doch stehen«, ruft sie noch einmal, »keiner tut dir was.« Er schlägt einen Haken nach links, durchbricht einen schmalen Streifen Fichtensetzlinge und rennt im Zickzack den flachen Hang hinauf. Unmittelbar neben einer jungen Kiefer tappt er in ein Loch und fällt der Länge nach hin.

Sie steht neben ihm, mitten in den Heidelbeersträuchern. Er spricht nach wie vor kein Wort. Als er ihr schließlich das Gesicht zuwendet, weiß sie, dass sie noch nie so eine Art von Verzweiflung gesehen hat, so grenzenlos und so leer. Sie streckt ihm die Hand hin und zieht ihn hoch. Seine Finger sind warm. Was sie auf seinem hellgelben Hemd als Streifen in Erinnerung hatte, sind in Wahrheit Reihen winziger Hirschkäfer.

Ab dem ersten Schritt ihres Rückweges spürt sie das Bedürfnis zu reden. Sie hat keine Ahnung, woher es kommt, sie weiß nur, dass es mit Sonnenuhrschatten oder sonstigem romantischen Zeug nichts zu tun hat.

Sie erzählt von den Dingen, die sie über ihn weiß, aus dem Akt und aus dem Bericht der Sozialarbeiterin im Vorfeld der Überstellung. Sie erzählt davon, dass seine leiblichen Eltern nicht in der Lage gewesen seien, ihn und seine Geschwister zu versorgen. Der Vater habe seine Stelle in der Kunstdüngerfabrik verloren und dadurch noch mehr getrunken als zuvor, die Mutter sei psychisch labil und mit den sechs Kindern so überfordert gewesen, dass sie nicht einmal mehr Windeln für die Kleinsten habe besorgen können. Schließlich seien die Konflikte zwischen den beiden so eskaliert, dass man die Mutter in eine psychiatrische Anstalt einliefern habe müssen. Die zwei Kleinen seien in ein Säuglingsheim gebracht worden. Die Pflegeeltern, zu denen er mit den drei anderen gekommen sei, hätten seit Jahren Kinder aufgenommen. Es habe nie eine Klage gegeben, ganz im Gegenteil, bei den jährlichen Kontrollen durch das Jugendamt habe man stets einen hervorragenden Eindruck gehabt. Es sei wohl auf die einschichtige Lage des Bauernhofes zurückzuführen gewesen, auf das Fehlen eigentlicher Nachbarn, weshalb es so lange gedauert habe, bis die Wahrheit ans Licht gekommen sei, und auch der Umstand, dass jener Futtermittelvertreter bei seinem Besuch die neue Freundin dabeigehabt habe und es sich bei ihr um einen ausgesprochen netten und zugleich ausgesprochen neugierigen Menschen gehandelt habe, könne letztlich nur als eine glückliche Fügung bezeichnet werden. Es sei jedenfalls außerordentlich mutig von seiner Schwester gewesen, dieser fremden Frau den Ziegelrohbau neben dem Wagenschuppen zu zeigen, die versifften Matratzen, die Blechspinde, die Maurerböcke mit der Pressspanplatte oben drauf, die als ihr Tisch gegolten hätten.

Als sie die Straße erreichen, bleibt sie stehen. Sie verstehe, dass er davonlaufen müsse, sagt sie, wie solle er nach diesen Erfahrungen auch in der Lage sein, sich auf irgendjemanden zu verlassen. Trotzdem solle er zumindest versuchen, ihr zu glauben, dass es hier an diesem Ort keine Blechspinde, keine einfach verglasten Fenster und keine Stallarbeit ab Morgengrauen gebe. Ob denn das möglich sei? Der Bub blickt zu Boden und saugt seine Wangen ein. Von den Rändern seiner Ohrmuscheln schält sich die Haut. Sonnenbrand im September, denkt sie, und zugleich denkt sie, wie kindisch sie sich an etwas Nebensächlichem wie an einer Alliteration freuen könne und dass das wohl auch zu einer Romantikerin gehöre.

Sie gehen am überdachten Fahrradständer, am Schuppen für die Gartengeräte und am Kaninchenstall vorbei. Sie benennt die Dinge, als sei er gerade dabei, eine neue Sprache zu lernen: Fahrradständer, Geräteschuppen, Kaninchenstall. »Was hast du eigentlich in deinem Rucksack?«, fragt sie im Treppenhaus. Er blickt sie überrascht an und sagt nichts. »Entschuldige«, sagt sie und weiß nicht, warum. Sie fragt ihn, ob es ihn interessiere, wo er schlafen werde und wer seine künftigen Bettnachbarn seien. Als Nächstes werde man ihm vermutlich sein Bett zeigen und seine Plätze im Speisesaal und im Lernzimmer; außerdem werde man ihn mit den anderen bekannt machen. Letzteres solle ihn nicht beunruhigen, allen sei klar, dass man zu einem Neuen nett zu sein habe.

Sie durchqueren den Speisesaal in Richtung Terrasse. Draußen am Tisch der Sozialarbeiterin sitzt der Direktor, das ist von innen gut zu sehen. An der Brüstung lehnt der große, dunkelhaarige Erzieher, den sie Jimi nennen, und raucht. Er heißt so, weil er ausschließlich Jimi-Hendrix-T-Shirts trägt und behauptet, er habe eine Fender Stratocaster zu Hause. Als sie auf die Terrasse treten, packt die Sozialarbeiterin ihre Flügelmappe in die Tasche und erhebt sich. »Dann kann ich ja gehen«, sagt sie. Sie schüttelt dem Direktor die Hand. »Ich werde dich besuchen kommen«, sagt sie zum Buben, »obwohl dir ja nichts passieren kann, wenn du so engagierte Leute um dich hast.« Dann geht sie.

Der Bub steht da und starrt auf einen Punkt vor seinen Füßen. Mit dieser Vorgeschichte sei es nur allzu verständlich, dass das Kind in einer Situation, in der alles unvertraut sei, Angst habe, sagt sie. Wenn keiner etwas dagegen habe, werde sie ihn jetzt mitnehmen und ihm die wichtigsten Dinge zeigen, sein Bett, den Kleiderschrank, die Waschräume.

Der...

Erscheint lt. Verlag 23.9.2019
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Bestseller • Der Tag, an dem mein Großvater ein Held war • Entführung • Horn • Kind • Kinder • Kommissar • KOVACS • Krimi • Matratzenhaus • Psychiater • Senioren • Spannung • Süße des Lebens • Trilogie
ISBN-10 3-552-06406-0 / 3552064060
ISBN-13 978-3-552-06406-5 / 9783552064065
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