Der Morgen der Welt (eBook)
1306 Seiten
C.H.Beck (Verlag)
978-3-406-74120-3 (ISBN)
Bernd Roeck ist Professor em. für Neuere Geschichte an der Universität Zürich und einer der besten Kenner der europäischen Renaissance.
Cover 1
Titel 3
Zum Buch 1308
Über den Autor 1308
Widmung 4
Impressum 4
Inhalt 5
1. Europas großes Gespräch 15
Das Gemälde der Welt 15
Geschichte einer Möglichkeit 18
Tiefe Geschichte eines welthistorischen Aufbruchs: Die sieben Säulen der Moderne 22
I. Grundlagen: Von den Anfängen bis zur Jahrtausendwende 27
Eurasien und das griechisch-römische Erbe 29
2. Vom Glück der Geographie 29
Phönix' Flug beginnt 30
Europa lernt buchstabieren 34
3. Griechenland: Gedankenflüge und Kritik 38
Am Anfang war die Polis 39
Vorsokratische Splitter: Kosmos, Götter und Menschen 44
Dialog und Kritik 51
Denker für Jahrtausende: Platon und Aristoteles 55
Der Garten des Epikur und die Stoa 59
Alexandria 62
4. Rom: Weltmacht und Mythos 67
Der Phönix fliegt nach Westen 67
Roms hellenische Sehnsucht 70
Ein Reich ohne Grenzen 76
Der griechische Christus 79
Untergang 86
5. Erbschaften 90
Reich und Republik 90
Städte, Statuen, Statuten 93
Honig und Gift: Das Erbe Christi 95
6. Neue Mächte, schreibende Mönche 100
Anfänge eines kaleidoskopischen Kontinents 100
Die letzten Römer 105
Gebrochene Traditionen 107
Schreiben, daß die Nachkommen lernen 112
Die islamische Weltmacht 116
Byzanz am Abgrund, Aufstieg der Franken 125
7. Erste Wiedergeburten, Ringen um Ordnung 129
Phönix im Frankenreich: Karolingische Renaissance 129
Blaupausen Staateneuropas 135
Romsucht: Renaissance einer Idee 139
Christus in den Wäldern: Staatsbildung und Christianisierung im Osten und Norden 142
Reanimation einer Supersprache 147
8. Arabischer Frühling, byzantinischer Spätsommer 151
Die Städte des Propheten 151
Im Haus der Weisheit 155
Schüler der Welt, Lehrer Europas 160
Erste Kontakte 166
Makedonische Renaissance? 173
II. Entfaltung der Möglichkeiten: 1000–1400 177
Wendezeiten 179
9. Die Mitten der Welt: Indien, Japan, China 179
Asiens Mittelmeer und seine Anrainer 179
Die Mitte der Mitte: China 185
Chinesische Renaissance 193
10. Take-off unter der Sonne 197
Europa beginnt zu fliegen 197
«Tiefe Geschichte»: Der gezügelte Eros 201
Urbanisierung 204
11. Lateineuropas Weltordnung zerbricht 211
Ringen um Reinheit 211
Klosterreform 216
Erdbeben: Der Investiturstreit 219
Kreuzzugszeiten: Anfänge des Okzidentalismus 224
Das jüngere Europa 229
Magna Carta 234
12. Vertikalen, Horizontalen 239
Lehnswesen 239
Zünfte, Kommunen, Städtebünde 242
Parlamente, Ständeversammlungen 248
Universitäten und Roms Recht 251
Triumph des Tintenstaats 257
13. Anfänge einer «großen Divergenz» 262
Mongolensturm 262
China: Eingemauerte Freiheit 268
Ein Muslim im Vatikan 270
Byzanz: Wissenschaft im Weihrauchdunst 273
14. Erste «Renaissancen» 277
Eine Revolution des Redens, Lesens und Schreibens 277
Frau Welt in antikem Gewand: Die Renaissance des 12. Jahrhunderts 286
Vernunft, Glauben und das Neue 290
Ein Tausendblumenteppich der Frömmigkeiten 297
Siziliens Renaissance 305
Die Kraft der Philosophie und Gottes Allmacht 308
15. Neue Horizonte, neue Dinge 317
Individualität und Freiheit 317
Italien nach dem Sturz der Staufer 321
Das Reich und seine Nachbarn 326
Könige in Mitternacht und ein Fürst an der Moskwa 330
Die Welt wird größer: Nach Asien! 334
Papier, Brillen und das Diesseits: Eine Bestandsaufnahme 338
Erste Lichter, die Kälte und der Tod: Das 14. Jahrhundert 344
16. Italienische Ouvertüre 344
Der Auftritt der Notare 345
Die ersten Humanisten 348
Zwischen den Zeiten: Göttliche Komödie 354
Dantes Kaiser, Päpste in Avignon und ein Gebannter in München 358
Die modernste Stadt der Welt 364
Anfänge Bildereuropas 370
Geistige Gipfelwanderungen: Petrarca 374
17. Mentalitätsbruch 380
Triumph des Todes 381
Spaltung in der ganzen Welt 386
Ein Kaiser in Prag 392
Die englische Schlange, der Florentiner Patient und ein doppelköpfiges Papsttum 396
Westen, Osten und Norden im späten 14. Jahrhundert 402
Moskau, Mongolen, Osmanen 406
18. Vor der großen Renaissance 410
Decamerone, Canterbury Tales 410
Am Vorabend einer neuen Naturwissenschaft 416
Schießpulver und Kapital 422
Anfänge des mechanischen Zeitalters 424
Im Jahrtausend des Odysseus 427
Europas Vielfalt und die Grenzen des Glaubens 433
Starke Frauen 435
19. Abend im Morgenland 438
Ming-Chinas Anfänge 438
Der Niedergang der arabischen Wissenschaften 442
III.Verwirklichung der Möglichkeiten: 1400–1600 449
Künstler und Humanisten, Kriege und Konzilien: 1400–1450 451
20. Florenz im Morgenlicht 451
Anfänge der monumentalen Renaissance 451
Republikanische Werte, Antikenromantik 459
Die morsche Republik 467
21. Von Konstanz nach Konstantinopel 472
Konstanz 472
Vertagte Reformen 478
Wende und Ende des Hundertjährigen Krieges 483
Burgundischer Hochsommer: Das Spiel des Realismus 488
Italienische Rochaden 494
22. Die Diskursrevolution entläßt ihre Kinder 499
Pädagogik, rhetorische Revolution und Textkritik 499
Italienisch-griechische Netzwerke 503
Archäologie der Weisheit 506
Die Wahrheit schreit auf der Gasse: Cusanus' Konkordanzen 510
Die Gründe der Dinge erkennen: Epikurs Rückkehr 514
Alberti: Fenster zur Welt 520
Ein Ritter gegen die Moderne 529
Über Italien hinaus: Anfänge des europäischen Humanismus 533
Erste Akademien, Dichter der Städte 538
Konkurrenz und Kreativität: 1450–1500 543
23. «Le tens revient» 543
Konstantinopels letzter Kampf 544
Nach 1453 547
Das italienische Mobile 550
Der europäische Rahmen 556
Patronageland Italien 561
In Platons Himmel 569
Am Ende schöner Tage 573
24. Medienrevolution 577
Aufbruch in Mainz 577
Der Gutenberg-Kontinent 582
25. Neue Welten 587
Nanjing, Ceuta: Eine welthistorische Wende 587
Geburt eines katholischen Imperiums 593
Kolumbus: Westwärts nach Osten 599
1492 604
Spanien, reines Land 608
26. Hexen, Hochfinanz und Staatsgewalt 611
Höllenfeuer 611
Hexenhammer 616
Trendwende: Bevölkerung, Wirtschaft 620
Silber, Eisen, Papier: Die Festigung des Tintenstaats 624
Vater eines Weltreichs: Maximilian I. 627
Größtkapital: Die Fugger 632
«Hochrenaissance» 637
27. Die Stunde der Staatsräson 637
Triumph der Hierarchie: Renaissancepäpste 637
Machiavelli 642
28. Reisen nach Utopia, Kunstwelten 649
Schöne Städte 649
Träume von Arkadien 653
Orte in Nirgendwo 658
Utopia Urbino: Castiglione und der Prozeß der Zivilisation 662
Der Kunstmarkt 666
Der Gottlose: Leonardo 669
Die Göttlichen: Michelangelo und Raffael 673
Die italienische Leitkultur 679
29. Südwind: Die Renaissance erobert Europa 683
Wege der Kunst und der Gedanken: Westeuropa, Osteuropa 683
«O tempora, o mores!»: Humanismus im Heiligen Reich 694
Hochhumanismus: Erasmus von Rotterdam 698
Neue Reiche, neues Wissen, Glaubensspaltung 703
30. Imperien und Weltherrscher 703
Das Osmanische Reich im Zenit 703
Moskau: Vor der imperialen Wende 710
Konquistadoren 715
Über die Hoffnung hinaus 722
Habsburgs Universalmonarchie 727
31. Religionsrevolution 732
Luther 732
Ein deutscher Möglichkeitsraum 740
Schatten der Endzeit: Bauernrevolution 745
Römische Graffiti und der Gesang der Nachtigall 752
Spaltung und Spaltung der Gespaltenen: Wittenberg, Zürich, Münster 757
Englische Scheidungen: Die Reformation Heinrichs VIII. 762
Abgeschnittene Reformationen 767
Gottes Hirtenhund: Calvin 773
Krieg und Konzil 777
Luthers Erbe, Humanismus und Renaissance 784
32. Revolution der Himmelssphären 793
Prometheus 793
Paradigmenwechsel 798
Die Musik der Ewigkeit: Der alte Himmel 801
Kopernikus 806
Gottes Bücher 812
33. Die große Kette des Seins 815
Renaissance-Magie: Die Macht der Worte und Dinge 815
Die Macht der Steine und der Sterne: Alchemisten und Astrologen 817
Gelehrte, Scharlatane, Wissenschaft 821
34. Die Zergliederung des Menschen 824
Der Aufbruch des Medicus 824
Lebensgeister, ganzheitliche Medizin: Fernel, Paracelsus 828
Revolution der Anatomie: Vesalius 831
Eisige Zeiten 835
35. Europäische Tableaus I: Westeuropa – Konfessionen, Kriege, Zukunftsländer 835
Klimawandel, Hunger, Hexenpanik 835
Von Augsburg nach Trient 841
Katholische Renaissance 848
Frankreichs Nacht: Die Hugenottenkriege 851
Spanischer Abend 856
Batavischer Morgen 864
Frauenmacht: Elisabeth I. 869
36. Europäische Tableaus II: Der Norden, der Osten, die Mitte und Italien 877
Patrioten 877
Um das Baltische Meer und Sibirien 880
Das Heilige Römische Reich 886
Geschichte einer Mythologie: Italien 891
37. Jenseits der Säulen des Herkules 896
Der Zorn Gottes 896
Amerikanische Renaissance, traurige Tropen 904
Spaniens Griff nach Ostasien 912
Die Magie der Kaps 916
Geschichte und Wahrheit 920
38. Herbst der Renaissance 927
Gärten der Melancholie 927
Malerei des Ich: Montaigne 931
«Manierismus»: Die Künste in der Welt 935
Fülle und Ordnung des Wissens 945
Gigantensturz 953
Winterreise in die Unendlichkeit: Giordano Bruno 958
Wintermärchen: Shakespeare 965
Wissenschaftsrevolution 973
39. Beobachten, experimentieren, rechnen 973
1600: Unter dem Vulkan 973
Experimentalwissenschaft, Großforschung 976
Gegen Galen 982
40. Sonnenaufgang im Westen 985
Tycho Brahe: Vom Glück der Patronage 985
Keplers Sieg über Mars 989
Gott als Mathematiker 993
Die Erfi ndung des Fernrohrs 996
Galileis neue Physik 999
Der Prozeß 1003
Phönix in Europa 1007
Vor der Moderne 1011
41. Im Zeitalter des Leviathan 1011
Leben zwischen Renaissance und Barock: Streiflichter 1011
Die Entzauberung der Politik 1015
Machtspiel um die Welt 1019
Leviathans Triumph 1024
Morgen der Zivilgesellschaft 1028
42. Die Weltmaschine 1034
Erfindungslust 1034
Verlorene Mitte 1037
43. Archäologie des Neuen 1044
Das große Auseinanderdriften 1044
Von Schrauben und Menschen: Die Vollendung eines alexandrinischen Projekts 1048
Der Flügelschlag des Schmetterlings 1054
IV. Ausblicke: Der «Westen» und der Rest 1059
44. Vertikalen, himmelhoch 1061
Rußland: Zaren und Patriarchen 1061
Der kranke Mann am Bosporus 1065
45. Pastoralmacht: Staat, Gesellschaft, Religion 1072
Schmerzhafte Scheidungen, lähmende Liaisons 1072
Worte aus Wachs 1075
Kant kam nicht bis Bagdad 1077
Kein Bürgertum, nirgends 1080
Apoll kam nur bis Gandhara: Religion, Kunst, Anatomie 1083
46. Verwehte Kulturen, eigensinnige Staaten 1089
Jenseits von Leviathans Reich 1089
Parallelen, Divergenzen: Zentralasien, Südostasien 1096
Indien 1104
Japan: Tokugawa- Renaissance? 1107
47. Warum nicht China? 1114
Träume von Ruhe, hektischer Handel 1114
Ein arroganter Gigant 1119
Stoa, nicht Drama 1123
48. Tiefe Geschichte: Echolote 1131
Vom Glück des Glaubensstreits 1131
Demographische Regimes: Leben, Überleben, Sterben 1136
Bürgermacht 1139
Der lange Atem der Geschichte 1144
49. Epilog 1148
Auf den Schultern von Riesen 1148
Von der Einzigartigkeit der europäischen Renaissance 1160
Abend eines Fauns 1165
Die Welt ein Traum 1170
Republikanische Werte, Antikenromantik 459
Die morsche Republik 467
Anhang 1175
Nachwort 1177
Anmerkungen 1183
Abkürzungen 1219
Quellen und Literatur 1221
Bildnachweis 1281
Personenregister 1285
Tafelteil 1309
1. Europas großes Gespräch
Abb. 1: Stefano della Bella, Aristoteles, Ptolemäus und Kopernikus, aus: Galileo Galilei, «Dialogo sopra i due massimi sistemi del mondo», Florenz 1632, Titelblatt, Florenz, Biblioteca Nazionale
Das Gemälde der Welt
Venedig, im Sommer 1630. Ein langer Tag neigt sich dem Ende zu. Von der Lagune her streift Abendwind über die noch warmen Dachziegel. Der Lufthauch kühlt drei Männern, die sich in einem der Paläste der Stadt zusammengefunden haben, die Stirnen. Den Tag hatten sie mit Gesprächen über ein großes Thema verbracht. Die beiden «bedeutendsten Weltsysteme» waren diskutiert worden: das seit der Antike geglaubte Modell des Claudius Ptolemäus, das die Erde im Zentrum des Universums sah, und die damals noch kein Jahrhundert alte Lehre des polnischen Astronomen Nikolaus Kopernikus, von der die Erde zu einem die Sonne umkreisenden Planeten degradiert worden war. Herr Sagredo, der Gastgeber der Runde, beschließt die Diskussion mit einer Ruhmesrede auf die Schärfe des menschlichen Geistes, auf die Künste und Wissenschaften der vergangenen Epoche. Er rühmt die Fertigkeit, von einem Stück Marmor die überflüssigen Teile zu entfernen, um die schöne Figur zu entdecken, die darin verborgen ist, und die Fähigkeit, Farben zu mischen, sie über eine Leinwand zu verteilen und so alle sichtbaren Dinge darstellen zu können, wie es ein Michelangelo, ein Raffael, ein Tizian verstanden hätten. Nicht aufhören könne er zu staunen, meint Sagredo – über die musikalischen Kompositionen, über Dichtung, Architektur, über die Kunst der Seefahrt. Eine aber überrage alle anderen bewunderungswürdigen Erfindungen: der Buchdruck. «Welche Größe des Geistes hatte jener, der eine Methode erfand, seine verborgensten Gedanken einer beliebigen anderen Person mitzuteilen, selbst wenn er durch einen gewaltigen Abstand von Zeit und Raum von ihr getrennt ist? Mit jenen zu sprechen, die in Indien sind, ja mit noch nicht Geborenen und denen, die noch nach tausend und zehntausend Jahren nicht geboren sein werden? Und mit welcher Leichtigkeit – mit den unterschiedlichen Anordnungen von zwanzig kleinen Buchstaben auf einem Papier …»[1]
Hinter der fiktiven venezianischen Szenerie verbirgt sich ein großer Autor, nämlich Galileo Galilei. Sie findet sich in dem 1632 in Florenz publizierten «Gespräch über die zwei vornehmlichsten Weltsysteme». Als seinen Statthalter läßt Galilei darin den Gelehrten Salviati auftreten, auch er ein Verteidiger des kopernikanischen Weltbildes. Der Gastgeber hat die Rolle des Moderators. Er ist aber wie Salviati Anhänger des Kopernikus und damit selbst ein wenig Galileo. Als Fürsprecher des alten ptolemäischen Systems und der aristotelischen Wissenschaft begegnet der pedantische Simplicio, das heißt «Einfaltspinsel». Er wird mit Ironie abgefertigt. Galileis Traktat sprüht vor Witz, trieft von Sarkasmus. Der Autor will ein gebildetes Publikum überzeugen und bietet daher Rhetorik, nicht Mathematik. Die Argumente, die sein «Sprecher» Salviati ins Feld führt, sind nicht neu, und sie treffen keineswegs immer ins Schwarze (zum Beispiel meint er, den Gezeitenwechsel als Beweis dafür, daß sich die Erde bewege, anführen zu können). Die Eleganz des Arguments ist wichtiger als der empirische Befund.
Darauf aber kommt es uns nicht an. Galileis «Dialogo» steht für einen Stil gelehrter Diskussion, wie ihn in dieser Form zuerst und für lange Zeit ausschließlich Europa mit seiner Wissenskultur pflegte: Geprägt von den Tugenden neugierigen Fragens und gelassenen Bezweifelns, scheut er Streit, ja donnernde Polemik nicht. Dank der Druckerpresse konnte ein halber Kontinent am großen Gespräch teilnehmen. Galileis Text spiegelt diesen welthistorisch einzigartigen Vorgang. Sein Verfasser hatte nicht einfach Neues entdeckt. Er argumentierte auf eine neue Weise.[2] Gleichwohl entstammte das Muster, der «ciceronianische Dialog», tiefer Vergangenheit. Seine Wurzeln hatte er in einer Praxis des Diskutierens, die Sokrates im 5. vorchristlichen Jahrhundert vorgemacht hatte. Aus dessen Art, Weisheit zu suchen, war eine Methode geworden, wissenschaftliche Erkenntnis zu gewinnen. Sokrates und Cicero hatten sich denn auch als stille Gäste zu dem Symposion an jenem venezianischen Sommerabend, von dem Galilei fabuliert, eingefunden.
Viele der Entwicklungen, die er rühmt, lassen sich unter das starke Schlagwort «Revolution» bringen. Erste Schritte hin zur Mechanisierung der Welt im 13. Jahrhundert kamen einem fundamentalen Umbruch gleich. Gutenbergs Erfindung setzte eine Medienrevolution in Gang; vorausgegangen war ihr, was wir «Diskursrevolution» nennen wollen – eine sich erst allmählich, dann rasch und rascher vollziehende Ausfächerung der Themen des Redens und Schreibens, die Weltliches, im besonderen Antikes ergriff. Mit der Reformation folgte ihr eine religiöse Revolte. Kopernikus, Kepler und Galilei revolutionierten schließlich Kosmologie und Physik. Zusammengenommen, veränderten diese Revolutionen die Welt. Sie machten, was wir Moderne nennen, genauer: ihre westliche, weltweit wirkende Variante.
Ohne das Gespräch mit der Antike, das die Kultur der Renaissance – Thema unserer Darstellung – zum Zentrum hat, wären diese Umbrüche undenkbar gewesen. Ohne die Möglichkeit, miteinander und gegeneinander zu reden, kritisch zu diskutieren, öffentlich zu räsonieren, wäre weder die Demokratie entstanden noch jene Fülle technischer Neuerungen und wissenschaftlicher Erkenntnisse hervorgebracht worden, die unsere Zeit prägen, im guten wie im schlechten. «Ein Hauch unsres Mundes wird das Gemälde der Welt, der Typus unsrer Gedanken und Gefühle in des andern Seele», meint der deutsche Dichter Johann Gottfried Herder (1744–1803). «Von einem bewegten Lüftchen hangt alles ab, was Menschen je auf der Erde Menschliches dachten, wollten, taten und tun werden.»[3] Unser Buch handelt von diesem großen Gespräch, vom Austausch von Wissen, Ideen und Praktiken, durch den sich die Renaissance formte. Sie war weitgehend Sache einer männlichen Elite. Doch veränderte, was jene «Kreativen» erdachten, die Welt für alle. Unser Bericht möchte rekonstruieren, wie die Renaissance möglich werden konnte, und erwägen, welche Folgen sie hatte. Ohne ihre Gedanken und Erfindungen wäre unsere Moderne vielleicht keine schlechtere Moderne, sicher aber eine andere.
Wollen wir wissen, wie wir wurden und was wir sind, sind weite Reisen zu absolvieren. Vergleiche mit anderen Regionen sollen Annäherungen an Gründe ermöglichen, aus denen der lateinische Teil Europas eine Entwicklung durchmachte, die seiner Kultur Weltwirkung verschaffte: ein winziges Gebiet, das nicht einmal zwei Prozent der Erdoberfläche ausmacht. In drei Himmelsrichtungen grenzt es an Meere, nach Osten hin an die russisch- und griechisch-orthodoxen Kulturen, wo seine Ränder heute von den baltischen Staaten, Polen, Ungarn und weiter südlich dem Balkan markiert werden.
Geschichte einer Möglichkeit
Die Pflege der Kunst der Konversation und mit ihr das «Prinzip Streit» zählen zu den bedeutenden Errungenschaften der Renaissance. Im Streit zeigen sich Schwachstellen der Argumentation und Risse in den Fundamenten wissenschaftlicher Kathedralen; kritische Dialoge begleiteten technische Fortschritte von jeher. Vorangetrieben und begleitet wurde die Kunst des Streits von intellektuellen Umbrüchen: einem methodischen Paradigmenwechsel, der unter das Stichwort «Scholastik» gebracht zu werden pflegt, und dazu, Ausdruck des veränderten intellektuellen Stils, der Ausbreitung der von der Antike erlernten Rhetorik, die auch Galileis Traktat trägt. Renaissance, das heißt: Antikes in Fülle aufgreifen, es weiterdenken, Neues daraus entwickeln, schließlich das Alte überwinden. So gut wie alle Gebiete des Wissens erfuhren Umwälzungen. Das Mittelalter hat gewiß nicht nur Heiliges diskutiert – die Renaissance aber trieb die großflächige Eroberung profaner Gebiete voran. Über die verschiedensten Medien, durch Bücher, Bilder, durch Predigen und Diskutieren, erfaßte das große Gespräch alle nur denkbaren Gegenstände. In den Hörsälen der Universitäten, in Patriziervillen und Fürstenschlössern, selbst in Klöstern und im Herzen der katholischen Macht, im Vatikan, entfaltete sich ein Dialog von einzigartiger Dimension, was Themen und Teilnehmerzahl anbelangt. Bezeichnenderweise wurde während der Renaissance die Kunst der Konversation selbst als Thema entdeckt.[4]
...Erscheint lt. Verlag | 30.9.2019 |
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Reihe/Serie | Historische Bibliothek der Gerda Henkel Stiftung | Historische Bibliothek der Gerda Henkel Stiftung |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Historische Romane |
Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Neuzeit bis 1918 | |
Geschichte ► Allgemeine Geschichte ► Neuzeit (bis 1918) | |
Schlagworte | Antike • Entdeckungen • Epoche • Europa • Geschichte • Humanismus • Ideen • Innovation • Kultur • Kunst • Mittelalter • Philosophie • Politik • Religion • Religionskriege • Umwälzungen |
ISBN-10 | 3-406-74120-7 / 3406741207 |
ISBN-13 | 978-3-406-74120-3 / 9783406741203 |
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