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Der Krieg, den keiner wollte -  Freder van Holk

Der Krieg, den keiner wollte (eBook)

eBook Download: EPUB
2019 | 1. Auflage
203 Seiten
Uksak E-Books (Verlag)
978-3-7389-3063-4 (ISBN)
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Ein technischer Zwischenfall mit schwerwiegenden Folgen: Ein automatisches Raketengeschoss wird infolge eines elektronischen Fehlers ausgelöst und fällt auf die Stadt Magdeburg. Der Atomschlag löst eine Panik aus, die auf beiden Seiten zu Kurzschlusshandlungen führt. Die Todesraketen rasen los, und bald heben sich über den deutschen Landen beiderseits des eisernen Vorhangs die radioaktiven Explosionswolken träge zum Himmel ... In einem Münchner Verlagshaus wird gerade von einer erlesenen Besucherschar der auf das Modernste eingerichtete neue Luftschutzkeller besichtigt, als sich die Türen zur Außenwelt automatisch schließen. Jeder hält es zuerst für den Teil einer Luftschutzübung, bis den Eingeschlossenen plötzlich klar wird, dass aus dem Spiel Ernst wurde!

1. Kapitel


Im nächtlichen Oregon taumelte eine junge, technisch noch nicht versierte Schreieule in den elliptisch polarisierten Leitstrahl IV des Ionargeräts hinein. Ihre lustvollen Wachträume von fetten Mäusen vergingen in einem Erschauern, das als eine schnelle Folge von Krämpfen durch alle Muskelfasern zitterte, während zugleich ihre Sinne versagten. Wenn es ihr gegeben gewesen wäre, hätte sie in diesem Augenblick an das Eingreifen übereulicher Mächte gedacht, aber da ihr die Beziehung zum Metaphysischen fehlte, empfand sie nur Angst. Sie flatterte panisch weiter und geriet dabei immer dichter an die Hohlspiegelantenne heran, bis ihre Muskeln blockiert wurden und sie aus dem Leitstrahl herausfiel. Damit schied sie auch schon wieder aus der Geschichte der Menschheit aus, ohne zu ahnen, dass sie diese um eine Katastrophe bereichert hatte.

Im vormittäglichen Magdeburg sprach der stellvertretende sowjetische Ministerpräsident Ilja Oparin anlässlich der Inbetriebnahme des neuen Fernsehsenders „Glückliches Europa“, wobei er sich riesig vergrößert als plastisches und farbiges Brustbild auf der Projektionsfläche bewegte. Viele fanden es angenehm, ihn zu sehen und zu hören. Ilja Oparin besaß einen telegenen Kopf, eine ausdrucksvolle Mimik und eine gewinnende Art, die blitzende Schärfe seiner Bonmots in liebenswürdiger Verpackung zu servieren. Er überzeugte mit seiner tadellos gebundenen Krawatte den kleinen Mann davon, dass er ein anständiger Mitmensch war, während alle höheren Ansprüche durch den Bildungsgehalt seiner Rede befriedigt wurden. Es war unmöglich, von einem Mann nicht gefesselt zu sein, der Goethe und Schiller als die Repräsentanten der osteuropäischen Kultur zitierte.

In München stand Emil Polle – Graphischer Großbetrieb – breitbeinig zwischen lindgrünen Fliesenwänden und genoss in animalischer Erleichterung das Nachlassen eines inneren Drucks, der ihn im Laufe der Feierstunde peinlich belastet hatte. Er litt an einem auf Rührung empfindlichen Bewässerungssystem und hielt sich deshalb für einen sensiblen Menschen. Die Verleihung des Bundesverdienstkreuzes hatte ihn seelisch erheblich beansprucht, und die persönliche Bemühung des Ministers hatte das eindrucksvolle Erlebnis zum Unvergesslichen gesteigert.

Emil Polle stand wie der Roland von Bremen gegen das offene Fenster, ein würdiges Gegenstück zu den Frauentürmen und den gläsernen Hochhäusern, die sich neben ihm im Fensterrahmen behaupteten. Die harte Luft eines Novembertages, dessen Sonne gegen den kalten Dunst der steinernen Narbe nicht mehr aufkam, fiel in die mollige Wärme des Waschraums hinein.

Hundertachtzig Pfund Gewicht auf hundertachtzig Zentimeter Größe verteilt ergeben eine stattliche Erscheinung. Emil Polle besaß sie. Abgesehen von einem kleinen Bauch, der ihm die Würde des seriösen Geschäftsmannes verlieh, befanden sich Fleisch und Knochen im richtigen Verhältnis. Er hatte die Mitte der Fünfzig bereits überschritten, sah aber jünger aus. Das behagte ihm, denn insgeheim zählte er seine Jahre bereits nach den noch möglichen Liebesfreuden. Insofern bereitete ihm seine Glatze einigen Kummer, zumal das bis auf einen schmalen, grauen Nackenkranz verschwundene Haar einen Eierkopf enthüllt hatte. Ein größerer Minderwertigkeitskomplex blieb ihm jedoch erspart, da er trotzdem mit jedem Zoll eine wichtige Persönlichkeit blieb, die auch nicht durch die kräftige Nase, die verwaschenen Augen, die graue Schnurrbartbürste und die großen Ohren beeinträchtigt wurde. Sein fleischiges Gesicht unterschied sich in keiner Weise von denen anderer Männer, die wohlsituiert die Elite der Nation repräsentieren.

Polles Meditationen über dem Klodeckel rissen ab, als an die Tür geklopft wurde. Er erinnerte sich daran, dass er sich ja noch immer inmitten eines festlichen Ereignisses befand.

Dicht bei Magdeburg flatterten die Fahnen über den Gebäuden des neuen Fernsehsenders. In der Aufnahmekabine schloss Ilja Oparin eben seine Rede ab. Er lächelte menschenliebend, bis der Schalter knackte, dann sank er schlaff zurück und überließ sein Gesicht dem bereitstehenden Schminkmeister. Ilja Oparin schätze diese Minuten der Entspannung, die den Schauspieler vom Politiker trennten. Sie sicherten ihm die Überzeugung, dass er kein Schauspieler mit politischen Akzenten war, sondern ein Politiker, der sich den technischen Notwendigkeiten fügte.

Während die fremden Hände an ihm herumarbeiteten, wanderten die Gedanken Ilja Oparins spielerisch durch die unruhig flackernden Bezirke seines Gehirns, bis sie gegen die gewohnte Wand stießen. Krieg! Krieg war nie unvermeidbar. Er brauchte nicht zu kommen. Er durfte nicht kommen. Er würde nicht kommen. Alle Welt liebt den Frieden, und kein Mensch würde so irrsinnig sein, ihn ernsthaft zu gefährden. Die Völker verließen sich darauf, dass der Frieden durch die gegenseitige Angst gesichert wurde. Aber der technische Zwischenfall? Wie nun, wenn eine dieser Raketen, die insgeheim an langfingrigen Leitstrahlen über die Erde hinweggeisterten ...?

Ilja Oparin riss das warme Tuch, das über seinen Augen lag, ungeduldig weg. Es war nicht gut, mit sich allein zu sein und in sich hineinsehen zu müssen. Krieg? Nein, niemals! Und selbst der technische Zwischenfall würde sich irgendwie meistern lassen.

Der Chiefsergeant John Miller im fernen Oregon spürte Kälte auf seinem Rücken, als er die Schreieule im Leitstrahl IV entdeckte. Er fluchte, soweit sein Wortschatz reichte, aber nicht einmal das erleichterte ihn. Die Echokontrolle des Ionargeräts verriet, was geschehen war. Technisch gesehen bestand das Unheil darin, dass die Schreieule den Leitstrahl IV unterbrach, so dass das Ionargerät die Fernrakete „Betty“ vorübergehend nur mit drei Wellenbündeln erreichte. Durch den vierfach verwirbelten Leitstrahl zog sich gleichsam eine Laufmasche, die im Elektronengehirn der „Betty“ zu Missverständnissen führte, so dass es über eine Kette von Fehlreaktionen hinweg schließlich auf Zündung schaltete. Die „Betty“ befand sich mit einer Tritiumbombe im Kopf auf einem weit geschwungenen Manöverflug über Sibirien, Russland und Europa. Als ihr der Leitstrahl versagte, was er an die Schreieule verwendete, scherte sie verwirrt aus dem Leitstrahl aus. Da auch sie keinen Kontakt mit dem Überirdischen besaß, geriet sie – obgleich sie die Richtschnur ihres Handelns verließ – nicht in einen Gewissenskonflikt, sondern schoss stur in einer ballistischen Kurve auf die Erde zu. Am Endpunkt der Kurve aber lag die Stadt Magdeburg.

Dicht bei Magdeburg unterhielt sich Ilja Oparin freundschaftlich mit einigen Journalisten aus dem Westen über Fragen, die in den letzten zwanzig Jahren schon oft genug gestellt und beantwortet worden waren.

Ilja Oparin versicherte eben scheinheilig, dass er die Wiedervereinigung Deutschlands für eine ausgezeichnete Idee halte, als plötzlich eine weiße Lohe wie hundertfach verstärktes Sonnenlicht in seine Augen hineinblendete. Obgleich sich seine Lider sofort schlossen und sein Arm schützend nach oben fuhr, hatte er das Empfinden, dass sich das Weiße in ihn hineinfraß und seine Sinne verbrannte. Er war unfähig, wahrzunehmen, was um ihn herum vorging. Er versäumte jedoch nichts, denn auch alle anderen standen mit blinden Augen und abwehrend erhobenen Händen.

Ein oder zwei Sekunden später barsten die Fenster, und mit dem Splitterhagel schlug eine glühend heiße Luftkeule in den Saal hinein, die Ilja Oparin zusammen mit Wodkaflaschen und belegten Brötchen gegen eine Wand schmetterte.

 

*

 

Als er wieder zu sich kam, konnte er leidlich sehen, wenn auch wie durch einen grauen Schleier hindurch. Er lag im Wandwinkel unter einem Knäuel von Körpern. Er sah es, aber es gab keinen

Kontakt. Es ging auch noch nicht in ihn hinein, als Hände nach ihm griffen und ihn über den Wall der Leiber hinweghoben, als er die vertrauten Gesichter seiner Leibwache erkannte und ihre besorgten Fragen beantwortete. Nein, er war in Ordnung. Nein, keine Schmerzen. Ja, er konnte gehen. Aber was war geschehen? Ein Attentat?

In der nächsten Sekunde zerbrach die Sperre in ihm. Den Schock gab ihm der Blick durch die Fensteröffnung. Dort hatten eben noch die Konturen der Stadt Magdeburg gestanden. Jetzt sah er graue Flächen, zerrissen von Mauerresten und Schornsteinstümpfen, verhängt durch sinkende Schwaden, über denen hoch oben eine blitzend weiße Wolke wie der Hut eines Pilzes stand.

Hiroshima, dachte er, und damit knirschten die Kontakte aufeinander.

Eine nukleare Explosion! Hunderttausende von Toten auf einen Schlag!

Ilja Oparin war noch nicht tot. Er konnte noch das Stichwort geben. Handeln! Nicht herumstehen, handeln! Er musste alarmieren. Er musste! Er musste!

Das Verhängnis erstickte ihn. Ja, das Verhängnis. Er riss sich aus den Händen los, die ihn hielten, obgleich seine Beine wie Gummi unter ihm nachgeben wollten. Er würgte Befehle über seine geborstenen Lippen. Zerzauste Puppen mit schwarz werdenden Ballongesichter und geschwollenen Leibern taumelten weg und ließen ihn in einer Leere, die ins Unendliche wuchs. Dann spürte er, dass er sich selbst bewegte. Der Boden schwankte unter ihm, und neben ihm trieben verkrümmte Körper vorbei. Alarm! Ein einziger Funkspruch genügte, und eine einzige Stelle, die ihn aufnahm. Das Stichwort! Er konnte es geben.

Deshalb musste dieser armselige Klumpen Fleisch, der eben noch Ilja Oparin hieß und mit allen Fasern den Frieden wollte, durch das ausgeblasene Haus schwanken und mit letzter Kraft das geheime Stichwort gegen das Mikrophon stammeln.

In dieser historischen Stunde rollte wie stets der Alltag mit der kreisenden Sonne über die Erde. Von Amerika löste sich eben die...

Erscheint lt. Verlag 22.7.2019
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Fantasy / Science Fiction Science Fiction
ISBN-10 3-7389-3063-9 / 3738930639
ISBN-13 978-3-7389-3063-4 / 9783738930634
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