Cherubino (eBook)
320 Seiten
Paul Zsolnay Verlag
978-3-552-05964-1 (ISBN)
Die 39-jährige Sängerin Iris Schiffer ist zielstrebig, selbstbewusst und auf gutem Karriereweg. Demnächst gibt sie als Cherubino in Mozarts Oper 'Hochzeit des Figaro' ihr Debüt an der Met, und unverhofft wird ihr eine Hauptrolle bei den Salzburger Festspielen angeboten. Aber die schönste Nachricht ist ihre Schwangerschaft, von der Iris zunächst weder den beiden in Frage kommenden Vätern noch ihrer Agentin etwas verrät, zumal die Premiere in Salzburg und der Tag der Geburt nah beieinander liegen. Andrea Grill erzählt von einer souverän handelnden Frau, die erst allmählich bereit ist, ihre Schwangerschaft anzunehmen. Von den Männern nimmt sie, was sie braucht. Denn das, was zählt, sind sie und ihr Kind.
Andrea Grill, 1975 in Bad Ischl geboren, studierte u. a. in Salzburg und Thessaloniki und promovierte an der Universität Amsterdam in Biologie. Sie wurde u. a. mit dem Förderpreis zum Bremer Literaturpreis (2011) und dem Förderpreis für Literatur der Stadt Wien (2013) ausgezeichnet. Andrea Grill lebt in Wien und unterrichtet an der Universität Bern. Zuletzt erschienen bei Zsolnay die Romane Das Paradies des Doktor Caspari (2015) und Cherubino (2019).
*0 (75 cm)
Sie sah wieder aus dem Fenster. Grün, unerwartet grün, auch hier. Grashalme spiegelten sich in den Fliesen der Fensterbank, und da, auf den lanzettförmigen Silhouetten, lag der Stab. Er würde zeigen, ob sie recht hatte. Zwölf, dreizehn. Der Wind bewegte das Gras, im Testfenster tauchte ein Strich auf. Jemand klopfte an die Tür. Sie zählte weiter. Noch ein Klopfen. Moment! Sie vergaß zu zählen. Bin gleich so weit! Die Konditorei, deren Toilette sie benutzte, war doch leer gewesen? Zwanzig, einundzwanzig. Die Türklinke bewegte sich. Hatte sie richtig gezählt oder Zahlen übersprungen? Sie lehnte sich an die Wand: kalte Keramikfliesen durch die Bluse. Das Fenster war gekippt, es roch nach warmem Teig. Fünfunddreißig, sechsunddreißig. Die Wiese gab einem Luftzug nach, richtete sich wieder auf. Quadratische Platten, solche, in denen Steine zu erkennen sind, pflasterten einen Weg. Neununddreißig, vierzig Sekunden — ein Strich, zwei Striche: einer in der kreisförmigen Öffnung, einer in der eckigen, beide rosa. Sie las am Beipackzettel nach, was sie schon gelesen hatte: Striche bedeuten ja, kein Strich bedeutet nein. Der Geruch nach warmem Teig wurde stärker. Iris nahm ihr iPhone, fotografierte die Striche. Dann umwickelte sie den Stab mit einem Taschentuch, mit dem Beipackzettel, steckte ihn zurück in die Verpackung und in die Handtasche, die an der Klinke hing. Hellgelb, klein, leicht, mehr als zwei Dutzend Taschen besaß sie, fast immer nahm sie diese.
Sie schaute in den Spiegel, ihr Gesicht war wie immer. Was hattest du erwartet? Sie zeigte sich die Zunge. Auch die war wie immer. Vorhin hatte sie an der Theke die Kuchen betrachtet, sich nicht entscheiden können, hatte gesagt, ich setze mich, hatte sich nicht gesetzt. Sie würde nichts essen können.
Sie hatte es gewusst, seit gestern schon.
Jetzt hatte sie den Beweis.
Die Klinke bewegte sich. Klopfen, neuerlich. Ihre Tasche zitterte.
Sie zog die Spülung. Ging hinaus, lachend, das Lachen kullerte aus ihr heraus, ging vorbei an einer Dame in einem engen schwarzen Lederrock; die schüttelte den Kopf.
Als einzige Kundin stand sie vor der Torten-Vitrine. Was kann ich für Sie tun? Eine Biskuitroulade bitte, die mit den Erdbeeren. Können Sie die einpacken, transportsicher? Selbstverständlich. Mit dem kunstvoll verschnürten Päckchen verließ sie die Konditorei. Auf der anderen Straßenseite war durch das Schaufenster die Apothekerin zu erkennen, bei der sie zuvor gewesen war, wie sie mit einer jungen Frau sprach, ihr mehrere Packungen von etwas vorlegte, diese wieder wegnahm, neue Packungen auflegte, eine große Tube —
Es ist einfach, hatte die Apothekerin gesagt, die sicherste Methode, die es gibt. Absolut zuverlässig, Sie können nichts falsch machen.
Einfach war es wirklich gewesen.
Hinter der Apotheke ließ sich eine Landschaft ausklappen. Grün, wahnsinnig grün. Eine Weide, darauf zwei grasende Schafe, weit weg aber doch. Ein verblühter Bauerngarten, gelbe Fransen an einzelnen Stängeln. Ländliche Idylle in einer Millionenstadt. Leicht lag die Packung in ihrer Hand, länglich. Die Frau strich über ihren blitzweißen Labormantel, öffnete die Kasse, schloss die Kasse, reichte ihr die Rechnung. Hinter ihrer linken Schulter fraßen die Schafe.
Die nächste Kundin hatte den Ausblick durcheinandergebracht. Zugluft warf das Fenster zu, riss es wieder auf. Vorsicht!, die Apothekerin hatte sich an den Kopf gegriffen, als wäre er abfluggefährdet.
Da war Iris schon draußen gestanden. Die Konditorei war ihr aufgefallen, rote Maschen in der Auslage; sie hatte die Straße überquert, war eingetreten.
Iris setzte sich in Bewegung, das Biskuitpäckchen schlenkerte an ihrem Handgelenk. In vierzig Minuten musste sie beim Vorsingen sein. Um noch ins Hotel zu gehen, war es zu spät. Sie sah an sich hinunter. Ein schwarzes Kleid, knielang, blaue Strumpfhose, weiße Sneakers, nicht schlecht für die Rolle, um die sie sich bewarb. Die Vorstellungskraft des Intendanten würde nicht unnötig strapaziert werden; so ein Kleid passte zu der Sophie, die sie probeweise verkörpern sollte. Nicht die Sophie, an die Opernfans sofort denken, wenn der Name fällt, eine scheue, selten gespielte.
Wow, dachte sie. Die neue Gewissheit fiel ihr leicht. Sie betrachtete das Bild des Teststabs auf ihrem iPhone. Solang sie es nicht wollte, würde niemand davon erfahren. Auf das Display glitt eine frische Nachricht, vom linken oberen Eck rutschte sie herein, wurde dann unsichtbar. Ich halte dir Daumen und Zehen. Bald komm ich dran, sie tippte im Gehen, ich küsse deine Zehen, I.
Sie ging weiter in die Richtung, in der sie das Prinzregententheater vermutete; sie kannte München nicht gut, war zwar einmal bei den Opernfestspielen eingesprungen und ein paar Wochen da gewesen — als Komponist in Strauss’ Ariadne —, hatte damals aber keine Zeit, sich mit der Topografie der Stadt zu beschäftigen.
Sie beschleunigte ihre Schritte, geriet in etwas wie ein Wäldchen, gepflegte Wildnis für den Alltag. Jogger, Radfahrer; Kinder spielten Fangen um einen Teich herum, Kinder kreischten an einem Ringelspiel, drehten flink an dem Rad in der Mitte — huschende Farbflecken. Ihr und nur ihr gehörte das Testergebnis, kein Grund vorläufig, es jemandem zu erzählen.
Dass es noch Leute gibt, die wissen, was ein Lächeln ist, der Mann stützte sich auf einen Stock, Haselstaude, den hat er vermutlich eben von einem Strauch geschnitten. Nur weiter so, brummte er mit brüchiger Stimme, als sie sich umdrehte, weiter, weiter.
Noch dreißig Minuten. Jetzt hatte sie den Eindruck, die Umgebung zu erkennen. Lichtdurchflutetes Gelände, saftig, irgendwie satt, weit hinten, dem Blick angenehm Raum lassend: Berge. Ein kleiner Park zwischen den Häuserzeilen, fast sukkulent vor den weiß beschneiten Spitzen. Eine Bank unter einem überhängenden Baum. Hier will ich sitzen, den Übergang der Vorstadt in die Landschaft beobachten, so viel Zeit muss sein; sie fingerte an der Verschnürung des Biskuitpäckchens, löste den Knoten, faltete die Schachtel auf, biss in die Roulade. Besser als erwartet. Sonne schien auf ihre Beine.
Als sie den Zucker vom Kleid schüttelte, rührte sich das iPhone wieder; es vibrierte, es zirpte wie eine Feldgrille, eine deutsche Nummer blinkte. Iris wartete, bis das Zirpen aufhörte, rief den Anrufbeantworter an. Ich will Ihnen nicht lästig fallen, sagte eine fremde Stimme, weiblich, sympathisch, wollte mich nur erkundigen, ob Sie unterwegs sind, wir erwarten Sie.
Iris seufzte, bis zu ihrem Termin waren es noch zwanzig Minuten! Sie massierte sich den Nacken, drehte langsam den Kopf, nach links, nach rechts, verließ den Park, überquerte einen Platz. Das Prinzregententheater musste ganz in der Nähe sein. Wieder zirpte ihr Telefon, ja? Martha. Ja, ja, ja, ja, ja, ich bin fast dort, mach dir keine Sorgen, nein, nein, nein, ich weiß, bis später, ciao, tschüss, baba, ciao.
Martha Halm, ihre Agentin, hatte ihr zugeredet, die Einladung zu dem Vorsingen anzunehmen. Das ist deine Rolle, dir auf den Leib geschnitten; zeitgenössisch, herrliche Musik, dramatisch, eine eher unbekannte Oper: perfekt für einen Durchbruch, den Durchbruch. Kleine Perlen sammelten sich auf Marthas Nase und Oberlippe, Ernsthaftigkeitstau nannte Iris dieses Naturereignis, wenn sie jemandem im Vertrauen davon erzählte.
Wenn Martha glaubt, das Leben geht nicht weiter, falls ich etwas nicht versuche, ihres nicht und meins schon gar nicht, dann kriegt sie diese Schweißausbrüche, wie ein Pflänzchen, wenn es warm wird, nach einer kalten Nacht.
Iris hielt ein Taxi an. Ist nicht weit, sagte der Fahrer auf ihre Frage. Nach zehn Minuten ließ er sie vor dem Theater aussteigen. Schnell ging sie zum Haupteingang, geschlossen. Sie umrundete das Gebäude. Alle potentiellen Öffnungen waren zu; es hockte da wie eingekapselt. Kein Hinweis auf das Vorsingen. Kopfschüttelnd rief sie die Nummer der sympathischen weiblichen Stimme an. Nichts offen? Auch nicht die Seitentür? Ich entschuldige mich vielmals. Bitte, bitte, einen Augenblick Geduld, bin gleich bei Ihnen.
Es hatte Perioden gegeben in ihrem Leben, da wäre Iris in so einem Fall umgekehrt, hätte erbost Martha gebeten zu urgieren. Wäre dann tagelang auf Tauchstation gewesen. Heute spürte sie in sich einen fast grenzenlosen Vorrat an Geduld.
Oh, Sie sind allein! Hinter der Frau, die auf Iris zueilte, wehte ein knöchellanger Staubmantel. Nicht ganz, vorläufig werde ich nie mehr ganz allein sein. Das behielt sie für sich.
Willkommen, Frau Schiffer, wir freuen uns sehr, dass Sie da sind!
Ja, nickte Iris, wollen wir? Ich...
Erscheint lt. Verlag | 22.7.2019 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Biologie • Feminismus • Frau • Geburt • Hochzeit des Figaro • Klassik • Liebe • Mozart • Musik • Nicholas Maw • Oper • Österreich • Salzburger Festspiele • Sängerin • Schwangerschaft • Sophie's Choice |
ISBN-10 | 3-552-05964-4 / 3552059644 |
ISBN-13 | 978-3-552-05964-1 / 9783552059641 |
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