Kintsugi (eBook)
304 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-491112-0 (ISBN)
Miku Sophie Kühmel wurde 1992 in Gotha geboren. Sie hat Literatur- und Medienwissenschaften studiert - kurz in New York und länger in Berlin, wo sie heute lebt und arbeitet. Sie ist freie Schriftstellerin und produziert verschiedene Podcast-Formate. Nach Veröffentlichungen in Anthologien und Zeitschriften erschien 2019 ihr Debütroman »Kintsugi«, für den sie mit dem Literaturpreis der Jürgen Ponto-Stiftung 2019 und dem »aspekte«-Literaturpreis 2019 ausgezeichnet wurde. Sie erhielt u.a. Stipendien des Alfred Döblin-Hauses der Akademie der Künste, des Künstlerhofes Schreyahn und der Stadt Gotha. 2022 erschien ihr zweiter Roman »Triskele«, mit dem Miku Sophie Kühmel für den Clemens-Brentano-Preis 2023 nominiert war.
Miku Sophie Kühmel wurde 1992 in Gotha geboren. Sie hat Literatur- und Medienwissenschaften studiert – kurz in New York und länger in Berlin, wo sie heute lebt und arbeitet. Sie ist freie Schriftstellerin und produziert verschiedene Podcast-Formate. Nach Veröffentlichungen in Anthologien und Zeitschriften erschien 2019 ihr Debütroman »Kintsugi«, für den sie mit dem Literaturpreis der Jürgen Ponto-Stiftung 2019 und dem »aspekte«-Literaturpreis 2019 ausgezeichnet wurde. Sie erhielt u.a. Stipendien des Alfred Döblin-Hauses der Akademie der Künste, des Künstlerhofes Schreyahn und der Stadt Gotha. 2022 erschien ihr zweiter Roman »Triskele«, mit dem Miku Sophie Kühmel für den Clemens-Brentano-Preis 2023 nominiert war.
Dieser Roman ist ebenso streng wie unaufdringlich komponiert [...] ein erstaunliches Debüt, ein Roman der ebenso weltweise wie modern ist.
Glaubhaft fühlt sie sich in die Gedankenwelt von Um-die-40-Jährigen ein [...]. Kühmels Roman ist ein Plädoyer, die Brüche im eigenen Leben zu akzeptieren und wertzuschätzen.
Eines der besten Debüts der letzten Jahre [...]
In ihrem Debütroman erweist sich Miku Sophie Kühmel als großes erzählerisches Talent.
Wie kann eine so junge Frau so weise über das Psychodrama eines alternden schwulen Paares schreiben?
In dieser außergewöhnlichen, gut durchdachten Struktur des Buches liegt dessen Stärke.
›Kintsugi‹, dieser kunstvoll aus den Innenperspektiven der vier Figuren erzählte Roman, erzählt eine Verfallsgeschichte der Liebe.
[...] so elegant in Form gebracht wie eine japanische Teetasse.
wabi
Wieso wir nicht verheiratet sind. Es wäre schließlich jetzt möglich. Um genau dieser Frage aus dem Weg zu gehen, haben wir uns gegen eine Party, ein Essen, was auch immer entschieden.
Sicher, als wir uns mit zwanzig am Kiosk über den Weg gelaufen waren, und dann immer wieder, und es dann eine feste Zeit war, immer gegen 21 Uhr, immer noch einen Kaugummi, ein Bier, was ich nicht trank, eine Zeitschrift, die mich nicht interessierte, und als wir begannen, danach vom Kiosk aus den Block zu umrunden, von dort in den Park zu gehen und ins Kino und ins Bett, hätten wir uns das nicht zu träumen gewagt. Im letzten halben Jahr haben in unserem Freundeskreis nicht weniger als drei Paare, vier Männer und zwei Frauen, Ringe getauscht. Sie alle sind nicht so lange zusammen wie wir, und doch sind sie wild entschlossen gewesen, haben sich für die Durchsetzung dieses Rechts leidenschaftlich engagiert, Demonstrationen und Petitionen und all das. Reik und ich, wir haben am Tag der Abstimmung nicht einmal angestoßen. Pega hatte uns den Twitter-Feed vorgelesen, ganz aufgeregt, und Tonio hatte zufrieden gelächelt, als wäre nach Jahrhunderten endlich eine Ungerechtigkeit besiegt, die ihn ganz persönlich betroffen hätte. Einige meiner Studenten waren mit geschminkten Regenbogen auf den Backen in den Hörsaal gestiefelt und hatten mich breit und erwartungsvoll angegrinst. Damit hatte ich überhaupt nicht umgehen können. Hatte mich geräuspert und nahtlos begonnen, über eine Ausgrabung in Somalia zu sprechen. Ein solches Ablenkungsmanöver aber funktioniert hier, in unserem Haus in der Uckermark und fernab aller Hörsäle, ziemlich sicher nicht. Tonio würde immer noch ein flapsiger Spruch einfallen, über Dinosaurierknochen oder Neokolonialismus – dass er von beidem gleichermaßen wenig versteht, hat ihn dabei noch nie gestört.
Deshalb stehen wir jetzt hier. Im üblichen, sanften Akkord lasse ich mir die Teller von Reik reichen und sortiere sie in den Spüler. Mein meditatives alltägliches Puzzlespiel. Einige Male streifen sich dabei unsere Finger, und als ich an ihm vorbeigehe, versuche ich, seinen Blick aufzufangen, aber er stapelt schon die vier Marmeladengläser aufeinander, fixiert sie mit dem Kinn und balanciert sie in Richtung Kühlschrank. Ich begnüge mich mit seinem sachten Pfefferminzgeruch, der mir kurz um die Nase weht, und wische den Tisch gründlich ab, bis die anderen sich endlich in ihre Jacken und Schals gewickelt haben.
Neben der Trauerweide am Seeufer, vom Küchenfenster aus sichtbar, steht der riesige rostige Nagel eingepflanzt, den Reik vor Jahren in einer Schweißerphase gemacht hat. Heute würde er sich vermutlich prima verkaufen. Er hat eine helle Patina bekommen, schimmert ein bisschen grünlich, oft sieht es so aus, als ob er die Farben des Sees direkt aufsaugt. Vielleicht funktioniert der Nagel nur hier so gut. Reik jedenfalls schaut immer ein bisschen beschämt, wenn wir Gäste haben und sie darüber reden. Trotzdem war der Nagel eines der ersten Dinge, die wir an diesem Ort gelassen haben, kurz nach meinem Ruf an die Fakultät und dem Kauf dieses Hauses. Wir hatten uns sehr schnell verliebt, denn nirgendwo haben wir bisher so lange erfolgreich der Illusion aufgesessen, wir wären ganz für uns und die letzten Menschen auf der Welt.
Draußen ist es klirrend kalt, der Boden knistert unter den Füßen bei jedem Schritt. Wir umrunden das Haus und beginnen den Spaziergang über den verwilderten Streifen Wiese, den Garten zwischen Haus und Seeufer, vorbei am Nagel. Jedes Mal bin ich überrascht, wenn ich in Reiks Arbeiten klare Kanten oder sichere Linien ausmachen kann. Ich stelle mir gern vor, dass das mein Auftritt in seinem Œuvre ist, so wie die melancholischen wolkenbedeckten Himmel für seine Säufermutter stehen und die Stellen, an denen man die Leinwand oder welchen Grund auch immer durchschimmern sieht, für seinen Vater. Kunststudenten würden diesen Interpretationsansatz altmodisch finden, klar. Die Jüngsten wollen jetzt ja am liebsten gar nichts mehr diskutieren, nur alles auf Servietten drucken, die sind noch schlimmer als die vor fünf oder zehn Jahren, die in allem Symbole für Phalli gesehen haben, was immerhin von einer Portion Humor zeugte. Und dass Reik in all seinen Bildern heimlich Pimmelkritzeleien versteckt, kommt mir um einiges realistischer vor als der Versuch der neuen Postmodernen, den Autor nicht nur zu töten, sondern einfach zu ignorieren, dass es ihn überhaupt gibt, wenn er nicht mindestens eine Million Follower hat.
Zum Glück gehört Reik einer Zunft an, die in Social Media kaum einen Platz hat – jedenfalls nicht, wenn man etwas auf sich hält –, und zudem zu einem Schlag Mensch, der permanent sein Telefon verlegt. Wäre das anders, dann würde er mit seinem Drang nach Aufmerksamkeit und dem unstillbaren Bedürfnis nach Liebe von einem Shitstorm in den nächsten wirbeln.
Über dem See liegt eine schillernde Haut aus Eis. Man kann nicht sagen, wie dick oder dünn sie ist. Natürlich ist Reik mit drei Schritten am Ufer und setzt einen Fuß darauf. Gerade, als er sagen will, dass es trägt, ich sehe ihn von hinten schon Luft holen, bricht er mit lautem Knirschen bis zum Knöchel ein. Das Eis splittert. Das Wasser spritzt. Sein Körper bebt, ein Schauer läuft mir über den Rücken. Wir alle lachen, Pega hakt sich bei ihrem Vater unter, und Reik kommt mit seinem Kleinjungengrinsen zurückgestakst, immer wieder den nassen Fuß schüttelnd, rote Kreise auf den Wangen und humpelnd wie Kapitän Ahab.
»Geht schon mal vor. Ich bin Socken wechseln.«
Seit wir dieses Haus gekauft haben, denke ich jedes Mal, wenn wir wieder fahren, dass wir zu selten hier sind. Im Flur bei uns zu Hause hängt mittlerweile sogar ein Bild, eine diffuse Zeichnung, Kreiden, die sich überlagern, die Reik irgendwann angefertigt hat, und manchmal, wenn wir uns streiten, dann stehen wir davor und überlegen, ob einer von uns oder wir beide vielleicht eine Auszeit brauchen.
Der Himmel vor uns ist weit und blau mit ein paar Wolkenfetzen, zu dieser Zeit des Jahres fühlt es sich immer an, als ob noch ganz viel vor einem läge. Je älter man wird, desto schneller vergeht dieses Gefühl und dann der Rest des Jahres.
Die vereisten Pfützen auf dem Weg, lange Schlangen in den Spuren, die schwere Fahrzeuge im Boden hinterlassen haben, spiegeln den Himmel mit Sprüngen. Ich höre es knirschen hinter mir, doch es ist nicht Reik, der uns nachgerannt kommt, es sind Pegas Schritte. Sie geht am Arm ihres Vaters. Sie trägt jetzt Absätze, breit und nicht sehr hoch zwar, aber scharfkantig genug, um die Pfützen zum Splittern und Knistern zu bringen. Leider rauche ich nicht, mir wäre sehr nach einer Zigarette gerade. Ich lasse mich ein paar Sekunden zurückfallen, und sie zieht mich mit dem freien Arm an ihre andere Seite. In einem Baum krächzen sich zwei Krähen an.
»Und wie lebt sich’s so, in deiner WG? Schon die Kotze weggewischt von Leuten, die du nicht kennst?«
Tonio macht etwas, das er früher immer ganz bewusst vermieden hat, er antwortet für sein Kind: »Pah, du müsstest das mal sehn! Piekfein ist das alles, Möbel passen perfekt zusammen, Einbauküche –«
»Ja, ist okay, Papa, wir sind spießiger als ihr verrückten Punks, Botschaft angekommen.«
»Entschuldige, ihr besitzt eine Knoblauchpresse. Kno.blauch.presse. Ihr seid zwanzig und ihr habt eine Kno–«
»Wir haben jetzt auch einen Zestenschneider, aus Edelstahl.«
»Dann steht dem wilden Partyleben wohl nichts mehr im Weg.«
Gelächter. Die beiden, fällt mir im Blick von links auf ihre Profile auf, haben die gleiche dreieckige Nase und die nussbraune Haarfarbe. Dicht, weich, nur bei Tonio verstreut auch ein paar weiße. Beide sind gut gekleidet, beide in Wollmänteln und immer wenn sie etwas Neues erzählt, von ihrem Studium oder der Wohnung, wirft Tonio ihr einen dieser Blicke zu. Ich weiß, dass er sie fürchterlich vermisst, dass er sogar sehr einsam ist – die ersten Wochen stand er bedenklich oft vor unserer Tür, hat ein paarmal auf dem Sofa übernachtet und Reik immer wieder überredet, mit ihm um die Häuser zu ziehen. Mittlerweile verschleppt er ihn nur noch in eine der aus den Neunzigern übriggebliebenen, miefigen Eckkneipen und da rauchen sie sich dann voll, oder sie hören Schallplatten im Wohnzimmer auf unserem Teppich. Sie mutieren entweder zu Teenagern oder schimpfen über die Jugend, als wären sie zweiundsiebzig. Ihrem Alter entsprechend benehmen sie sich eigentlich nie, wenn sie zusammen sind.
In der Weihnachtszeit kam er jeden Mittwoch. Und immer sprach er, sobald er genug getrunken hatte, nur noch von ihr. Was sie machte, was sie wollte, wo sie war. Er saugt alles auf, was sie ihm erzählt. Aber er würde ihr niemals gestehen, wie sehr sie ihm fehlt. In dem Moment fällt mir ein, dass ich Tonio gar nicht ohne seine Tochter kenne. Das erste Mal vorgestellt hatte Reik uns ’98, genauer gesagt an dem Morgen, nachdem ich das erste Mal in seinem versifften Studentenzimmer übernachtet hatte. Im schummrigen Licht war das alles noch romantisch gewesen, Kerzen in Weinflaschen und Kohlestifte und zerknülltes Papier. Ich hatte mich sogar sehr gern auf dem Boden dieses Zimmerchens ficken lassen, mit dem Blick auf die nackte Glühbirne, die flackerte. Hatte allerdings auch nicht viel mitbekommen von dem, was uns umgab, weil ich nur den fiebrigen schwarzhaarigen Jungen wahrnahm, der über mir kniete, meine Beine über seinen Schultern, mit halboffenem Lächeln und eingerissenen Mundwinkeln.
Am nächsten Morgen hatten mich Krümel im Rücken gestochen und natürlich hatten wir direkt noch einmal dort,...
Erscheint lt. Verlag | 28.8.2019 |
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Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Anspruchsvolle Literatur • Beziehungen • Deutscher Buchpreis • Ein Buch von S. Fischer • Entschleunigung • Harmonie • Homosexualitität • Japan • Krisenbewältigung • Kunsthandwerk • Land • Lebensweisheit • Longlist • Longlist Deutscher Buchpreis • Trost • Zen-Buddhismus |
ISBN-10 | 3-10-491112-6 / 3104911126 |
ISBN-13 | 978-3-10-491112-0 / 9783104911120 |
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