Keiths Probleme im Jenseits (eBook)
256 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-32025-1 (ISBN)
Linus Reichlin, geboren 1957, lebt als freier Schriftsteller in Berlin. Für sein Debüt Die Sehnsucht der Atome erhielt er 2009 den Deutschen Krimipreis. Der Roman Der Assistent der Sterne wurde zum 'Wissenschaftsbuch des Jahres 2010 (Sparte Unterhaltung)' gewählt. Es folgten die Romane Das Leuchten in der Ferne (2012), In einem anderen Leben (2014), Keiths Probleme im Jenseits (2019) und zuletzt Señor Herreras blühende Intuition (2021).
Linus Reichlin, geboren 1957, lebt als freier Schriftsteller in Berlin. Für sein Debüt Die Sehnsucht der Atome erhielt er 2009 den Deutschen Krimipreis. Der Roman Der Assistent der Sterne wurde zum "Wissenschaftsbuch des Jahres 2010 (Sparte Unterhaltung)" gewählt. Es folgten die Romane Das Leuchten in der Ferne (2012), In einem anderen Leben (2014), Keiths Probleme im Jenseits (2019) und zuletzt Señor Herreras blühende Intuition (2021).
Die schlechte Nachricht
Ich hatte Rebekka noch nie gesehen, und ich sagte ihr das auch. Sie sagte, du bist komisch, ist doch klar, dass wir uns noch nie gesehen haben, deswegen sitzen wir ja hier. Sie wollte in dieses Sushi-Restaurant, und ich dachte mir schon, dass das nichts wird, denn an Sushi passt mir nichts. Sie sagte, warum hast du mir das nicht vorher gesagt, dann hätte ich dich gar nicht gedatet. Sie sagte gedatet, dabei hatte ich in die Suchmaske unter Alter meines Wunschpartners 59 eingetragen, ich wollte eine gleichaltrige Frau für ein späteres Paarbegräbnis. Ich sagte Rebekka, dass ich Frauen nicht date, sondern sie manchmal nicht understande. Sie sagte wieder, dass ich komisch bin, und wenn sie es zweimal sagen, ist es aus, so viel verstehe ich von ihnen. Aber das Sushi war schon bestellt, und außerdem saßen am Nebentisch zwei Frauen, die mir gefielen, sie wirkten auf mich irgendwie gleichaltriger als Rebekka. Früher hätte ich sie spontan angesprochen, aber seit ich Frauen nur noch im Internet suche, brauche ich einen Bildschirm und einen Decknamen, um den ersten Schritt zu machen. Rebekka sagte, sie habe mit ihrem Mann ein halbes Jahr in Shanghai gelebt, deswegen liebe sie Sushi. Ich sagte, Sushi sei Japan, nicht China, und dann musste ich ihr zeigen, wie man mit Stäbchen isst. Sie hielt die Stäbchen in der Faust wie eine Brotzange. Sie sagte, sie habe es in Shanghai sehr gut gekonnt, jetzt aber vergessen, wie man’s macht. Ich sagte, mit Stäbchen essen sei wie Schwimmen: So was brennt sich einem ein. Sie fragte mich, ob ich wirklich Physiker sei, und ich sagte, das hätte ich nie behauptet.
Eine der Frauen am Nebentisch atmete plötzlich ein vor Schreck. Sie sagte, oh nein, Keith Richards ist gestorben! Sie hielt ihrer Freundin das Handy hin, und die sagte, oh nein, nicht er auch noch!
Das konnte aber nicht stimmen. Ich hatte nämlich gerade vor zwei Tagen noch ein aktuelles Interview mit Richards auf YouTube gesehen, CNN, und er hatte von der neuen Platte gesprochen, und dass er, wenn er nur eine Gitarre auf die Insel mitnehmen könnte, sich für seine Stratocaster entscheiden würde. Er sah da überhaupt nicht aus wie einer, der zwei Tage später tot ist.
Rebekka sagte, ihr Mann sei nach achtzehn Jahren Ehe nicht mehr derselbe gewesen wie als sie ihn kennenlernte, er habe sich zu einem Sadisten entwickelt. Ich sagte zu den Frauen, da haben Sie bestimmt was falsch verstanden. Keith Richards hat so vieles überlebt, der stirbt doch nicht einfach unangekündigt. Er ist vielleicht einfach nur wieder mal von einer Palme gefallen. Nein, nein, sagte die eine Frau, da, sehen Sie doch, er wurde tot aufgefunden, es steht auf Spiegel Online. Spiegel Online!, sagte ich. Ich habe früher den Spiegel jeden Montag auf meinem Sofa gelesen, ich habe Chips und Salami dazu gegessen, das war eine Tradition. Aber damals war der Spiegel auch noch eine Zeitung, für die es sich zu essen lohnte. Heute würde ich nicht mal mehr ein Salznüsschen dazu essen. Die andere Frau sagte, es steht auch auf FAZ Online. Es tut mir leid, dass es Ihnen so nahegeht. Aber für mich ist es auch ein Schock. Er war so ein einzigartiger Typ!
Mir geht es nicht nahe, sagte ich, nicht bevor das verifiziert ist. Rufen Sie mal CNN auf, ob es da auch steht!
Rebekka sagte, sag mal, bin ich eigentlich auch noch da? Also ich hab auf Parship ja schon viel Bescheuertes mit Männern erlebt, aber so was noch nicht! Ich sagte, klar bist du auch noch da, aber jetzt muss das erst mal geklärt werden. Es ist doch schon geklärt!, sagte eine der Frauen. Wir können nämlich lesen, auch wenn wir keine Bärte haben! Das hat er doch gar nicht so gemeint, Lea, sagte die andere, es geht ihm nur einfach nahe, mir ja auch.
Ich wusste einfach, dass es Fake News war, ich spürte es. Nein, danke, nicht nötig, sagte ich, als Lea mir ihr Handy hinhielt mit den Worten, da, CNN, die schreiben es auch. Ich hatte mein eigenes Handy im Auto liegen lassen, und ich wollte mich nicht auf das verlassen, was auf den Handys anderer stand. Ich wollte es mit eigenen Augen sehen, und ich war sicher, zwei Stunden später korrigierten sie es auf CNN mit dicken Buchstaben: Keith Richards still alive! Sorry!
Ich habe extra einen Babysitter bestellt, um mich mit dir zu treffen!, sagte Rebekka.
Keith Richards hat das Heroin überstanden, die Zigaretten, den Jack Daniel’s, er war schon immer ein bisschen tot gewesen, jahrzehntelang dachte man, dass er der Nächste ist – einen Babysitter? Du hast doch geschrieben, dass deine Kinder aus dem Haus sind, sagte ich zu Rebekka, und sie sagte, ach so, nein, ich meine mein Enkelkind, meine Tochter ist in New York, und ich passe auf Renesmee auf, und das tue ich auch gern, obwohl die Kleine gerade eine Phase durchmacht, in der sie Koliken hat.
Was war denn Ihr Lieblingssong der Stones?, fragte mich die andere Frau, die nicht Lea hieß. Aber ich war einfach noch nicht so weit. Ich wollte noch nicht von Lieblingssongs sprechen, ich wollte auf das Dementi von Keith Richards warten, I’m alive and kicking despite the rumours some women are spreading. Meiner war Wild Horses, sagte sie. Oder ist. Ich sage schon, war. Puh, das hat mir jetzt richtig den Appetit verschlagen!
Ich liebe Wild Horses, sagte ich, und ich werde es ihn spielen hören, wenn er das nächste Mal in Berlin auftritt. Das spüre ich einfach. Er wurde schon so oft totgesagt wie … Mir fiel kein Vergleich ein. Wie die Liebe, sagte ich, und Nicht-Lea lächelte mich schief an.
Ich sagte zu Rebekka, dass ich ehrlich sein wolle und sie im Moment nicht das Zentrum meines Interesses sei. Zu Nicht-Lea sagte ich, ich werde das jetzt überprüfen. Sie sagte, ja, mach das.
Ich setzte mich in mein Auto, wo ich mich immer wohlfühle, wenn es regnet oder sehr kalt ist, oder wenn ich mich mit einer Frau gestritten habe, dann fahre ich mit diesem Auto durch die Stadt und weine und denke, dass ich ein sehr empfindsamer Mann bin, der wegen jeder Kleinigkeit weint, und dass die Frau mich überhaupt nicht verdient hat, und das Beste ist die Musikanlage. Wenn ich weinend durch die Stadt fahre, höre ich mir On The Attack von Langhorne Slim and the Law an und freue mich darüber, dass diese Band ein Geheimtipp ist, den nur ich kenne, die Band spielt praktisch nur für mich. Wenn ich im Auto gerade nicht weine, höre ich mir regelmäßig die alten Stones-Platten an, Sticky Fingers, Bridges to Babylon, Goats Head Soup, und wenn es dann noch regnet oder sehr kalt ist, ist mein Glück vollkommen. Aber an jenem Tag war mein Auto keine Zuflucht, nicht, nachdem ich auf meinem Handy die Todesnachricht auf CNN gelesen hatte. Da stand in einer nicht zu überbietenden Deutlichkeit, dass Lea recht hatte: Er war tot. Die Nachricht war zu detailliert, um Fake News zu sein, ich wusste, es wird kein Dementi kommen. Höchste Instanzen waren davon überzeugt, dass Keith Richards tot war: Charlie Watts, Mick Jagger, Johnny Depp. Sie wurden alle zitiert, ihre Trauerworte zeugten von Erschütterung und Angst, Jagger wusste ja, dass die Stones damit erledigt waren. Ich saß in meinem Auto, und es begann zu regnen und wurde kalt, so als versuche das Auto, mich in die übliche behagliche Stimmung zu versetzen.
Keef is dead.
The Riffmaster died.
Michael Jackson, Prince, David Bowie, Leonard Cohen, Lou Reed: na gut, auch schlimm. Auch ein Verlust. Aber bei Keith war es etwas anderes: Keith hätte nicht sterben dürfen. Das war nicht nur ein Verlust, es war eine Epochenwende. Ich spürte: Von jetzt an stirbt jeder. Das war nur logisch, denn wenn er gestorben war, dann würden wir erst recht sterben, die ganze verdammte Generation. Es war kein Verlust, es war die Ouvertüre zum großen Verschwinden.
Aber solche Überlegungen machte ich mir damals gar nicht, damals saß ich einfach nur in meinem Auto und war erschüttert. Ich schaute mir auf dem Handy Fotos von ihm an, dieses breite Grinsen zwischen zwei großen Ohren, diese Faltenpracht, die man sonst nur bei frisch geborenen Babys nach ihrer Reise durch den Geburtskanal sieht, diese Hüte, die nur er tragen konnte, diese Schals in den jamaikanischen Nationalfarben, diese Zigaretten, diese Whiskey-Flaschen, diese knotigen Finger mit den kurzen, breit gedrückten Kuppen, unglaublich muskulöse Finger, die sechzig Jahre lang auf dem Griffbrett unterwegs gewesen waren, und das alles lag jetzt in irgendeinem Behälter. Die organischen Moleküle begannen allmählich zu merken, dass der Nachschub ausblieb, es fiel ihnen immer schwerer, sich aneinander festzuhalten, schon löste sich das erste Molekül von seinen Nachbarn und trieb allein und sinnlos in der Suppe herum. Der Tod ist ein Phänomen der molekulären Ebene, auf der ging es bei Richards jetzt zu wie in einem Zuckerwürfel, den man ins Wasser legt. Vielleicht habe ich mich aus diesem Grund vor vielen Jahren für die subatomare Ebene entschieden, auf der der Tod völlig unbekannt ist, ein Elektron hat eine Lebensdauer von sechsundsechzig Quadrillionen Jahren – nur ein Pedant würde das nicht als unsterblich durchgehen lassen. Keith Richards’ Quarks und Elektronen machten alle weiter wie bisher, egal ob in einer Urne oder einem Zinksarg, das scherte sie überhaupt nicht. Sie waren quicklebendig, aber wenn ich das meinen Schülern jeweils bei den Vorträgen erzähle, tröstet es sie überhaupt nicht, sie sagen, Kann schon sein, aber mein Opa war für mich mehr als ein Elektron.
Ich fuhr nach Hause, und in...
Erscheint lt. Verlag | 22.8.2019 |
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Verlagsort | Köln |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Insel • Jenseits • Karibik • Keith Richards • Mick Jagger • Musik • Philosophie • Rock'n'Roll • Rolling Stones • Unsterblichkeit • Wahrscheinlichkeit |
ISBN-10 | 3-462-32025-4 / 3462320254 |
ISBN-13 | 978-3-462-32025-1 / 9783462320251 |
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