Solange es leicht ist (eBook)
224 Seiten
Verlagsgruppe Droemer Knaur
978-3-426-45435-0 (ISBN)
Herman van Veen, geboren 1945, wuchs in Utrecht auf, wo er auch das Konservatorium besuchte. 1965 feierte er mit dem Soloprogramm 'Harlekin, niemands Knecht, niemands Herr' sein Theaterdebüt. Seitdem reist er mit seinen Vorstellungen um die Welt. Von seiner Hand entstanden bis heute 180 CDs, 80 Bücher und ca. 500 Gemälde. Sowohl für sein künstlerisches Werk als auch für seinen Einsatz für den Frieden wurde er mehrfach ausgezeichnet, darunter mit dem Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland. Herman van Veen ist Vater von vier Kindern und der Waisenente Alfred Jodokus Kwak. Er hat drei Enkel und lebt bei Utrecht.
Herman van Veen, geboren 1945, wuchs in Utrecht auf, wo er auch das Konservatorium besuchte. 1965 feierte er mit dem Soloprogramm "Harlekin, niemands Knecht, niemands Herr" sein Theaterdebüt. Seitdem reist er mit seinen Vorstellungen um die Welt. Von seiner Hand entstanden bis heute 180 CDs, 80 Bücher und ca. 500 Gemälde. Sowohl für sein künstlerisches Werk als auch für seinen Einsatz für den Frieden wurde er mehrfach ausgezeichnet, darunter mit dem Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland. Herman van Veen ist Vater von vier Kindern und der Waisenente Alfred Jodokus Kwak. Er hat drei Enkel und lebt bei Utrecht.
Es liegt in der Familie
Opa, eine Seele von einem Menschen, Handlungsvertreter in Sachen Gott. Ein Mann, der keiner Fliege etwas zuleide getan hatte. Stand da ganz außer sich vor Wut, nur in einer Unterhose, mit seinen großen Predigerhänden um den Nacken einer schreienden Frau, und war dabei, sie zu würgen. Man sah seine Schläfen pulsieren, seine Augen rollten wild. Mit seinem schiefen Mund schrie er, wie mir später klar wurde, in fließendem Französisch, wobei Opa nie zuvor ein einziges Wort jenseits der Grenze gesprochen hatte, dass die Frau in seinen Händen, ein Unglücksweib, eine Verräterin war, die den Galgen verdiente. Er hätte die Hexe auf frischer Tat ertappt, beim Mischen von dem Gift, mit dem sie ihn, Philippe de Bourbon, Herzog von Orléans, töten wollte. Beim Anblick dieses Dramas musste ich plötzlich an die Puppenkiste von Jan Klaassen und Katrijn denken. Der Kopf der Frau über den Händen meines Opas sah aus wie ein weiß bemalter Holzklotz. Schwarze Augenränder, starrer Blick. Ihr jetzt sprachloser, aufgerissener, knallroter Mund war nicht in der Lage, uns, ihre Lieben, anzurufen. Meiner Meinung nach war sie schon tot. Opas blutleere Hände klemmten wie Schraubstöcke an ihrem Hals. Alles ging so schnell. Wir kamen hinein, mein Vater und ich, mit einem kleinen Blumenstrauß vom Bauern und einer Tüte mit von meiner Mutter gebackenen Keksen, zu Besuch bei Opa, dem Vater meines Vaters. Er hatte in der Woche zuvor einen Schlaganfall erlitten, was zur Folge hatte, dass er durch eine Schädigung in der rechten Hirnhälfte links halbseitig gelähmt war. Er wurde eingeliefert in ein Pflegeheim an der Plompetorengracht in Utrecht. Papa hatte noch gesagt: »Krieg keinen Schreck, wenn du ihn siehst, da ist etwas durcheinandergeraten, einige elastische Bänder haben sich gelöst. Und er spricht kein Niederländisch mehr, das hat er verloren. Opa spricht jetzt Französisch.« Darüber musste ich lachen. »Ja, älter werden und so ein Schlaganfall, es liegt in der Familie«, murmelte er.
Mein Vater und ich standen wie festgenagelt in der Türöffnung. Als Papa den Schock überwunden hatte, rannte er ins Zimmer und versuchte mit seiner ganzen Kraft, Opas Hände loszurütteln. Das ging nicht. Sein Vater war ein fast zwei Meter großer Riese. Papa zerrte und zog so sehr, dass Opa mit seinem Opfer nach hinten umfiel und dabei einen kleinen Tisch mit einem großen gläsernen Lampenschirm mitnahm. Das Glas zersprang, die Lampe lag in Scherben. »Merde«, rief Opa.
Um mich herum tauchten still, wie Zombies aus dem Nichts, betagte Menschen auf, in Pyjamas, kurzen Morgenmänteln, einige waren nackt, andere trugen Filzpantoffeln. Ich wusste gar nicht, dass es so viele verschiedene Pimmel gab. Ein ganz dicker Mann hatte einen wie einen Knopf und ein ganz dünner Mann einen langen schlaffen mit einem kleinen Schnabel. Niemand schien erstaunt, niemand tat etwas. Das Einzige, was sich regte, war die Träne auf der Wange einer schönen alten indonesischen Frau in einem Morgenrock aus nachtblauer Seide. Neben sie stellte sich ein stockalter Mitbewohner mit einer Zahnbürste, die wie eine Zigarette in seinem Mund hing. Mir verschlug es den Atem. Jetzt kam ein Typ in einem weißen Kittel hereingestürmt, der sich der Sache annahm. In ihm erkannte ich den Untermieter, der bei uns gegenüber wohnte, meine Mutter nannte ihn den ewigen Studenten. »Herr van Veen, aufhören, aufhören!«, schrie er. Es war nicht klar, welchen Herrn van Veen er meinte. Es gelang dem Mann durch sein Gebrüll, Opas Hände zu lösen. Der Kopf der Frau sackte schräg auf ihre Brust, Speichel lief aus ihrem Mund. Mein Vater hielt währenddessen Opa in Schach, das Einzige, was mein Großvater noch schaffte, war, in die Hose zu pinkeln. Ich fragte mich, ob »Urin« auf Französisch dasselbe bedeutet. Gebannt schaute ich auf den langsam größer werdenden gelben Fleck in seiner schlabbrigen Unterhose, während der Mann im weißen Kittel anfing, Erste Hilfe zu leisten. Er hielt der Frau die Nase zu und blies in ihren Mund, drückte abwechselnd auf ihre Brust. Es dauerte ewig, bis Frau de Witt, die Leiterin des Pflegeheims, wieder bei Sinnen war.
Während der Reanimation bezichtigte mein Großvater, jetzt wieder auf Niederländisch, seinen Sohn des versuchten Vatermordes. »Du sollst Vater und Mutter ehren«, schrie er mit Schaum vor dem Mund meinen sichtlich betroffenen Vater an. Eine Frau legte mir eine Hand auf den Arm. »Komm junger Mann, wir gehen in den Flur.« Während sie die Tür hinter uns zumachte und ich meinen Opa von Gottes Strafe brüllen hörte, dachte ich an den Satz, den mein Vater en passant sagte: »Es liegt in der Familie.«
»Herman, aufwachen, Junge, du musst in die Schule. Hast du geträumt?«, fragte meine Mutter, während sie mir die Bettdecke wegzog. »Mama, ich träumte, dass Opa die Frau vom Altersheim ermorden wollte.« »Opa? Opa kann schon mal schreien und mit seinem Spazierstock auf den Tisch hauen, aber versuchen, jemanden zu ermorden, nie im Leben.« »Mama? Papa sagt, dass es in der Familie liegt.« »Was?«, fragte meine Mutter. »Schlaganfälle und dass man wie Opa plötzlich Französisch spricht.« Meine Mutter zog die Augenbrauen hoch, legte ihre Hand auf meinen Arm und sagte: »Weißt du, Männlein, ehrlich gesagt, würde ich das toll finden, denn dann könnte ich verstehen, was die Edith Piaf so alles an schönen Worten singt.«
Zweiundsechzig Jahre danach sitze ich in einem knallvollen Thalys auf dem Weg nach Hause.
Ich war beruflich in Paris, habe das dreihundert Jahre alte Théâtre du Gymnase Marie-Bell besucht, wo wir mit unserer Vorstellung »Sauter ou tomber«, »Fallen oder Springen«, auftreten werden. Ein Grund der Reise war auch, nachzuschauen, ob es da für meine Malereien passende Wände gibt. Die gab es aber nicht. An jeder Wand war eine Tür, hing eine Lampe, wohnte eine Steckdose oder stand etwas davor, das nicht umgestellt werden durfte. Die wenigen übrig gebliebenen Wände, die geeignet schienen, waren Spiegelwände oder hingen voll mit Kleiderhaken vor der Garderobe.
Rase mit ungefähr dreihundert Kilometern pro Stunde durch das flache nordfranzösische Land. Gedanken strömen durch meinen Kopf.
Neben mir im Zug sitzt eine Familie, Vater, Mutter, Kinder, alle online. Mir gegenüber meine Frau, offline. Sie ist eingenickt, ihr Kopf pendelt hin und her im Rhythmus des Schnellzugs. Auf meinem Schoß liegt ein orangefarbenes Notizbuch voller Einträge über das kleine Werk, das Sie jetzt lesen. Habe dem Verleger versprochen, das Manuskript Ende August zu liefern. Denke, während der Schaffner mein digitales Ticket überprüft, an einen Satz aus einem Gedicht des flämischen Autors Bart Moeyaert, durch dessen Land wir gleich fahren werden.
Du brauchst einen Platz, einen Plan, einen Plot und
dazwischen
ein paar Worte.
Ich sehe eine Sekunde lang ein Verkehrsschild, auf dem Orléans steht. Der Name der Stadt, in der mein Opa einst der Herzog war.
Hinter mir im Zug sitzt ein Franzose und hustet mir in den Nacken. Las neulich in einer Nachrichten-App, dass die Kombination von Kälte und Grippeepidemie allein in der letzten Woche des Februars 3887 Menschen das Leben gekostet hat, das ist die höchste Anzahl von Sterbefällen innerhalb einer Woche seit Beginn der Statistik. An der Grippe erkranken Ältere, und viele von ihnen bekommen als Komplikation bei der Grippe auch noch eine Lungenentzündung, durch die sie sterben können. Die hohe Todesrate wird sich bestimmt auf die Lebenserwartungsstatistiken auswirken. Unser Rentenalter wird nicht weiter steigen.
Ich bin froh, dass ich noch nicht alt bin, aber ich könnte mit meinen zweiundsiebzig der nächste Grippefall werden, infiziert von einer französischen Variante dank eines hustenden Mitreisenden. Hoffentlich werde ich nicht der Todesfall 3888.
Der Zug fährt langsamer, keine Haltestelle weit und breit. Er hält mitten in der Pampa, warum? Ein Reh auf den Gleisen? Ein hoffnungsloser Mann, der dachte, elf Milliarden Menschen auf der Welt, das reicht doch, ich mach ein bisschen Platz? Anscheinend ein umgewehter Baum. Glücklicherweise. Ziehe das Rollo am Zugfenster runter und denke, an einem Tag kommt man mit dem Fahrrad von hier an die Küste.
Tief hängende dunkle Haufenwolken ziehen vorbei. Hier regnet es immer, und wenn es nicht regnet, dann beginnt es zu regnen. Eine Sonnenbrille ist hier überflüssig.
Nirgendwo ist es westlicher als dort in Flandern, denke ich. Nirgendwo ist es windiger, weiden die Weiden so und rosen die Rosen roter. Die Häuser stehen da mit dem Po zum Meer.
Nirgendwo warten geduldiger, in endlosen Reihen, in passendem Abstand, die unzähligen weißen Kreuze.
Der Boden hält noch Bomben fest. Manchmal wird von einem spielenden Kind eine gefunden, die dann wie einst im Krieg explodiert. Da steht noch ein Baum, einer seiner Äste hielt einst das Tau eines Soldaten, der sich für sein eigenes Ende entschied. Da liegt ein flacher Stein, er trägt den Namen eines aus Gehorsam und blinder Pflicht nicht gelebten Lebens. Der flache Stein weiß nichts davon. Und in der Ferne warten noch immer das Meer und Wolken, aus denen auch damals der Regen fiel, während hinter ihnen eine Sonne erschien. Und was auch immer an Unbeschreiblichem geschah, die Vögel sangen einfach weiter.
Wenig später fährt der Zug hinter den Häuserfassaden her in das große Brüssel ein.
Schräg gegenüber von mir suchen zwei Frauen ihre Plätze. Die jüngere fragt:...
Erscheint lt. Verlag | 26.4.2019 |
---|---|
Übersetzer | Thomas Woitkewitsch |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Alter • Altern • Älter werden • Älterwerden • Autobiografie Musiker • Autobiografien berühmter Persönlichkeiten • Autobiographie Musiker • Autobiographie Prominente • Autobiographisch • Biografie Musiker • biografien berühmter persönlichkeiten • Biographien berühmter Persönlichkeiten • Bücher von Promis • Entertainer • Erfahrungen und wahre Geschichten • Falten • Geschenk 70. Geburtstag • geschenk großvater • Geschenk Opa • Geschenk Rentner • Geschenk Ruhestand • Herman van Veen • Holland • Holländisch • Lebenserinnerungen • Lebensgeschichte • Liedermacher • Musik Biographien • Musiker • Musiker Autobiographie • musiker biografien • Musikerbiografien • Mutmachbuch • Mut machen • Niederlande • Niederländisch • Rente • Renteneintritt Geschenk • Rentner • Ruhestand • ruhestand geschenk • Sänger • Sterben • Tod • wahre Begebenheit Buch • wahre geschichten bücher • Zweite Lebenshälfte |
ISBN-10 | 3-426-45435-1 / 3426454351 |
ISBN-13 | 978-3-426-45435-0 / 9783426454350 |
Informationen gemäß Produktsicherheitsverordnung (GPSR) | |
Haben Sie eine Frage zum Produkt? |
Größe: 3,6 MB
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich