Dennis E. Taylor war früher Programmierer und arbeitete nachts an seinen Romanen. Mit »Ich bin viele«, dem Auftakt seiner BOBIVERSE-Reihe, gelang ihm schließlich der Durchbruch, sodass er sich nun ganz dem Schreiben widmen kann.
4
Aufbruch
Und wieder keine Fenster. Allmählich bezweifelte Ivan, dass er jemals etwas von der Action mitbekommen würde. Wer immer Raumschiffe entwarf, schien nicht zu begreifen, worum es dabei ging.
Die kleine Fähre war mit der Mannschaft der Mad Astra bis zum letzten Platz besetzt. Die Brückencrew war bereits an Bord der Astra und erledigte dort alle Startvorbereitungen, um die sich echte Astronauten kümmern mussten. Im Gegensatz zum Weltraumshuttle, das ein auf Hochglanz poliertes Schiff mit geschmackvoller Innenausstattung gewesen war, wirkten die im Umfeld der Olympus-Station verkehrenden Fähren eher wie zusammengeschweißte Gokarts. Die Sitze erinnerten an Strandstühle, und die Einrichtung bestand größtenteils aus nacktem Metall.
Angesichts der hohen Anlegegebühren hatte sich der Captain der Mad Astra für eine Halte-Bake im vorgeschriebenen Abstand zur Station entschieden. Damit sparten sie mehr ein, als die Fährflüge für die Besatzung kosteten.
Seth reagierte auf Ivans enttäuschtes Gemurmel. »Auf der Astra wirst du mehr sehen. Shuttles und Fähren sind so zweckmäßig wie möglich konstruiert. Langstreckenschiffe müssen dagegen ein bisschen mehr an die Bedürfnisse der Menschen angepasst sein.«
»Sag mal, du scheinst ja viel darüber zu wissen. Bist du etwa der Schiffspsychiater oder so was in der Art?«
Seth lachte. »Ja klar, das bin ich. Deswegen werde ich auch so fürstlich bezahlt.« Er machte es sich auf seinem Sitz bequem. »Auf dem Schiff haben wir viel Freizeit. Ich nehme mir zum Spaß immer etwas zum Lesen und Filme mit. Ich kann dir was leihen, wenn dir deine Pornos ausgehen.«
Ivan kicherte. Dann dachte er an die Sticks in seinem Gepäck, die komplett mit Fernlehrgängen in Computerwissenschaften, Astronomie und Physik und dem dazugehörigen Referenzmaterial bespielt waren. Er war erleichtert, dass er damit nicht der absolute Außenseiter sein würde. »Danke, ich habe was zum Lernen dabei. Ich mache ein paar Kurse und freue mich schon auf die freie Zeit.«
Tennison Davies reckte den Kopf über seine Rückenlehne. »Aber vergiss nicht, dass du dich unterwegs um die Hydrokulturen kümmern musst. Ich und die Jungs wollen unser Futter haben.«
»Danke, Tex, ich werde den Trog immer gut für dich füllen.«
Seth lachte laut auf, und ein paar von Tennisons Freunden kicherten. Tennison wurde rot und sah einen Moment lang wütend aus. Doch dann grinste er Ivan an. »Touché, Sprössling. Aber behandle diese Pflanzen gut, hörst du?«
Seth stieß Ivan mit dem Ellbogen an. »He, wieso fragst du Tenn nicht, wer das einzige Mannschaftsmitglied ist, das es geschafft hat, abgepackte Fertiggerichte falsch zuzubereiten?«
Tennison tat, als würde er sich lautlos über Seths Bemerkung totlachen, und setzte sich wieder hin.
»Die Anflugmanöver beginnen in fünfzehn Sekunden.«
Nach dieser Durchsage lehnten sich alle auf ihren Beschleunigungsliegen zurück und überprüften, ob sie auch gut angeschnallt waren. Ein paar Minuten lang mussten sie die üblichen Raketenschübe und unberechenbaren Zuckungen der Fähre erdulden, bis schließlich ein letztes Klonk ertönte.
Dann erfolgte eine erneute Durchsage. »Anlegemanöver beendet. Im Namen von Captain Crash und der überlebenden Crew danken wir Ihnen, dass sie mit Mad Dog Airways geflogen sind. Sämtliche Hühner an Bord verbleiben im Besitz der Fluggesellschaft. Stolpern Sie auf dem Weg nach draußen nicht über den Betrunkenen. Wir wünschen Ihnen einen guten Weiterflug.«
Ivan und Seth lachten.
»Eine Fähre zu fliegen ist vermutlich ein bisschen langweilig«, sagte Seth.
Ivan verfolgte auf dem Monitor, wie die Olympus-Station langsam hinter ihnen zurückfiel. Die Mad Astra beschleunigte nur mit einem zehntel g, aber diesen Schub konnte sie stundenlang aufrechterhalten. Da während der Beschleunigungsphase nur entlang der Schiffsachse Schwerkraft herrschte, würde sich die Mannschaft so lange in den dortigen Quartieren aufhalten. Der Captain hatte gesagt, dass sie vier Stunden lang beschleunigen würden. Danach wollten sie den Antrieb abschalten, den Wohnring des Schiffes in Rotation versetzen und sich fast den gesamten restlichen Weg bis zum Ziel treiben lassen. Der Flug sollte ungefähr drei Wochen dauern.
Derweil würde die Crew im Mannschaftsraum in der Achse zusammenbleiben. Da der Raum am Beschleunigungsvektor des Schiffes ausgerichtet war, konnten sie darin ihre Tätigkeiten in künstlicher Schwerkraft verrichten. Er bot die gleichen Annehmlichkeiten wie der Mannschaftsraum im Wohnring: eine Kaffeemaschine nebst anderen Getränkespendern, einen automatischen Geschirrspüler, Essenspakete und eine Heizeinheit sowie Tisch-Bank-Kombinationen zum Hinsetzen. Wie in allen Räumen des Schiffs war auch hier die Deckenfarbe heller als der Teppichboden, um ein Gefühl von oben und unten zu erzeugen.
Der Erste Maat Dante Aiello trat ein. In der geringen Schwerkraft sah er wie eine Traumgestalt aus, die mit jedem Schritt sechs Meter zurücklegte. Er war ein teigiger Mann mittleren Alters, der immer ein wenig wirkte, als würde er aus dem Universum nicht recht schlau.
Er sah sich um. Seine Lippen bewegten sich, während er leise zählte. Zufrieden, dass alle da waren, berührte er das Display seines Tablets.
»Okay, dann zur Aufgabenverteilung. Pritchard, Geiger und Todd – ihr inspiziert die Ladung. Bewegt eure Ärsche, wir haben nicht viel Zeit, bevor die Rotation beginnt.«
Ivan und die beiden anderen sprangen auf – Ivan mit zu viel Schwung, sodass er sich zur allgemeinen Belustigung von der Decke abstoßen musste. Dann machten sie sich auf den Weg zum Frachtbereich. Als sie den Mannschaftsraum verließen, hörte Ivan noch, wie Aiello weitere Jobs vergab.
Ein paar Tage später gab es immer noch viel zu tun. Immerhin hatte Ivan heute eine etwas anspruchsvollere Aufgabe übertragen bekommen, während die Crew die Schürfroboter auspackte, sie untersuchte und hochfuhr.
Die heutige Schicht war besonders für diejenigen anstrengend gewesen, die nicht an kleinteilige Arbeiten gewöhnt waren. Die Schürfroboter auszupacken und einen Testlauf mit ihnen durchzuführen war eine heikle und kleinschrittige Aufgabe, bei der man lange Zeit in einer verkrampften Position ausharren musste, während man mit Instrumenten, die an Spielzeuge erinnerten, immer wieder minimale Feinjustierungen vornahm. Eine gute Arbeit für kleine Feen.
Stöhnend lehnte sich Seth zurück, bis einer seiner Rückenwirbel hörbar knackte. Anschließend ließ er die Schultern kreisen und seufzte, sichtlich zufrieden mit der erfolgreichen chiropraktischen Eigentherapie.
Ivan schüttelte sich theatralisch. »Oh Mann, Seth, das Geräusch war ja kaum zu ertragen.«
»Entschuldige. Mein Rücken wird immer schlimmer. Lorenza und ihre dämlichen Schürfroboter …«
»Spar dir dein Gewinsel«, warf Tenn ein. »Ich habe Touren erlebt, bei denen die Roboter nicht funktioniert haben und wir alles händisch erledigen mussten. Ein bisschen Arbeit mit dem Schraubenzieher ist nichts dagegen.«
Davies schien es nicht auf Ivan abgesehen zu haben, zumindest im Moment. Vielleicht, weil der gerade an den Robotern arbeitete und einen Job, der normalerweise zwei bis drei Tage in Anspruch nahm, in knapp vier Stunden erledigen musste. Gegen Ende hatte Lorenza sich fast gar nicht mehr über Ivans »mangelnde Unterstützung« beklagt. Er grinste. Es war ein tolles Gefühl, der Held zu sein.
»Heute Nacht werde ich schlafen wie ein Baby«, sagte er, während sie sich nach der Dusche abtrockneten und anzogen.
»Dass deine Unterkunft so eng ist, macht dir gar nichts aus?«
Ivan sah Davies fragend an. »Wieso sollte mich das stören? Verglichen mit den Bauen finde ich sie geradezu luxuriös.«
Tenn lachte. »Ja, mag sein, aber wir hatten ein paar Fälle von Klaustrophobie. Wenn du mitten in der Nacht im Dunkeln aufwachst – bei niedriger Schwerkraft und mit Wänden um dich herum –, kann es sein, dass du Angst bekommst, bevor sich dein Gehirn einschaltet. Dann schreist du vor Panik und weckst uns alle auf. Und wir müssen dann aufstehen und dir erklären, was wir davon halten.« Er sah Ivan vielsagend an. »Habe ich mich verständlich ausgedrückt?«
Ivan grinste den wesentlich größeren Mann an. »Nachts nicht schreien. Kapiert.«
Ein paar der anderen Mannschaftsmitglieder hatten zugehört und lachten. Davies zog die Augenbrauen hoch, ersparte sich aber weitere Kommentare.
»Um 13:20 Uhr versammelt sich die gesamte Besatzung im Gemeinschaftsraum.« Alle sahen zur Lautsprecheranlage hinauf.
»Das ist, äh, ziemlich ungewöhnlich. Dann machen wir mal schnell.« Seth warf sein Handtuch in den Wäschekorb, und die anderen Besatzungsmitglieder folgten seinem Beispiel. Der Wäsche-Mech hob die Handtücher vom Boden auf und bedachte jeden einzelnen von ihnen mit einem vorwurfsvollen Blick. Aspasia warf ihr Handtuch direkt auf ihn und grinste über den stummen Tadel, den sie sich damit einhandelte.
Sie zogen sich alle das Standard-Schiffsoutfit an, das aus einem T-Shirt, Shorts und Schlappen bestand, und gingen zum Mannschaftsraum. Der Wohnring auf der Mad Astra war mit seinen hundert Metern Durchmesser wesentlich kleiner als der Ring der Raumstation. Dadurch stach die Biegung des Bodens selbst auf der äußersten Ebene wesentlich mehr ins Auge, und auch die Corioliskräfte spielten eine größere Rolle. Während sie in Drehrichtung gingen, nahm ihr Gewicht merklich zu, da ihr eigenes Lauftempo zur...
Erscheint lt. Verlag | 10.2.2020 |
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Übersetzer | Urban Hofstetter |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | The Singularity Trap |
Themenwelt | Literatur ► Fantasy / Science Fiction ► Science Fiction |
Schlagworte | Asteroidenbergbau • Bobiverse • eBooks • Ich bin viele • Künstliche Intelligenz • Raumschiffe • Sternen-Abenteuer • Weltraumschlachten |
ISBN-10 | 3-641-22391-1 / 3641223911 |
ISBN-13 | 978-3-641-22391-5 / 9783641223915 |
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