Hera Lind studierte Germanistik, Musik und Theologie und war Sängerin, bevor sie mit zahlreichen Romanen sensationellen Erfolg hatte. Seit einigen Jahren schreibt sie ausschließlich Tatsachenromane, ein Genre, das zu ihrem Markenzeichen geworden ist. Mit diesen Romanen erobert sie immer wieder die SPIEGEL-Bestsellerliste. Hera Lind lebt mit ihrem Mann in Salzburg, wo sie auch gemeinsam Schreibseminare geben.
1
Eine ostdeutsche Kleinstadt,
nennen wir sie Thalheim, März 1981
»Nebenan war wohl jemand nicht so beliebt. Das sind ja nur Plastikblumen.« Mit einem Seitenblick auf das Grab rechts von uns bückte sich meine Schwiegermutter und schob einen der prächtigen Kränze in die Mitte der überbordenden Blumenpracht auf dem Grab meines Mannes. Hundert dunkelrote Rosen sprengten den Rahmen dessen, was bei einer Beerdigung hier in der DDR so üblich war. Sorgfältig drapierte Christa die weißen Bänder mit goldener Schrift über dem frisch aufgeschütteten Grabhügel ihres Sohnes. Andächtig las sie vor:
»Ein letzter Gruß zum Abschied.
Deine Frau Carina und die Kinder
Maximilian, Sabine und Tommi«
Obwohl wir ihren Sohn gerade erst beerdigt hatten, lag auch ein Hauch von Stolz in ihrer Stimme.
»Bei Manfred hieß es eben ›Nicht kleckern, sondern klotzen‹.« Sie blinzelte eine Träne weg.
Ich sah den letzten Beerdigungsgästen nach, die den Friedhof verließen. Es waren Hunderte gewesen: Parteigenossen, Freunde, Nachbarn, Ärzte, Krankenschwestern – alle, die ihm während seiner schweren Krankheit beigestanden hatten.
»Es ist schön, dass du es einrichten konntest, Christa.« Liebevoll sah ich meine Schwiegermutter an, die es sich nicht hatte nehmen lassen, für die Beerdigung ihres älteren Sohnes aus dem Westen anzureisen. »Wie schade, dass Georg nicht mitkommen konnte.« Georg war Manfreds jüngerer Bruder, den ich noch nie gesehen hatte. Wahrscheinlich würde ich ihn auch nie kennenlernen, schließlich stand die Mauer zwischen uns.
Christa seufzte. »Er hat keine Einreisegenehmigung bekommen. Du weißt ja, er arbeitet bei einem namhaften Autohersteller der BRD.«
»Ich weiß. Bei Volkswagen in Wolfsburg. Von so etwas können wir hier nur träumen.«
Schweigend standen wir eine Weile am Grab, Schulter an Schulter.
»Wie kommst du jetzt klar, Carina?« Christa wischte sich die Augenwinkel. »Und wie wird es mit den Kindern weitergehen?«
»Wir werden es schon irgendwie schaffen.« Neben aller Trauer und Beklommenheit machte sich auch Erleichterung in mir breit. »Die letzten zwei Jahre seiner Krankheit waren die schwersten meines Lebens.«
»Das kann ich mir vorstellen.« Christa sah mich mit rot geweinten Augen an. »Du warst immer so ein fröhlicher Mensch, aber nach diesem schweren Schicksalsschlag … Dabei bist du erst sechsunddreißig!« Sie drückte mir den Arm und lächelte unter Tränen. »Danke für alles, was du für meinen Sohn getan hast!«
»Das war doch selbstverständlich!« Noch einmal warfen wir einen Blick auf sein Grab, das so auffallend prächtig war, dass das daneben tatsächlich fast schmucklos wirkte.
Ich straffte die Schultern und atmete tief durch. »Leb wohl, Manfred.«
Manfred war Parteimitglied gewesen. In der Firma, in der ich als Sachbearbeiterin beschäftigt war, war er mein Chef gewesen, anfangs noch mein heimlicher Geliebter, dann mein rechtmäßiger Ehemann und sechzehn Jahre älter als ich. Das war zunächst unfassbar aufregend, andererseits hatte er mich im Laufe unserer achtzehnjährigen Ehe immer nur wie ein kleines Mädchen behandelt. Er war der Vorgesetzte, ich seine Untergebene und später die Kinder seine Befehlsempfänger. Die Krankheit hatte ihn hart und unerbittlich gemacht – und die Kinder und mich mürbe. Schließlich: ein Herzinfarkt und zwei Schlaganfälle mit bleibenden Folgen. Meine Familie hatte diese Ehe nie befürwortet, meine Eltern waren noch nicht mal zu unserer Hochzeit gekommen. Ich seufzte laut.
Es war vorbei. Von nun an würde ich mein Leben wieder selbst in die Hand nehmen.
Langsam verließen Christa und ich den Friedhof. Mit meinem Trabi fuhren wir zu unserer alten Villa am Rande der Kleinstadt, wo die Trauergäste bereits mit den Kindern warteten.
»Es war wirklich eine schöne Trauerfeier. Am meisten hat mich beeindruckt, dass alle Blumen und Kränze echt waren.« Während wir über das Kopfsteinpflaster knatterten, klammerte sich Christa krampfhaft an die Halteschlaufe. Sie schien Angst zu haben, dass der Trabi gleich auseinanderfiel.
Fast musste ich lachen. »Was hast du denn gedacht? Dass sie aus Plaste seien?«
»Na ja, in der DDR ist ja wirklich manches eher schäbig …« Mit einem Blick auf die schmucklosen Häuser fiel sie in verlegenes Schweigen.
»Wir haben immer gut gelebt«, verteidigte ich mich. »Aufgrund von Manfreds politischer Position hat es uns an nichts gefehlt. Er hat sich hier wohlgefühlt, und ich hatte immer so eine positive Einstellung zum Leben, dass mich selbst Plastikblumen nicht unglücklich gemacht hätten!«
Christa schien sich ihrer Vorurteile zu schämen. Schnell wechselte sie das Thema.
»Der Gefangenenchor aus Nabucco, das war sehr … würdevoll.« Sie räusperte sich. »Verdi vom Tonband abzuspielen … War das deine Idee?«
»Ich fand es angemessen. Bei den vielen Menschen in der Trauerhalle.« Ich lächelte schwach. »Du nicht?«
Christa suchte zögernd nach Worten.
»Na ja, ich hätte etwas Christliches erwartet, aber das wäre wohl nicht so passend gewesen?« Mit der freien Hand presste sie die Handtasche an sich. »Andererseits …« Ihre Stimme schwankte. »Manfred war mal so ein frommer Junge! Wir waren ja alle sehr katholisch in Oberschlesien. Ich sehe ihn noch vor mir, an seiner ersten Heiligen Kommunion. Und kurz nach dem Krieg, als wir nach Niedersachsen geflüchtet waren … Ach, das war nicht leicht, die beiden Jungs ohne Vater aufzuziehen.« Sie ließ den Taschenbügel aufschnappen und suchte nach einem Taschentuch. »Mein Mann ist ja im Krieg gefallen, ich war noch früher Witwe als du, und mir hat der Glaube immer Trost und Kraft gegeben. Auch Manfred und Georg fanden Halt in der Kirche. Sie waren Messdiener, bekamen so Struktur und Ordnung und klare Moralvorstellungen nahegebracht.«
Wir hielten vor einer roten Ampel. Ich sah sie von der Seite an und legte die Hand auf ihre.
»Ich weiß, Christa. Aber mit seinem Umzug in die damals neu gegründete DDR hat sich das ja für Manfred erledigt.«
Manfred war von Niedersachsen, wo Christa bereits eine Ausbildungsstelle bei der Polizei für ihn besorgt hatte, spontan mit einem Freund in die gerade neu gegründete DDR gefahren, um dort beim Aufbau zu helfen. Die beiden jungen Männer wurden begeisterte Kommunisten und kehrten nicht mehr in den Westen zurück.
In Thalheim bekam der engagierte Manfred die Möglichkeit, eine Ausbildung im Hochofenbetrieb zu machen und später zu studieren, schon bald arbeitete er als Ingenieur im Hüttenkombinat, trat in die SED ein und konnte so eine Bilderbuchkarriere beginnen. Wie sehr Christa und der kleine Georg, der damals erst zehn war, darunter litten, nun auch noch ihn verloren zu haben, war ihm nicht bewusst. Er hatte den Krieg und die Nachkriegszeit hautnah erlebt und war ganz beseelt von dem Gedanken, einen neuen sozialistischen Staat mitzugestalten. Religion? Fehlanzeige.
»Heute ist in der DDR wirklich kaum noch jemand katholisch«, erklärte ich meiner Schwiegermutter.
»Und du, Mädchen?« Christa drückte meine Hand. »In dieser Trauerphase könnte dir der Glaube doch helfen!«
»Ach Christa.« Ich legte den ersten Gang ein und atmete tief durch. »Das war für uns lange kein Thema.« Feiner Nieselregen hatte eingesetzt, und der Scheibenwischer quietschte auf der beschlagenen Scheibe.
Ich setzte den Blinker und bog in unsere ruhige Seitenstraße ein. Unsere alte Villa lag versteckt am etwas vernachlässigten Stadtpark. »Meine Eltern waren früher auch eifrige Kirchgänger. Und ich verstehe das auch mit dem Halt und der Struktur.« Ich wollte meine Schwiegermutter nicht kränken und suchte nach diplomatischen Worten. »Aber mit der Jugendweihe sind wir automatisch ins hiesige System gerutscht. Meine Schwester und ich sind in guten Anstellungen im Kollektiv tätig, weißt du. Das ist jetzt unser Halt und unsere Struktur. Es geht uns prima, wir sind nicht in der Partei, aber wir sind eben auch keine bekennenden Katholiken mehr. Das wird hier nicht gern gesehen, verstehst du?«
Während ich rückwärts einparkte, schwieg meine Schwiegermutter. Ich öffnete das schmiedeeiserne Gartentor, das leise quietschte. An den Rändern des Gehweges lag schmutziger Altschnee. Wann war dieser Garten zum letzten Mal grün gewesen, wann hatten hier Vögel gezwitschert und wann die Kinder sorglos gespielt? Vor meinem inneren Auge sah ich Manfred im Rollstuhl auf der Terrasse sitzen, uns alle mit seiner schlechten Laune terrorisieren. Manfred war ein schwieriger Patient, ungeduldig mit den Kindern und oft auch ungerecht gegen mich. Plötzlich überkam mich der heftige Wunsch, die kleine alte Villa mit der negativen Energie zu verkaufen und mit den Kindern noch mal ganz neu anzufangen. Aber das behielt ich natürlich für mich, um meine Schwiegermutter nicht zu verletzen. Ich atmete tief durch.
Spontan umarmte sie mich. »Du wirst das schon hinkriegen, Mädchen. Ich werde dir und den Kindern weiterhin Pakete schicken.«
»Danke, Christa. Du bist die beste Schwiegermutter der Welt. Eigentlich ja Ex-Schwiegermutter.« Ich lächelte schwach.
»Ja, aber nur weil Manfred jetzt tot ist, werde ich dich und die Kinder doch nicht im Stich lassen!«
Sie hielt mich ein Stück von sich ab und betrachtete mich liebevoll.
»Und ich wünsche dir von...
Erscheint lt. Verlag | 9.12.2019 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | eBooks • Glaubenszweifel • Kampf gegen die Kirche • Sieg der Liebe • Verbotene Liebe • Verliebt in einen Mönch • Zölibat |
ISBN-10 | 3-641-24504-4 / 3641245044 |
ISBN-13 | 978-3-641-24504-7 / 9783641245047 |
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