Transfusion - Sie wollen dich nur heilen (eBook)
384 Seiten
Heyne (Verlag)
978-3-641-24014-1 (ISBN)
Ein Menschheitstraum ist wahr geworden. Mithilfe des Wundermittels Bimini, entwickelt vom Hamburger Pharmakonzern Astrada, kann Alzheimer nun endgültig geheilt werden. Iliana Kornblum, Wissenschaftlerin bei Astrada, hat das Medikament mitentwickelt, und ihr Vater gehörte zu den ersten Geheilten. Deshalb ist sie alarmiert, als sie bei ihrem Chef auf geheime Versuchsdaten stößt. Daten, die nur einen Schluss zulassen: Für Heilung und ein längeres Leben nimmt Astrada auch Tote in Kauf. Welche grausame Wahrheit verbirgt sich hinter dem Heilmittel?
Jens Lubbadeh ist freier Journalist und hat bereits für »Die Zeit«, »NZZ«, »Bild der Wissenschaft«, »Technology Review«, »Spiegel Online« und viele weitere Print- und Digitalmedien geschrieben. Für seine Arbeit wurde er mit dem Herbert Quandt Medien-Preis ausgezeichnet. Sein Roman-Debüt »Unsterblich« hat auf Anhieb Kritiker und Leser gleichermaßen begeistert. Seitdem hat er mehrere hochkarätige Science-Thriller veröffentlicht. Jens Lubbadeh lebt in Berlin.
3
»Pharmakonzerne führen Medikamentenstudien besonders gerne in Entwicklungsländern durch. Die Gründe sind einfach: Dort muss man den Probanden weniger bezahlen, und die ethischen Standards sind sehr viel niedriger. Wenn sie überhaupt vorhanden sind.«
Iliana starrte auf den Bildschirm. Sie sah die Tagesthemen und trank ein Glas Wein. Gerade interviewten sie, wen sonst, Andrea Parka. Nach der Arbeit hatte sie Marie in der Kita abgeholt, danach war sie bei ihrem Vater vorbeigefahren und war länger dort geblieben als ursprünglich geplant. Es war schön, dass er wieder so gut wie gesund war. Bimini hatte seine Alzheimer-Symptome auf ein Minimum reduziert. Sein Erinnerungsvermögen funktionierte fast normal. Manchmal fiel ihm ein Name nicht sofort ein, aber er hatte immerhin nicht mehr mit Totalausfällen zu tun. Seit einem Jahr wohnte ihr Vater wieder in einer eigenen Wohnung und kam alleine zurecht. Für Iliana war es eine enorme Erleichterung gewesen. Manchmal konnte sie es kaum fassen, wie sich alles entwickelt hatte. Vor drei Jahren noch hatte ihr Leben in Trümmern gelegen: die Krankheit ihres Vaters, der plötzliche Tod ihrer Mutter, ihre Trennung von Phillip. Sie war am Ende ihrer Kräfte gewesen. Obwohl derzeit alles gut aussah, war sie noch nicht wieder vollständig in Form. Jetzt auch noch diese Präsentation, die sie am Wochenende fertigstellen musste.
Sie nahm einen Schluck Wein.
»Wie wir wissen, litten die indischen Mädchen aus dem Container unter Entwicklungsstörungen«, sagte die Nachrichtensprecherin.
»Dafür gibt es zahlreiche Erklärungsmöglichkeiten«, antwortete Parka. Sie blickte mit festem Blick in die Kamera. Ihr langes dunkles Haar hatte sie zusammengebunden, graue Strähnen waren darin zu sehen. Sie wirkte sehr seriös, sprach ruhig und sachlich. Iliana hielt sie für eine gewiefte tendenziöse Strategin.
»Mädchen haben in Indien einen schweren Stand, häufig werden sie in ihren Familien schlecht behandelt. Sie gelten als Bürde, weil bei ihrer Heirat eine Mitgift fällig wird. Das bedeutet für viele arme Familien eine finanzielle Last. Millionen Mädchen werden in Indien daher vernachlässigt, ausgesetzt, verkauft oder nach der Geburt umgebracht, wenn sie nicht schon vorher abgetrieben werden. Mittlerweile gibt es in Indien sogar einen deutlichen Männerüberschuss. Es hätte in der Verantwortung des Pharmakonzerns gelegen, dafür Sorge zu tragen, dass es den Mädchen wenigstens für die Dauer der Studie gut geht.«
»Was macht Sie so gewiss, dass diese Mädchen an einer medizinischen Studie teilgenommen haben?«
»Da sind zum einen die Stofftiere mit dem Astrada-Logo …«
»Die aber auch auf anderem Wege zu den Kindern gelangt sein könnten«, warf die Nachrichtensprecherin ein.
Parka nickte. »Das ist natürlich möglich, ja. Wenngleich ich es für unwahrscheinlich halte. Solche Pharma-Werbeartikel werden zumeist an Ärzte und Krankenhäuser verteilt. Diese Mädchen standen irgendwie in Kontakt mit einer medizinischen Einrichtung. Was ich aber als noch viel stärkeren Beweis betrachte, ist die Tatsache, dass sie einen Shunt implantiert hatten …«
»Ich glaube, wir müssen den Zuschauern kurz erklären, was das ist«, unterbrach die Sprecherin sie.
»Verzeihung«, sagte Parka. »Ein Shunt ist ein kleiner Schlauch, der Vene und Arterie verbindet und den man Patienten in den Arm implantiert. Das macht man beispielsweise bei Dialysepatienten, die regelmäßig zur Blutwäsche müssen, weil ihre Nieren das Blut nicht mehr reinigen können. Weil man aber Venen nicht so oft anstechen kann, setzt man ihnen diesen Schlauch in den Unterarm ein. Der Arzt sticht die Nadel dann in den Schlauch statt in die Vene. Die Verdickungen unter der Haut sehen zwar gruselig aus, es macht die Sache für den Patienten aber angenehmer.«
»Wenn die Mädchen solche Shunts in ihren Armen hatten, bedeutet das, dass sie nierenkrank waren?«
»Das könnte sein, und es würde auch die Mangelerscheinungen erklären, aber etwas passt meiner Meinung nach nicht. Wie ich bereits erwähnte, sind Mädchen in Indien weniger wert als Jungen. Ich halte es daher für äußerst unwahrscheinlich, dass sie – falls sie nierenkrank gewesen sein sollten – überhaupt eine medizinische Behandlung bekommen hätten.«
»Was glauben Sie stattdessen, Frau Parka?«
»Indische Mädchen werden häufig verkauft – meistens an Sex- oder Sklavenhändler. Aber auch an andere skrupellose Leute. Ich glaube, dass diese Mädchen als Versuchskaninchen für Studien verkauft wurden. In diesem Fall an Leute, die Studien im Auftrag von Astrada durchführten. Deswegen die Shunts, da man ihnen häufig Substanzen injizieren musste. Deswegen die Astrada-Kuscheltiere. Es wäre nicht das erste Mal, dass ein Pharmakonzern Kinder als Versuchskaninchen missbraucht, um neue Medikamente zu testen. 1996 testete Pfizer während einer Meningitis-Epidemie das Antibiotikum Trovan an Minderjährigen in Nigeria. Elf Kinder starben, viele weitere waren danach lebenslang behindert. 2003 hat eine Sanofi-Tochter in Indien Tests durchgeführt und den Patienten verschwiegen, dass sie an einer Studie teilnahmen. Auch damals starben Menschen. 2007 testete Novartis an Obdachlosen in Polen einen Vogelgrippe-Impfstoff, ohne deren Einverständnis. Die Liste ist lang, alle großen Pharmakonzerne verletzen seit Jahren ethische Standards – warum sollte Astrada da eine Ausnahme sein?«
»Das sind sehr schwerwiegende Vorwürfe, Frau Parka«, sagte die Nachrichtensprecherin. »Erik Freimuth, der Chef von Astrada, hat bestritten, dass der Konzern Studien an indischen Kindern durchführt.«
»Was soll Erik Freimuth auch anderes sagen? Ich kenne keinen Fall, in dem die Pharmaindustrie ihre Schuld freiwillig eingestanden hat. Die Wahrheit kommt meist scheibchenweise ans Licht, und immer nur unter Druck.«
Man merkte, dass Andrea Parka zahlreiche Medientrainings hinter sich hatte. Sie wusste ganz genau, welche Knöpfe sie drücken musste. Parka hatte früher selbst in der Pharmaindustrie gearbeitet. Dann hatte sie die Seiten gewechselt und war zur schärfsten Pharmakritikerin mutiert. Ihr Verein Pharmatransparency war in der Branche gefürchtet.
Iliana schaltete den Fernseher auf lautlos. Sie war wütend. Parka hatte ein wichtiges Detail unterschlagen, nach dem auch die Journalistin nicht gefragt hatte. In den Körpern der Mädchen hatte man lediglich Rückstände von Beruhigungsmitteln gefunden – keinerlei Hinweise auf andere Drogen oder Substanzen. Dies aber hätte bei Medikamententests der Fall sein müssen. Beides passte nicht zur These von den Kinder-Versuchskaninchen.
Was sie über die üble Lage von Mädchen in Indien gesagt hatte, stimmte hingegen. Gut möglich also, dass es für die schlechte körperliche Verfassung der Mädchen und ihre Flucht andere Gründe gab. Die Shunts in ihren Armen blieben natürlich rätselhaft.
Eines war klar: Das Ganze war ein PR-Desaster für Astrada. Sie musste Andrea Parka leider zugestehen, dass die Indizien in der Tat dazu einluden, die Rollen von Gut und Böse eindeutig zu verteilen.
Iliana stand auf. Sie war müde, aber innerlich unruhig. Das Gespräch mit Freimuth hing ihr nach. Sie konnte nicht verstehen, warum Mark sich zu diesem Schritt entschieden hatte. Vor allem, warum er ihr nichts davon gesagt hatte.
Sie war jetzt Forschungsleiterin von Astrada, mit 39 Jahren. Sie konnte sich nicht darüber freuen. Sie war nur befördert worden, weil ihr langjähriger Chef und Kollege entschieden hatte, sich aus dem Staub zu machen.
Bis Dienstag sollte sie eine hochkarätige Präsentation zusammenhauen, aus lauter Rohdaten.
Mark? Was soll das? Wieso hast du gekündigt?
Sie sah ihn vor ihrem inneren Auge, klar und deutlich. Ihr Gehirn schoss permanent Bilder, sie besaß ein fotografisches Gedächtnis. Sie sah Marks schmales Gesicht, das immer unrasiert war. Sie sah seine hellblauen Augen, die durch die fast unsichtbare Brille lugten. Sie sah sein blondes Haar, das in den letzten Jahren immer dünner geworden war, was ihn sehr fuchste. Sie sah die stets bedachten Bewegungen seines schlanken Körpers. Wenn er sich überhaupt bewegte, denn er hatte die Angewohnheit, nicht selten lange regungslos und hoch konzentriert dazusitzen wie eine Eidechse. Sie hatte ihn immer um diese Fähigkeit der totalen Versenkung beneidet, wenn er minutenlang vor seinem Rechner oder über eine Studie gebeugt ausharrte, ohne die kleinste Bewegung zu machen.
Mark. Sie kramte ihr Handy hervor und tippte auf seinen Kontakt. Zum x-ten Mal versuchte sie, ihn anzurufen, und zum x-ten Mal sprang nur seine Mailbox an.
»I am currently unavailable, please leave a message«, teilte die Aufnahme seiner unaufgeregten Stimme mit.
Umso aufgeregter war ihre: »Mark! Was ist los? Wo steckst du? Melde dich endlich!«
Iliana ging vorsichtig zu Maries Zimmer und lauschte an ihrer Tür. Alles ruhig. Ihre Tochter schlief. Sie drückte die Türklinke langsam hinunter und öffnete die Tür. Als sie eintrat, traf sie sofort der charakteristische Geruch ihrer Tochter. Eine Mischung aus Blumenduft, Waschmittel und Gummibärchen. Sie hörte Maries Atem und näherte sich ihrem Bett. Es war schummrig in dem Zimmer. Ein Nachtlicht in der Steckdose neben ihrem Bett tauchte ihr Gesicht in sanftes Licht. Marie mochte völlige Dunkelheit nicht. Ohne Nachtlicht wollte sie nicht schlafen.
Sie hatte die Decke völlig zerwühlt, ihre blonden Locken waren zerzaust. Marie lag auf der linken Seite, im Arm hielt sie ihren Teddy. Der Daumen der rechten Hand befand sich nah am Mund, aber nicht darin. Sehr gut,...
Erscheint lt. Verlag | 11.11.2019 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Fantasy / Science Fiction ► Science Fiction |
Literatur ► Krimi / Thriller / Horror | |
Schlagworte | action • Bluttransfusion • eBooks • Medizin • Nahe Zukunft • Pharmaindustrie • Science-Thriller • Thriller • Verjüngung |
ISBN-10 | 3-641-24014-X / 364124014X |
ISBN-13 | 978-3-641-24014-1 / 9783641240141 |
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