Zwei Handvoll Leben (eBook)
544 Seiten
Verlagsgruppe Droemer Knaur
978-3-426-45363-6 (ISBN)
Katharina Fuchs, geboren 1963 in Wiesbaden, verbrachte ihre Kindheit am Genfer See, bevor sie zurück nach Deutschland zog. Nach ihrem Studium der Rechtswissenschaften in Frankfurt am Main und in Paris wurde sie Rechtsanwältin und Justiziarin eines DAX-notierten Unternehmens. Katharina Fuchs lebt mit ihrer Familie und ihrer Golden Retriever Hündin im Taunus. 'Zwei Handvoll Leben', 'Neuleben' und 'Unser kostbares Leben' basieren auf ihrer eigenen Familiengeschichte. 'Vor hundert Sommern' ist nach 'Lebenssekunden', 'Der Traum vom Leben' und 'Das Flüstern des Lebens' ihr jüngster Roman.
Katharina Fuchs, geboren 1963 in Wiesbaden, verbrachte ihre Kindheit am Genfer See, bevor sie zurück nach Deutschland zog. Nach ihrem Studium der Rechtswissenschaften in Frankfurt am Main und in Paris wurde sie Rechtsanwältin und Justiziarin eines DAX-notierten Unternehmens. Katharina Fuchs lebt mit ihrer Familie und ihrer Golden Retriever Hündin im Taunus. "Zwei Handvoll Leben", "Neuleben" und "Unser kostbares Leben" basieren auf ihrer eigenen Familiengeschichte. "Vor hundert Sommern" ist nach "Lebenssekunden", "Der Traum vom Leben" und "Das Flüstern des Lebens" ihr jüngster Roman.
Anna
Das Eis war an dieser Stelle besonders glatt, und Anna konnte hier schneller fahren als auf den anderen Kanälen der Spree. Sie nahm Anlauf, um die maximale Geschwindigkeit zu erreichen, stellte dann einen Fuß vor den anderen und genoss das Gefühl, einfach nur bewegungslos dahinzugleiten. Die klitzekleinen Unebenheiten in der Eisfläche ließen ihre Beine kaum merklich vibrieren. Kurz bevor sie zum Stehen kam, fuhr sie einen Halbkreis, holte neuen Schwung und fuhr die gleiche Strecke zurück, wieder und wieder. Sie legte den Kopf nach hinten. Es hatte angefangen zu schneien, und die Flocken flogen Anna in die Augen, manche blieben in ihren Wimpern hängen. Einige ließ sie sich auf der Zunge zergehen und spürte ihrem Geschmack nach.
Durch den bedeckten grauen Himmel gelangte kaum Helligkeit, aber es musste längst Frühstückszeit sein. Der Gedanke an Rückkehr drang langsam in Annas Bewusstsein. Am liebsten hätte sie ihn beiseitegeschoben und wäre einfach weitergefahren. Es war der Morgen des 24. Dezember 1913, und Wilhelm hatte ausgerechnet an diesem Tag Geburtstag. Zu der morgendlichen Bescherung wurden alle sechs Kinder vollzählig erwartet. Noch in der Dunkelheit war Anna aufgebrochen, um wenigstens eine Stunde zum Eislaufen zu kommen, bevor sie den Rest des Tages im Haus würde helfen müssen.
Sie machte sich auf den Nachhauseweg über die Kanäle, die sich wie ein engmaschiges Netz durch den gesamten Spreewald zogen. An einer schmalen Stelle ragte ein im Eis festgefrorener Ast hervor. Durch die dünne Neuschneedecke bemerkte Anna ihn zu spät. Sie stolperte, konnte sich zwar noch mit den Händen abfangen, aber beim Aufstehen erklang plötzlich ein Geräusch von reißendem Stoff, und der Schreck ließ sie zusammenzucken. Mit fahrigen Bewegungen suchte sie nach dem Riss in ihrem langen Rock, um das Ausmaß des Schadens abschätzen zu können. Er reichte vom Saum bis zur Mitte der Wade und war nicht etwa an der Naht, sondern mitten im Stoff. Das sah übel aus, und es wurde ihr trotz der Kälte plötzlich heiß bei dem Gedanken an ihre Mutter. Es half aber nichts, sie musste weiter, und vielleicht würde sich die Gelegenheit ergeben, den Rock unauffällig von ihrer älteren Schwester Emma nähen zu lassen, bevor die Mutter den Riss bemerkte. Emma war schon im dritten Jahr ihrer Schneiderlehre. Wenn sie Glück hatte, könnte Anna durch ihre Geschicklichkeit einer Strafe entgehen.
Sie lief weiter. Da vorne war schon die letzte Brücke in Sicht. Am Ufer stützte sie sich mit einer Hand auf einen Baumstamm und schnallte sich keuchend die Eiskufen von ihren Stiefeln. Nun nur noch die Böschung hinauf und über die kleine Holzbrücke, an deren Geländer große Eiszapfen hingen. Anna hatte keine Zeit mehr, sonst hätte sie sich den schönsten abgebrochen und gelutscht. Als sie um die Ecke bog, vorbei an den drei großen Trauerweiden, sah sie bereits die Anhöhe, die Hasen- und Gänseställe. Dahinter das winzige Haus, ihr Elternhaus mit dem unregelmäßigen Schieferdach, jetzt von Schnee bedeckt, unter dem sich die zwei Schlafkammern befanden.
In der offenen Haustür stand ihr Vater und hielt bereits nach ihr Ausschau. Er hatte seine Taschenuhr in der Hand, auf die er so stolz war, und schüttelte langsam den Kopf. Das volle dunkle Haar war an den Schläfen schon früh grau geworden. Auffällig seine fast schwarzen, dichten Augenbrauen und die etwas zu große Nase. Philipp Tannenberg wollte sich gerade wieder umdrehen, als er Anna um die Ecke biegen sah.
»Anna, wo hast du so lange gesteckt? Alle warten auf dich! Musst du eigentlich immer die Letzte sein?«
Er legte ihr den Arm um die Schultern und zog sie in das Haus. Im Flur war bereits die gesamte Familie versammelt. Nur die Mutter fehlte.
Annas Keuchen war in der Stille deutlich zu hören. Sie stellte sich neben ihren Brüdern auf, und sofort traf sie ein Faustschlag in die Rippen. Er war so fest, dass ihr die Luft wegblieb und sie sich vor Schmerzen zusammenkrümmte.
Unterdrücktes Lachen.
Ihre kleine Schwester Dora presste sich an sie. Sie liebte und bewunderte Anna, und es machte ihr Angst, wenn ihr Bruder Otto immer auf sie losging. Ihr Vater wollte etwas sagen, doch da ging die Tür zur Küche auf, und ihre Mutter erschien, legte den Finger auf die Lippen und fing an zu singen: »Viel Glück und viel Segen auf all deinen Wegen …«
Der Vater fiel mit seiner tiefen Bassstimme ein. Der Rest der Familie sang jetzt auch. Heimlich boxte Otto Anna noch mehrmals kräftig gegen den Oberarm, aber sie krallte ihm diesmal ihre Fingernägel tief in die Haut.
Wilhelm konnte seine Enttäuschung nur schwer verbergen, als er sein einziges Geschenk bekam: Es war eine Lederschürze, die er bei seiner Arbeit als Schlosser tragen würde. Und natürlich nicht die Trompete, die er sich so sehnlich gewünscht hatte. Aber ein Musikinstrument war für ihre Eltern unerschwinglich.
Die anderen Geschwister waren immer noch ungeduldig, denn sie warteten auf den Kuchen.
»Bekomme ich das erste Stück?«, bettelte die kleine Dora und kaute schon ungeduldig auf dem Ende von einem ihrer brünetten Zöpfe.
»Zuerst das Geburtstagskind. Aber heute gibt’s für jeden ein Stück.«
Ihre Großmutter hatte die ganze Zeit in ihrem schwarzen Kleid zusammengesunken auf der Bank an dem Kachelofen gesessen. Jetzt stand sie mit sichtbarer Mühe auf. Sie stützte sich mit einer Hand den Rücken ab und stöhnte vernehmlich, wobei sie, wie alle wussten, immer ein Stück Theatralik in ihre Gesten legte. Dann griff sie sich ein großes Messer aus der Schublade und begann, den Kuchen in gleich große Stücke zu schneiden. Die Hände der Kinder langten blitzschnell nach den abbröckelnden Stücken Zuckerguss. So schnell, dass die Hand der Großmutter sie nicht rechtzeitig erwischte, als sie, mehr spaßeshalber, nach ihnen schlug. Dann tippte sie sich mit dem Finger an ihre faltige, pergamentartige Wange. Sie wussten, was das hieß: Jedes Kind sollte ihr zuerst einen Kuss darauf geben, bevor es ein Stück des Kuchens erhielt, der sofort gierig aus der Hand gegessen wurde.
»Nun ist aber Schluss!«
Ihre Mutter klatschte in die Hände.
»Heute ist Weihnachten, und es gibt noch viel zu tun. Max, du kannst das Holz hacken. Und geh dazu am besten in den Schuppen, sonst ist es nachher zu feucht, bei dem Schnee, der gerade wieder herunterkommt. Wilhelm und Otto dürfen mit Vater im Wald den Christbaum holen.«
Und zu den drei Mädchen gewandt sagte sie: »Euch brauch ich in der Küche.«
Sie sah Anna in die Augen und hob den Zeigefinger: »Und mit dir habe ich später noch ein Hühnchen zu rupfen.«
Anna erwiderte zunächst den strengen Blick ihrer Mutter und senkte dann den Kopf, um vorsichtig nach hinten zu schielen. Hatte sie den Riss in ihrem Rock schon bemerkt, oder war sie nur über ihre Verspätung so verärgert? An Heiligabend würde es doch keine der ganz strengen Strafen geben?
Bei ihrer Mutter konnte sie sich da allerdings nicht sicher sein, und sie begann sich rasch mögliche Ausreden auszudenken. Was hätte sie unterwegs aufhalten können? Der Schäferhund des Schusters hätte sie verfolgen können, das war ihr schon mal passiert, als er sich von der Kette losgerissen hatte. Damit wäre der Riss im Kleid auch erklärt. In den meisten Fällen war Anna in dieser Beziehung sehr erfindungsreich. Nur nützte ihr das nicht viel, da ihre Mutter allem unerbittlich genau auf den Grund ging. Anna wusste das, und sie wusste auch, dass sich ihre Mutter über eine Ausrede weit mehr ärgerte – mit den entsprechenden schmerzhaften Konsequenzen – als über jegliche Verfehlung, die damit vertuscht werden sollte. Trotzdem konnte Anna der Verlockung selten widerstehen, es immer wieder mit überraschend unglaubhaften Entschuldigungen zu versuchen.
»Wann gibt es die Gänsekleinsuppe?«, fragten jetzt die Jungen.
»Geht ihr erst einmal euren Arbeiten nach, ihr habt ja gerade Kuchen bekommen«, lautete die Antwort.
Sie rannten aus der Küche. Wilhelm griff sich noch das letzte Stück und würdigte sein Geschenk keines Blickes mehr. Er setzte all seine Hoffnungen auf den Heiligen Abend. Mit dem Vater den Christbaum zu schlagen stand an, und das war sein Privileg. Zumindest den einen Vorteil hatte es, an Weihnachten Geburtstag zu haben.
Anna holte sich eine weiße Schürze vom Haken an der Küchentür. Endlich reichte sie an ihn heran, ohne hochspringen zu müssen. Sie war vierzehn Jahre alt, drei Jahre jünger als ihr ältester Bruder Wilhelm, der heute seinen Geburtstag hatte. Im letzten Jahr war sie so gewachsen, dass ihr plötzlich kein Kleid mehr passte und sie fast alle gleichaltrigen Kinder und auch ihren besten Freund Erich überragte.
Die Großmutter hatte den Küchentisch leer geräumt, und Mutter stellte einen Korb mit Kartoffeln auf den Tisch.
»Hier, Anna, schäl sie aber schön dünn, hörst du? Und die Augen sorgfältig ausstechen. Und Dorle kann dann schon mit dem Reiben anfangen.«
Mutter nahm ein großes Messer aus der Schublade.
»So, Emma, komm mit, jetzt geht’s ans Schlachten.«
Ohne ein Wort folgte Emma ihrer Mutter, die mit einer Emaille-Schüssel und dem Messer aus der Küche ging. Anna und Dora konnten nachfühlen, was in ihr vorging: Gänse zu schlachten, war für sie alle drei immer die widerwärtigste Arbeit. Beide machten sich an ihre Aufgaben, aber dann hörten sie von draußen das laute Gezeter der Gänse und pressten sich die Hände auf die Ohren.
Kurz darauf kamen die Mutter und Emma mit zwei toten Tieren in...
Erscheint lt. Verlag | 27.3.2019 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 20. Jahrhundert • 50er Jahre Romane/Erzählungen • Anfang 20. Jahrhundert • Berlin • Berlin-Roman • biografische Romane • dramatische Romane • Erster Weltkrieg bis zweiter Weltkrieg • Familie • Familiengeschichte • Familienroman • Frauengeschichten • Freundinnen • Freundschaft • Generationen • Großmütter • Gutshof • historische romane 20. jahrhundert • historische Romane 2. Weltkrieg • historische Romane Nachkriegszeit • KaDeWe • Katharina Fuchs • Leben • Lebenssekunden • Liebe • Nachkriegszeit Deutschland • Nachkriegszeit Deutschland 50er Jahre • Nachkriegszeit Romane • Nationalsozialismus Roman • Neuleben • Roman Biographien • Romane 2. Weltkrieg • Romane Drama • Romane nach wahren Geschichten • Romane Zweiter Weltkrieg • Roman wahre Begebenheiten • Sachsen • schicksalsromane • Spreewald • Vergangenheit • Wahre GEschichte • Zeitgeschichte Roman • Zwei Handvoll Leben Roman |
ISBN-10 | 3-426-45363-0 / 3426453630 |
ISBN-13 | 978-3-426-45363-6 / 9783426453636 |
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