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Was ich liebte (eBook)

eBook Download: EPUB
2019 | 1. Auflage
480 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-00269-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Was ich liebte -  Siri Hustvedt
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'Romantisch, gefühlvoll und zugleich verstörend unheimlich' (Salman Rushdie) Zwei befreundete Künstlerfamilien im New Yorker Stadtteil SoHo, zwischen 1975 und der Jahrtausendwende: Siri Hustvedt erzählt vom Aufbrechen und Ankommen, von Idealen und Lebensentwürfen, von Eltern und Kindern - und davon, wie ein tragischer Unfall ein sorgsam geplantes Glück jäh zerstört. 'Was ich liebte' ist ein Buch über das Erwachen aus der selbst verschuldeten Naivität und über das Ende der Träume einer Generation.

Siri Hustvedt wurde 1955 in Northfield, Minnesota, geboren. Sie studierte Literatur an der Columbia University und promovierte mit einer Arbeit über Charles Dickens. Bislang hat sie sieben Romane publiziert. Mit «Was ich liebte» hatte sie ihren internationalen Durchbruch. Zuletzt erschienen «Die gleißende Welt» und «Damals». Zugleich ist sie eine profilierte Essayistin. Bei Rowohlt liegen von ihr die Essaybände «Nicht hier, nicht dort», «Leben, Denken, Schauen», «Being a Man», «Die Illusion der Gewissheit»  und «Eine Frau schaut auf Männer, die auf Frauen schauen» vor.

Siri Hustvedt wurde 1955 in Northfield, Minnesota, geboren. Sie studierte Literatur an der Columbia University und promovierte mit einer Arbeit über Charles Dickens. Bislang hat sie sieben Romane publiziert. Mit «Was ich liebte» hatte sie ihren internationalen Durchbruch. Zuletzt erschienen «Die gleißende Welt» und «Damals». Zugleich ist sie eine profilierte Essayistin. Bei Rowohlt liegen von ihr die Essaybände «Nicht hier, nicht dort», «Leben, Denken, Schauen», «Being a Man», «Die Illusion der Gewissheit»  und «Eine Frau schaut auf Männer, die auf Frauen schauen» vor. Uli Aumüller übersetzt u. a. Siri Hustvedt, Jeffrey Eugenides, Jean Paul Sartre, Albert Camus und Milan Kundera. Für ihre Übersetzungen erhielt sie den Paul-Celan-Preis und den Jane-Scatcherd-Preis. Erica Fischer wurde als Tochter von Emigranten in England geboren, die 1948 nach Wien zurückkehrten. Dort studierte sie Sprachen, wurde zu einer der Gründerinnen der österreichischen Frauenbewegung und arbeitete als Journalistin. Heute lebt Erica Fischer als freie Schriftstellerin und Übersetzerin in Berlin. Ihre dokumentarische Erzählung "Aimée & Jaguar" (1994) wurde ein Bestseller, sie ist mitlerweile in zwanzig Sprachen übersetzt. Zuletzt erschienen "Himmelstraße" (2007) und "Mein Erzengel" (2010). Grete Osterwald, geboren 1947, lebt als freie Übersetzerin aus dem Englischen und Französischen in Frankfurt am Main. Sie wurde für ihre Arbeit mehrmals ausgezeichnet, zuletzt 2017 mit dem Jane Scatcherd-Preis. Zu den von ihr übersetzten Autorinnen und Autoren zählen Siri Hustvedt, Alfred Jarry, Anka Muhlstein, Jacques Chessex sowie Nicole Krauss, Jeffrey Eugenides und Elliot Perlman.

Ich war viele Male an der Bowery 89 vorbeigegangen, ohne je stehen zu bleiben und mir das Haus anzusehen. Der heruntergekommene vierstöckige Klinkerbau zwischen Hester und Canal Street war nie mehr als das schlichte Quartier eines Großhandelsgeschäfts gewesen, doch als ich dorthin kam, um William Wechsler zu besuchen, waren jene Tage bescheidener Achtbarkeit längst vorbei. Die Fenster der einstigen Ladenfassade waren mit Brettern zugenagelt, und die schwere Eisentür war so zerkratzt und verbeult, als hätte jemand sie mit einem Hammer bearbeitet. Ein bärtiger Mann mit irgendetwas Alkoholischem in einer Tüte lag auf der einzigen Treppenstufe herum. Er grunzte mich an, als ich ihn bat, beiseite zu rücken, und entfernte sich dann halb rollend, halb rutschend von der Treppe.

Mein erster Eindruck von Menschen wird oft von dem überlagert, was ich später erfahre, doch bei Bill ist mir während unserer ganzen Freundschaft zumindest eine Erinnerung an diese ersten Sekunden geblieben. Bill hatte Ausstrahlung – jene geheimnisvolle Anziehungskraft, die Fremde verführt. Als er mir die Tür öffnete, sah er fast genauso verlottert aus wie der Mann auf der Treppe. Er hatte einen Zweitagebart. Das dichte schwarze Haar auf seinem Kopf stand oben und seitlich wild ab, und seine Kleidung starrte vor Schmutz und Farbflecken. Doch als er mich ansah, fühlte ich mich zu ihm hingezogen. Sein Teint war für einen Weißen sehr dunkel, und seine schräg stehenden, klaren grünen Augen hatten etwas Asiatisches. Er hatte einen eckigen Kiefer und ein kantiges Kinn, breite Schultern und kräftige Arme. Mit seinen eins fünfundachtzig schien er mich weit zu überragen, obwohl ich selbst nur ein paar Zentimeter kleiner bin. Später entschied ich, dass seine fast magische Anziehungskraft etwas mit seinen Augen zu tun haben musste. Als er mich ansah, tat er es direkt und unbefangen, und doch spürte ich zugleich seine Verinnerlichung, seine Abgelenktheit. Obwohl seine Neugier auf mich ungespielt wirkte, spürte ich auch, dass er nichts von mir wollte. Bill verströmte etwas so vollständig Autonomes, dass er unwiderstehlich war.

«Ich habe es wegen des Lichts gemietet», sagte er, als wir das Atelier im dritten Stock betraten. Durch drei lange Fenster am hinteren Ende des einzigen Raumes schien die Nachmittagssonne. Das Gebäude war abgesackt, der hintere Teil des Lofts lag erheblich niedriger als der vordere. Der Fußboden hatte sich ebenfalls verzogen, und als ich zu den Fenstern hinübersah, bemerkte ich Verwerfungen in den Dielen wie flache Wellen auf einem See. Die höher gelegene Seite des Lofts war karg möbliert mit einem Hocker, einem Tisch aus zwei Sägeböcken mit einer alten Tür darauf und einer Stereoanlage, umgeben von Hunderten von Schallplatten und Tonbändern in Plastikmilchkästen. Reihen von Leinwänden standen an die Wand gelehnt. Der Raum roch stark nach Farbe, Terpentin und Moder.

Alles Lebensnotwendige war auf der tiefer gelegenen Seite zusammengedrängt. Ein über eine alte Badewanne mit Löwenfüßen gebauter Tisch. Daneben ein Doppelbett, nicht weit von einem Waschbecken, und der Herd ragte aus einer Lücke eines mit Büchern voll gestopften Regals. Auch daneben auf dem Fußboden stapelten sich Bücher, und Dutzende mehr auf einem Sessel, der so aussah, als hätte seit Jahren niemand darin gesessen. Das Durcheinander in der Wohnecke des Lofts offenbarte nicht nur Bills Armut, sondern auch sein Desinteresse an Gegenständen des täglichen Gebrauchs. Mit der Zeit sollte er wohlhabender werden, doch seine Gleichgültigkeit gegenüber solchen Dingen änderte sich nie. Er blieb seltsam unverbunden mit den Wohnungen, in denen er lebte, und blind für die Details ihrer Einrichtung.

Schon an jenem ersten Tag spürte ich Bills Askese, seinen fast brutalen Wunsch nach Reinheit und seine Kompromisslosigkeit. Das Gefühl rührte sowohl von dem her, was er sagte, als auch von seiner physischen Präsenz. Er war ruhig, sprach leise, war etwas verhalten in seinen Bewegungen, und dennoch entströmte ihm eine raumgreifende Intensität. Anders als andere große Persönlichkeiten war Bill nicht laut, arrogant oder ungewöhnlich charmant. Dennoch fühlte ich mich, als ich neben ihm stand und mir die Bilder ansah, wie ein Zwerg, der gerade einem Riesen vorgestellt worden ist. Dieses Gefühl machte meine Kommentare scharfsinniger und gedankenreicher. Ich kämpfte um Raum.

Er zeigte mir an jenem Nachmittag sechs Bilder. Drei waren fertig. Die drei anderen hatte er gerade angefangen – skizzenhafte Linien und große Farbfelder. Mein Gemälde gehörte auch zu dieser Serie, lauter Porträts der dunkelhaarigen Frau; doch von einer Arbeit zur anderen änderte sich ihr Leibesumfang. Auf der ersten Leinwand war sie dick, ein Berg blassen Fleisches in engen Nylonshorts und einem T-Shirt – ein Bild von so gewaltiger Verfressenheit und Selbstaufgabe, dass ihr Körper wie in den Rahmen gequetscht schien. Mit ihrer fetten Faust umklammerte sie eine Babyrassel. Der längliche Schatten eines Mannes fiel über ihre rechte Brust und ihren riesigen Bauch und schrumpfte auf ihren Hüften zu einer bloßen Linie. Auf der zweiten war die Frau viel dünner. Sie lag in Unterwäsche auf einer Matratze und sah mit einem Ausdruck, der zugleich selbstverliebt und selbstkritisch schien, an sich hinunter. In der Hand hielt sie einen Füllfederhalter, der ungefähr doppelt so groß war wie ein normaler Füller. Auf dem dritten Bild hatte die Frau ein paar Pfunde mehr, war aber nicht so füllig wie die Person auf dem Gemälde, das ich gekauft hatte. Sie trug ein zerschlissenes Flanellnachthemd und saß mit lässig gespreizten Oberschenkeln auf der Bettkante. Ein Paar rote Kniestrümpfe lagen zu ihren Füßen. Als ich mir ihre Beine ansah, bemerkte ich direkt unter den Knien eine schwache rote Linie vom Gummiband der Strümpfe.

«Das erinnert mich an Jan Steens Gemälde der Frau bei der Morgentoilette, die ihren Strumpf auszieht», sagte ich. «Das kleine Bild, das im Rijksmuseum hängt.»

Bill lächelte mich zum ersten Mal an. «Ich habe das Bild mit dreiundzwanzig in Amsterdam gesehen, und es brachte mich dazu, über Haut nachzudenken. Ich interessiere mich eigentlich nicht für Akte. Sie sind zu gewollt, aber für Haut interessiere ich mich wirklich.»

Wir sprachen eine Weile über Haut in der Malerei. Ich erwähnte die schönen roten Wundmale auf der Hand von Zurbaráns heiligem Franziskus. Bill sprach über die Hautfarbe von Grünewalds totem Christus und die rosa Haut von Bouchers Nackten, die er als «Softpornodämchen» bezeichnete. Wir diskutierten die wechselnden Konventionen in der Darstellung von Kreuzigungen, Pietàs und Grablegungen. Ich sagte, Pontormos Manierismus habe mich immer interessiert, und Bill erwähnte Robert Crumb. «Mir gefällt seine Grobheit», sagte er. «Die mutige Hässlichkeit seines Werkes.» Ich fragte ihn nach George Grosz, und Bill nickte.

«Ein Verwandter. Die beiden sind ganz bestimmt künstlerisch verwandt. Haben Sie mal Crumbs Serie ‹Tales from the Land of Genitalia› gesehen? Penisse, die in Stiefeln herumlaufen?»

«Wie in ‹Die Nase› von Gogol», sagte ich.

Dann zeigte Bill mir medizinische Zeichnungen, ein Gebiet, über das ich wenig wusste. Er zog aus seinen Regalen Dutzende Bücher mit Illustrationen aus verschiedenen Perioden – mittelalterliche Schaubilder von Körpersäften, anatomische Bilder aus dem 18. Jahrhundert, ein Bild aus dem 19. Jahrhundert vom Kopf eines Mannes mit phrenologischen Beulen und eines von weiblichen Genitalien aus derselben Zeit. Es war eine kuriose Zeichnung der Sicht zwischen die gespreizten Oberschenkel einer Frau. Wir standen nebeneinander und starrten auf die akribische Wiedergabe von Vulva, Klitoris, Schamlippen und dem kleinen schwarzen Loch der Vaginaöffnung. Die Linien waren hart und peinlich genau.

«Sieht aus wie das Schaubild einer Maschine», sagte ich.

«Ja», sagte er. «So habe ich es noch nie betrachtet.» Er blickte auf das Bild. «Es ist ein gemeines Bild. Alles ist am richtigen Platz, aber es ist eine garstige Karikatur. Der Künstler hielt es natürlich für Wissenschaft.»

«Ich glaube, nichts ist jemals einfach nur Wissenschaft», sagte ich.

Er nickte. «Das ist das Problem mit dem Sehen von Dingen. Nichts ist klar. Gefühle, Ideen formen das, was man vor sich hat. Cézanne wollte die Welt nackt, aber die Welt ist nie nackt. Ich möchte in meinen Arbeiten Zweifel wecken.» Er hielt inne und lächelte mich an. «Deren sind wir uns nämlich sicher.»

«Haben Sie Ihre Frauengestalt deshalb mal dick, mal dünn oder mittel gemalt?», sagte ich.

«Ehrlich gesagt, war es eher ein Bedürfnis als etwas Reflektiertes.»

«Und die Stilmischung?», sagte ich.

Bill ging zum Fenster und zündete sich eine Zigarette an. Er inhalierte und ließ die Asche auf den Boden fallen. Er musterte mich. Seine großen Augen waren so durchdringend, dass ich wegschauen wollte, doch ich tat es nicht. «Ich bin einunddreißig Jahre alt, und Sie sind der erste Mensch, meine Mutter nicht mitgezählt, der eines meiner Bilder gekauft hat. Ich arbeite seit zehn Jahren. Kunsthändler haben meine Arbeiten hundertmal abgelehnt.»

«De Kooning hatte auch erst mit vierzig seine erste Einzelausstellung», sagte ich.

«Sie missverstehen mich», sagte er langsam. «Ich verlange nicht, dass sich irgendwer dafür interessiert. Warum auch? Ich frage mich, warum Sie sich dafür interessieren.»

Ich erklärte es ihm. Wir setzten uns auf den Boden, die Bilder standen vor uns, und ich sagte, mir gefalle seine Zweideutigkeit, mir gefalle, nicht zu wissen, wohin ich auf seinen Gemälden schauen solle, und vieles in der modernen figurativen...

Erscheint lt. Verlag 26.3.2019
Übersetzer Uli Aumüller, Erica Fischer, Grete Osterwald
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Familie • Freundschaft • Ideale • Lebensentwürfe • New York City • New York- SoHo • Trauer • US-Literatur
ISBN-10 3-644-00269-X / 364400269X
ISBN-13 978-3-644-00269-2 / 9783644002692
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