Vergessene Kulturen der Weltgeschichte (eBook)
223 Seiten
C.H.Beck (Verlag)
978-3-406-73411-3 (ISBN)
Die alten Griechen und Ägypter stehen in jedem Geschichtsbuch, aber was ist mit dem sagenhaften Goldland Punt oder dem paradiesischen Dilmun? Viele Kulturen sind heute nur noch in Sagen von exotischen Ländern oder archäologischen Zeugnissen greifbar. Harald Haarmann nimmt in seinem kurzweiligen Buch 25 dieser Stiefkinder unter die Lupe und zeigt, was uns bisher entgangen ist.
Manche Kulturen werden für immer vergessen bleiben, andere haben zumindest Spuren hinterlassen, denen wir folgen können. Harald Haarmann entdeckt steinzeitliche Siedlungen am Baikalsee, geht dem Rätsel der Pelasger nach, der vorindoeuropäischen Bevölkerung Griechenlands, findet einen historischen Kern in den Geschichten von den Amazonen-Kriegerinnen vom Schwarzen Meer, erklärt die seltsame Kultur der Osterinsel, die durch hausgemachte Umweltprobleme unterging, und beschreibt die jüngst entdeckten Reste von Großsiedlungen in der südlichen Amazonas-Region, wo man bisher nur Jäger und Sammler im unberührten Urwald vermutet hat. Insgesamt zeigen die 25 Stiefkinder, dass die Menschheit mehr Optionen hatte, als wir denken. In einer Zeit, in der uns die Schattenseiten unserer eigenen Kultur bewusst werden, sollten wir uns an die verlorenen Pfade erinnern. Mit 52 Abbildungen und Karten.
Harald Haarmann gehört zu den weltweit bekanntesten Sprachwissenschaftlern. Er wurde u. a. mit dem Prix Logos der Association européenne des linguistes, Paris, sowie dem Premio Jean Monnet ausgezeichnet. Seine Bücher wurden in viele Sprachen übersetzt
Cover 1
Titel 3
Zum Buch 2
Über den Autor 2
Impressum 4
Inhalt 5
Einleitung: Rätselhafte Stiefkinder der Weltgeschichte 9
1. Das Geheimnis der Schöninger Speere 13
Die Jägerkultur des Homo heidelbergensis: Vor 320 000 Jahren 13
2. Bären, wilde Schwäne und weibliche Schutzgeister 21
Altsteinzeitliche Kunst am Baikalsee: Vor 30 000 Jahren 21
3. Robbenjäger auf dem Eisschelf 29
Gab es eiszeitliche Migrationen nach Amerika? Vor 23 000–19 000 Jahren 29
4. Die ersten Tempelbauten der Menschheit 37
Die mesolithische Jägerkultur von Göbekli Tepe 10. Jahrtausend v. Chr. 37
5. Die Große Göttin und die Mücken 46
Çatalhöyük, die älteste Großstadt der Welt 8.–6. Jahrtausend v. Chr. 46
6. Die Strahlkraft Alteuropas 54
Die Donauzivilisation als frühes Modell eines Commonwealth 6.–3. Jahrtausend v. Chr. 54
7. Das mythische Dilmun 64
Eine Handelsmetropole im Persischen Golf 3. Jahrtausend v. Chr. 64
8. Zwischen Harappa und Mohenjo-Daro 70
Die tausendundeins Siedlungen der Induskultur 2800–1800 v. Chr. 70
9. Götterprozession vor den Mauernvon Hattuscha 78
Aufstieg und Niedergang des Hethiterreichs 2. Jahrtausend v. Chr. 78
10. Die blonden Mumien von Loulan 88
Indoeuropäer in der chinesischen Provinz Xinjiang 2.–1. Jahrtausend v. Chr. 88
11. Das sagenhafte Goldland Punt 97
Die Gesandtschaft der Pharaonin Hatschepsut 15. Jahrhundert v. Chr. 97
12. Das Rätsel der Pelasger 104
Die von den Griechen verschwiegene vor-indoeuropäische Kultur 3.–1. Jahrtausend v. Chr. 104
13. Stierspiele und Spiraltexte 110
Die Geheimnisse der minoischen Kultur Altkretas 2. Jahrtausend v. Chr. 110
14. Von Anker bis Zisterne 117
Die Etrusker als Mittler zwischen griechischer und römischer Welt 9.–3. Jahrhundert v. Chr. 117
15. Die skythischen Reiternomaden 128
Eine Großmacht in der eurasischen Steppe 10.–2. Jahrhundert v. Chr. 128
16. Geheimnisvolle Amazonen 135
Die Gemeinschaft der Kriegerinnen am Schwarzen Meer 1. Jahrtausend v. Chr. 135
17. Die Wolkenkrieger von Peru 144
Was die Chachapoya in den Anden mit Europäern verbindet 8.–15. Jahrhundert 144
18. Die Pyramiden von Teotihuacán 151
Die älteste Metropole Mittelamerikas 1.–8. Jahrhundert 151
19. Vogelmenschen und steinerne Zeugen am Meer 158
Die verschwundenen Kulturen der Osterinsel 800–1500 158
20. Aksum und die Königin von Saba 168
Christen und Juden südlich der Sahara 100–940 168
21. Feenkamine und unterirdische Städte 176
Die frühen Christengemeinden Kappadokiens 1.–11. Jahrhundert 176
22. Zenobia, Königin der Wüste 182
Das Reich von Palmyra gegen das Imperium Romanum 3. Jahrhundert 182
23. Die verlassenen Tempeltürme von Angkor Wat 190
Vishnu und Buddha im Alten Reich der Khmer 802–1431 190
24. Die Zyklopenmauern von Groß-Simbabwe 197
Ein Handelszentrum im südlichen Afrika 11.–15. Jahrhundert 197
25. Geometrische Erdwerke im Regenwald Amazoniens 203
Präkolumbische Großsiedlungen kommen ans Licht 1250–1500 203
Nachweis der Abbildungen und Karten 223
1. Das Geheimnis der Schöninger Speere
Die Jägerkultur des Homo heidelbergensis
Vor 320.000 Jahren
Wir schreiben das Jahr 1994: Im östlichen Teil Niedersachsens, in der Region von Schöningen in der Nähe von Helmstedt, wo Braunkohle im Tagebau gewonnen wird, wird der Erdboden vom Schaufelradbagger viele Meter tief ausgehoben. Archäologen begleiten den Arbeitsprozess und erkunden das Terrain, bevor der Bagger die Bodenschichten aufreißt. In einer Tiefe von zehn Metern finden sie im Oktober einen gut erhaltenen Holzstab. Offensichtlich ist er von Menschenhand bearbeitet und geglättet worden, die Astansätze sind sorgfältig abgetrennt. Seit Anfang der 1990er-Jahre waren Archäologen und Paläobotaniker verstärkt auf der Suche nach Spuren für Jagdtätigkeit des Frühmenschen im einst wildreichen Flusstal der Mißaue.
Die Grabungen wurden intensiv fortgesetzt, und es kamen immer mehr Artefakte ans Licht: Steinwerkzeuge (kleine Faustkeile, Schaber, Spitzen), aber auch weitere Geräte aus Holz. Die Sedimentschicht, in der die Gerätschaften gefunden wurden, barg auch Reste von Pflanzen (Pollen, Samen) und Tierknochen (Wildpferd, Auerochse, Waldnashorn, Hirsch, Wolf). Die Holzgeräte waren nur deshalb erhalten, weil sie am Rande eines prähistorischen Sees (am Fuße des Elm) gelegen hatten, dessen Wasser die Artefakte mit Schlamm überspült hatte, und diese Sedimentschicht war anschließend luftdicht verschlossen geblieben, so dass kein Faulprozess einsetzen konnte, der das Holz zerstört hätte.
Allmählich zeichnete sich für die Archäologen ein sensationelles Szenario ab. Sie waren bei ihrer Grabung auf ein Jägerlager gestoßen. Unter den Artefakten waren acht gut erhaltene Speere – die ältesten Jagdwaffen der Welt. Die Datierung der Holzgeräte und die Pollenanalyse brachten dann eine weitere Sensation: Das Jägerlager datiert in eine interglaziale Periode, in die Reinsdorf-Warmzeit, ein Klimagroßzyklus zwischen der Elstereiszeit (Ende: ca. 350.000 Jahre vor der Jetztzeit) und der Saale-Riß-Kaltzeit (Beginn: ca. 300.000 Jahre vor der Jetztzeit), also lange vor der letzten Eiszeit (Weichsel-Würm-Kaltzeit), die vor etwa 115.000 Jahren begann und vor rund 11.500 Jahren endete.
Es war somit schnell klar, dass dieses Lager in so großer Tiefe nicht vom anatomisch modernen Menschen, dem Homo sapiens stammen konnte. Von der Frühzeit unserer Hominidenspezies wissen wir relativ viel: deren Vertreter gelangten vor rund 42.000 Jahren nach Europa. Ihre Vorfahren kamen aus Afrika, wo ihre Migration vor rund 150.000 Jahren begonnen hatte. Die Route führte durch die Landschaften des Nahen Ostens und durch Anatolien in westlicher Richtung. Der Weg nach Westen war damals noch nicht vom Meer unterbrochen, denn Europa war noch über eine schmale Landbrücke am Bosporus mit Kleinasien verbunden. Die Periode der Landnahme war die letzte Eiszeit. Südosteuropa war eisfrei, und so konnten die Migranten die Waldzone der Balkanregion erkunden und weiter nach Mitteleuropa vordringen, bis zur arktischen Tundra, der Kältesteppe, die sich am Rande des ewigen Eises erstreckte.
Die Jäger machten sich auf ihren Streifzügen schnell mit der vielfältigen einheimischen Fauna Europas vertraut. Da waren der mit dem asiatischen Elefanten verwandte europäische Waldelefant und sein nächster Verwandter, das robuste Mammut, der Steppenelefant. Mammuts ernährten sich von den Gräsern, Flechten und dem Moos der Tundra, die einer verschneiten Savanne ähnelte, mit großflächigem und reichlichem Futterangebot. Die Gräser und Flechten wuchsen während des kurzen arktischen Sommers, wenn die Temperaturen für einige Zeit im Plusbereich lagen und die obere Erdschicht aufgetaut war. Über die Tundra bewegten sich auch Rentiere in großen Herden.
Der Steppengürtel und die gemäßigte Zone, die sich südlich der Tundra ausdehnten, waren von Wildpferden, Höhlenbären, Höhlenhyänen und Höhlenlöwen, Braunbären, Wollnashörnern, Steppenbisons, Auerochsen, Steinböcken und Riesenhirschen bevölkert (Ziegler 2009). Die beliebtesten Jagdtiere forderten das besondere Geschick der Jäger heraus und machten auch das Zusammenwirken im Team erforderlich.
So lernten die Menschen der Eiszeit auch, das Mammut erfolgreich zu jagen, denn ein einziges erlegtes Tier bot eine große Menge an Fleisch, Fell und Knochen, die zum Bau von Behausungen verwendet werden konnten. Die Stoßzähne waren von besonderem Interesse, sie wurden nicht selten mit Ornamenten verziert, oder die Eiszeitjäger schnitzten aus dem Elfenbein Statuetten. Die älteste vom Frühmenschen geschnitzte Figurine ist die Miniaturgestalt einer Frau, die von Archäologen die «schwäbische Eva» genannt wird. Sie wurde mit anderen eiszeitlichen Artefakten im Jahre 2008 an einem Ort auf der Schwäbischen Alb, im Hohlen Fels (Baden-Württemberg), ausgegraben. Es stellte sich heraus, dass diese Funde zwischen 35.000 und 40.000 Jahren alt sind (Conard 2009: 268).
Die damaligen Menschen waren aber nicht die ersten Eiszeitjäger. Denn lange vor ihnen waren schon Vertreter anderer Hominiden-Spezies in Mittel- und Westeuropa auf die Jagd gegangen. In Europa hatten vor der Ankunft des modernen Menschen drei Spezies des Frühmenschen gelebt: der ältere Homo erectus, der Homo heidelbergensis und der späte Neandertaler. Der moderne Mensch ist in Europa nur noch mit dem Neandertaler zusammengetroffen, sie haben teilweise in enger Nachbarschaft und an etlichen Orten, etwa in Südfrankreich und Nordspanien, auch in Kohabitaten gelebt (Otte 2014). Die Annahme sozialer Beziehungen zwischen beiden Spezies findet auch Rückhalt in humangenetischen Erkenntnissen. Neuerdings ist nachgewiesen, dass bis zu 3 Prozent unseres Genbestands vom Neandertaler ererbt sind (Sankararaman et al. 2014).
Die beiden anderen Spezies waren damals bereits ausgestorben. Während der Neandertaler ein zeitlicher und damit entwicklungsmäßiger Vorläufer des anatomisch modernen Menschen ist, rangiert der Heidelberger Mensch entwicklungsmäßig vor diesen beiden Spezies (Grimaud-Hervé et al. 2015: 84ff.). Die Periode, während derer der Homo heidelbergensis in Europa und Afrika verbreitet war, beginnt um 800.000 vor der Jetztzeit und endet vor etwa 100.000 Jahren.
Bis vor wenigen Jahren war der Heidelberger Mensch allein durch Knochenfunde bekannt. Der erste dieser Spezies zugeordnete Knochenrest war ein Kieferknochen, der 1907 nahe der Stadt Mauer (südöstlich von Heidelberg, daher der Name der Spezies) entdeckt wurde. Mit Hilfe weiterer Knochenfunde aus den folgenden Jahren wurde allmählich die Rekonstruktion des Körperbaus möglich. Der Schädel des Heidelberger Menschen zeigt eine Verdickung der Knochen über den Augenbrauen, die Stirn war flach und nach hinten gezogen. Überhaupt war der Schädel länger als der des modernen Menschen mit seiner hohen Stirn. Das Gehirn des Homo heidelbergensis wird auf ein um etwa 10 Prozent kleineres Volumen geschätzt als das des modernen Menschen. Das deutet auf eine entwicklungsmäßige Vorstufe. Was der Heidelberger Mensch mit seinem Gehirn zu leisten im Stande war, darüber konnte man lange Zeit nur spekulieren. Aber die sensationellen Funde vom Rande der norddeutschen Tiefebene brachten in den 1990er-Jahren den Durchbruch für Erkenntnisse über Tätigkeiten und Verhaltensweisen dieser Hominiden-Spezies.
Und damit sind wir wieder im Raum Schöningen und bei den außergewöhnlichen Speeren. An diesem Fundort gab es nur Knochen von Tieren, im nahe gelegenen Bilzingsleben kamen aber auch menschliche Schädelreste ans Licht, ein Unterkiefer sowie einige Zähne. Beide Fundorte datieren in dieselbe Warmzeit, und auch die Artefakte sind sehr ähnlich. Anhand der Schädelreste ließen sich einige Hauptmerkmale rekonstruieren: lang gestreckte Schädelform, stark betonter Überaugenwulst, abgewinkeltes Hinterhaupt.
Durch weitere Untersuchungen ist inzwischen geklärt, dass die Jäger vom Schöninger See tatsächlich Vertreter des Homo heidelbergensis waren. 2015 konnte mit einer Thermolumineszenz-Analyse auch das Alter der Speere präziser eingegrenzt werden: auf 337.000 bis 300.000 Jahre. Das ist die Spätzeit des Heidelberger Menschen.
Die Speere sind verschieden lang, einige 1,80 Meter, andere 2,50 Meter. Einer ist aus Kiefernholz, die übrigen wurden aus geraden, jungen Fichtenstämmen...
Erscheint lt. Verlag | 14.2.2019 |
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Reihe/Serie | Beck Paperback | Beck Paperback |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Historische Romane |
Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Allgemeines / Lexika | |
Geisteswissenschaften ► Geschichte ► Regional- / Ländergeschichte | |
Schlagworte | Amazonas • Amazonen • Baikalsee • Dilmun • Geschichte • Goldland • Kriegerinnen • Kulturen • Osterinsel • Pelasger • punt • Sachbuch • Schwarzes Meer • Steinzeitliche Siedlungen • untergegangen • Vergessen • Weltgeschichte |
ISBN-10 | 3-406-73411-1 / 3406734111 |
ISBN-13 | 978-3-406-73411-3 / 9783406734113 |
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