Nicht aus der Schweiz? Besuchen Sie lehmanns.de

Wale und Nachtfalter (eBook)

Tagebuch vom Leben und Reisen
eBook Download: EPUB
2019 | 1. Auflage
304 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-10090-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Wale und Nachtfalter -  Szczepan Twardoch
Systemvoraussetzungen
9,99 inkl. MwSt
(CHF 9,75)
Der eBook-Verkauf erfolgt durch die Lehmanns Media GmbH (Berlin) zum Preis in Euro inkl. MwSt.
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
'Wale und Nachtfalter' ist ein außergewöhnliches Denk- und Reisetagebuch. Große Erzählkunst - und zugleich ein lebenspralles Bild unserer Zeit. Szczepan Twardoch schreibt nicht nur aufregende Romane, sondern beobachtet die Welt intensiv, mit allen Sinnen und in unterschiedlichen Rollen: als Autor, als Vater und als Reisender in abenteuerlichen Weltgegenden. Sehr persönlich und stilistisch glänzend erzählt er von Krakau und Warschau, von Deutschland und seinen Autobahnen; vom Aufwachsen seiner Kinder; von Ernst Jüngers Haus in Wilflingen oder, ein Höhepunkt des Buchs, vom exotisch kargen Spitzbergen, dem seit langem großpolitisch begehrten Archipel im hohen Norden, wo sich die Dramen der menschlichen Existenz wie unter einem eisigen Brennglas zeigen.

Szczepan Twardoch, geboren 1979, ist einer der herausragenden Autoren der Gegenwartsliteratur. Mit «Morphin» (2012) gelang ihm der Durchbruch, das Buch wurde mit dem Polityka-Passport-Preis ausgezeichnet, Kritik und Leser waren begeistert. Für den Roman «Drach» wurden Twardoch und sein Übersetzer Olaf Kühl 2016 mit dem Brücke Berlin Preis geehrt, 2019 erhielt Twardoch den Samuel-Bogumil-Linde-Preis. Zuletzt erschienen der hochgelobte Roman «Der Boxer», das Tagebuch «Wale und Nachtfalter» und der Roman «Demut», den die NZZ als «Höhepunkt seines Schreibens» bezeichnete. Im Frühjahr 2024 erscheint der Roman «Kälte». Szczepan Twardoch lebt mit seiner Familie in Pilchowice/Schlesien.

Szczepan Twardoch, geboren 1979, ist einer der herausragenden Autoren der Gegenwartsliteratur. Mit «Morphin» (2012) gelang ihm der Durchbruch, das Buch wurde mit dem Polityka-Passport-Preis ausgezeichnet, Kritik und Leser waren begeistert. Für den Roman «Drach» wurden Twardoch und sein Übersetzer Olaf Kühl 2016 mit dem Brücke Berlin Preis geehrt, 2019 erhielt Twardoch den Samuel-Bogumil-Linde-Preis. Zuletzt erschienen der hochgelobte Roman «Der Boxer», das Tagebuch «Wale und Nachtfalter» und der Roman «Demut», den die NZZ als «Höhepunkt seines Schreibens» bezeichnete. Im Frühjahr 2024 erscheint der Roman «Kälte». Szczepan Twardoch lebt mit seiner Familie in Pilchowice/Schlesien. Olaf Kühl, 1955 geboren, studierte Slawistik, Osteuropäische Geschichte und Zeitgeschichte und arbeitete lange Jahre als Osteuropareferent für die Regierenden Bürgermeister von Berlin. Er ist Autor und einer der wichtigsten Übersetzer aus dem Polnischen und Russischen, u.a. wurde er mit dem Karl-Dedecius-Preis und dem Brücke Berlin-Preis ausgezeichnet. Sein zweiter Roman, «Der wahre Sohn», war 2013 für den Deutschen Buchpreis nominiert.

2008


Man schläft, schlief unter freiem Himmel, und wird wach, erwacht sehr früh, weit entfernt von den Städten, im Spätsommer, im August oder Anfang September, wenn die Nächte kalt sind.

Die Sonne scheint bereits, der Tag steht schon beinah in voller Größe, doch die Luft ist noch kühl, das Licht von scharf weißer Färbung. Auf dem Schlafsack sammelt sich Tau. Aus der Asche kringelt sich ein immer dünner werdender Rauchfaden in die Luft. Es ist kalt, wir sind hoch in den Bergen.

Ich habe Kopfschmerzen, schaue auf die Uhr, es ist fünf. Vor mir geht die sibirische Taiga in die mongolische Steppe über.

Gestern war die Wasseroberfläche klar, heute furcht schwacher Wellengang den weißgrauen Teppich. Ich gehe näher hin, bin sehr neugierig, habe aber ein wenig Angst.

Auf dem Wasser schaukeln tote Nachtfalter, groß und fingerdick, sie bedecken die Wasserfläche wie ein weißer Pelz, ihre Flügel weit ausgebreitet.

Ich setze mich ans Ufer, stecke mir die erste Zigarette an, schaue auf die schaukelnden Falter und denke an den Geschmack der eiskalten, dunkelroten Äpfel, gepflückt im Garten meines Großvaters an einem Morgen nach der ersten wirklich kühlen Oktobernacht.

*

In den Nächten gehe ich spazieren. Ein paar Kilometer, sechs, manchmal sieben, eine Stunde oder länger. Rasch, aber kein Lauf, ein Marsch, um elf gehe ich los, die leere Straße hinunter, nur am Kreuzweg lehnen einige Halbwüchsige am Kühlergrill eines alten Vectra, sie rauchen und sagen «guten Abend», leicht verlegen. Vom Asphalt komme ich auf den Schotterweg und gehe über die Felder, die sich zwischen Pilchowice und Stanica hinziehen.

Vor Mitternacht erreiche ich den Unterstand, an dem tagsüber hitzemüde Radfahrer rasten. Vor mir blinken die drei Reihen roter Lichter der gut zehn Kilometer entfernten Schornsteine des Kraftwerks von Rybnik. Unter diesen rot-weiß gestreiften Türmen habe ich Anfang der neunziger Jahre segeln gelernt.

Ich schaue nach Nordosten, am Horizont blinken schlierig orange die dichten Lichter der Stadt, ebenso weit entfernt wie die Schornsteine von Rybnik, dahinter glüht grün wie ein großer Leuchtkäfer das Neonlicht der Tankstelle am Stadtrand, kaum erkennbar, und darüber, am nächtlich hellen Himmel, wächst eine große Wolke empor, ein Cumulonimbus mit einem Fuß wie eine Muschel. Matt orange ist sie, angestrahlt vom Lichterglanz der Zweimillionen-Metropolregion, so wie der Rest der Wolken an diesem blassen, hellen Himmel – denn es ist ein städtischer Himmel, auch wenn rings um mich her nur Feld und Wald sind, wo ich mit meinen Schritten die Rehe aufgescheucht habe; nach irrem, kurzem Galopp sind sie im Gestrüpp verschwunden. Von der Wolke her kommt ein stärker werdender Wind, ich spüre ihn an den Armen und im Nacken, angekündigt vom raschelnden Laub des Zisterzienserwaldes, der sich hinter mir zwanzig Kilometer weit nach Westen erstreckt, bis nach Racibórz. Das Rascheln wird lauter, der Wald rauscht wie ein Fluss. Ich drehe mich um. Über den Bäumen kriechen die Wolken am Himmel entlang und verschlucken die Sterne. Nur über den Schornsteinen von Rybnik leuchtet noch der Sirius. Das Wehen wird heftiger.

Das Rauschen des Windes dringt durch die Kopfhörer. Der Sprecher moduliert seine beunruhigende Stimme, er spielt den Wortwechsel zwischen dem Jungen und dem Mann mehr, als dass er ihn liest, sein Englisch ist überraschend deutlich, vorzüglich artikuliert. Ich hatte Cormac McCarthys Die Straße zuvor in der ausgezeichneten Übersetzung von Robert Sudoł gelesen. Jetzt höre ich das englische Original, und es kommt mir stärker vor, McCarthys kurze Sätze klingen besser im Englischen mit seiner einfacheren Grammatik. Das Buch setzt natürlich auf elementarste Emotionen, vielleicht gar auf Instinkte, doch warum sollte das seinen Wert schmälern? Die Literatur muss das Wichtigste berühren, und McCarthy, der erzählt, wie ein Vater und sein Kind nach der Apokalypse durch die Welt gehen, schreibt über dieses Wichtigste: schreibt vom bedingungslosen Menschsein, vom Zweifel, von der Feigheit, von Tod und Liebe, vom Willen zum Überleben. Und zugleich ist sein Buch, was Literatur sein soll: eine Geschichte, die – wenn man sie in der Nacht hört – Angst macht. Immer wieder muss ich mich umdrehen wie ein Idiot und über meine Schulter blicken, wenn Stiefelsohlen auf dem Kies knirschen und der Sprecher von einem Keller liest, den Kannibalen in eine Speisekammer voller Menschenfleisch verwandelt haben.

Wenige Stunden zuvor war mein Sohn auf meinem Schoß eingeschlafen. Der kleine, in einen bunt gestreiften Anzug gekleidete Körper, das Köpfchen in meiner Ellbogenbeuge, die winzige Hand presst meine Finger zusammen. Ruhig liegt er da und fährt nur manchmal abrupt auf, wenn der Schmerz von den durchs Zahnfleisch dringenden Zähnen in sein noch krabbelndes Bewusstsein dringt. Dann weint er einen Augenblick, strafft sich und wird still. Er hat große Füße mit hohem Spann und kurzen Zehen, so wie ich.

*

Wie soll man reisen? Bronisław Malinowski schreibt am Anfang seiner Argonauten des westlichen Pazifik, es gebe zwei Möglichkeiten, fremde Welten und Kulturen kennenzulernen. Einmal, wenn der Aufenthalt in dem Land nicht allzu lange dauert, denn dann verstellt das Übermaß der Details uns nicht den Blick auf das Ganze; und dann, wenn man die Kultur endgültig durchdrungen hat und eine glaubwürdige Zusammenschau der gesammelten Beobachtungen wagen kann.

Dadurch habe ich vor einiger Zeit begriffen, dass ich trotz der nicht erlöschenden Faszination, trotz meiner Lektüren und Besuche nicht viel zum Thema Russland zu sagen habe. Es fällt mir leicht, die dümmlich-trüben, bei polnischen Journalisten verbreiteten Ammenmärchen vom «finsteren Imperium» sowie von den «ewig betrunkenen Russen mit der Ziehharmonika» zu widerlegen, und ich kann auch über den Versuch lachen, die polnischen Minderwertigkeitskomplexe damit zu heilen, sich den «russischen Kalmücken» gegenüber zivilisatorisch überlegen zu fühlen, aber wenn ich versuchen sollte, Russland zu erklären, weiß ich nichts zu sagen. Ich könnte die Essenz meiner Reisen aufschreiben, dadurch würde der Leser viel über mich erfahren, so gut wie gar nichts aber über Russland, denn ich war, mit Malinowski gesprochen, dort zu lange und gleichzeitig nicht lange genug.

Denn was weiß man von Russland, wenn man es durch die Fenster der Transsibirischen Eisenbahn erfährt?

Ein Internetcafé am Lenin-Denkmal in Irkutsk. Der Genuss der holzgeheizten Dampfsauna nach gut drei Tagen im Zug, mit sibirischem Flusswasser, das nach Birkenrauch und billiger Seife duftet. Japanische Luxusautos mit dem Lenkrad auf der rechten Seite, von denen es am Baikal mehr gibt als die dem Rechtsverkehr angepassten Ladas, Wolgas und UAZs. Kreml, Café Arbat, Puschkin-Denkmal. In Kopftücher und Jacken gehüllte Mütterchen, die an den sibirischen Bahnhöfen, wo die Transsib gerade mal ein paar Minuten hält, heiße Kartoffeln in Alufolie verkaufen, siedendes Wasser aus dem Samowar in jedem Waggon, dazu die Zugbegleiterin, die die Seriosität von Herrschaft und Staat verkörpert.

Das sind nur Klischees, das ist nur ein gespiegeltes, nicht das wahre Russland, ein Russland, wie der polnische Leser es sehen möchte; so echt wie die winzige Moskau-Reklame auf Mobiltelefonen.

Ich habe etwas anderes Russisches gefunden, weit jenseits des Polarkreises, am achtundsiebzigsten Breitengrad. Auf norwegischem Territorium, unter der durch den Pariser Vertrag festgelegten norwegischen Hoheit – in Spitzbergen also, von den Norwegern Svalbard genannt, da sie den Namen «Spitsbergen» der größten Insel des Archipels vorbehalten, was die anderen europäischen Staaten aber wundersam ignorieren.

Der in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts unterzeichnete Vertrag sprach diesen polaren, wenngleich vom Golfstrom erwärmten und deshalb einigermaßen eisfreien Archipel Norwegen zu, unter dem Vorbehalt, dass alle anderen Unterzeichnerstaaten das Recht haben, auf Svalbard jede beliebige Wirtschaftstätigkeit zu betreiben. Das Recht dazu nutzen im Grunde nur die Russen, die die Bergbausiedlung Barentsburg unterhalten – und es war in Barentsburg, dass ich einen Krumen Wahrheit über Russland fand.

Barentsburg war von den Amerikanern und Holländern gegründet worden, in den zwanziger Jahren kaufte der sowjetische Trust Arktikugol die Grundmauern der Siedlung, in den dreißiger Jahren wurde die Kohleförderung begonnen, dann fielen die Geschosse des Panzerkreuzers Tirpitz auf die evakuierte Siedlung, und nach dem Krieg wurde sie in der Form wiederaufgebaut, in der man sie heute sieht. Auf dem Höhepunkt der sowjetischen Präsenz auf Spitzbergen wurde in Barentsburg ein großes Treibhaus betrieben, das einerseits frisches Gemüse lieferte, andererseits den sowjetischen Bergleuten – Russen und Ukrainern aus Donetzk und dem Donbass – als Erholungsort von der kargen Tundralandschaft diente. Es gab Viehställe, Koben und Hühnerställe, eine Bäckerei, ein großes Sportzentrum mit Fußballplatz und Schwimmbecken. Wohnblöcke aus merkwürdig gelbem Ziegelstein. Dieses alte Barentsburg betrachte ich durch das Objektiv des sowjetischen Fotografen, der 1979 in Moskau ein Album mit dem Titel Spicbergen: Das Land der spitzen Berge – strana ostrich gor – veröffentlicht hat. Noch vor dem Ende der Glanzzeit, auf aufsteigender Welle – man sieht Neubauprojekte, die spektakulärsten Gebäude wachsen erst empor, durch die vom Schnee freigefegten kleinen Straßen gehen magere, fröhliche...

Erscheint lt. Verlag 16.4.2019
Übersetzer Olaf Kühl
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Autobiografie • Bücher aus Polen • Ernst Jünger • Familie • Literatur aus Polen • Polen • Polnische Literatur • Reisen • Spitzbergen • Tagebuch • zeitgenössische Belletristik
ISBN-10 3-644-10090-X / 364410090X
ISBN-13 978-3-644-10090-9 / 9783644100909
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 717 KB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Roman

von T.C. Boyle

eBook Download (2023)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
CHF 20,50