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Lubotschka (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2019 | 1. Auflage
256 Seiten
Aufbau Verlag
978-3-8412-1715-8 (ISBN)
Systemvoraussetzungen
16,99 inkl. MwSt
(CHF 16,60)
Der eBook-Verkauf erfolgt durch die Lehmanns Media GmbH (Berlin) zum Preis in Euro inkl. MwSt.
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»Diese mal witzige, mal tieftraurige Flaneurin dabei zu begleiten, wie sie nach jedem Fünkchen Erfahrung sucht, ist ein Erlebnis, das man nicht so schnell vergisst.« Alina Herbing.

Sankt Petersburg zu Beginn der Nullerjahre, mehr Jahrtausendwende geht nicht: mit einem Auge schielt die Stadt in die mondäne zaristische Vergangenheit, mit dem anderen ins turbokapitalisierte Europa und Amerika. Immer neue Designerboutiquen eröffnen auf dem Newski Prospekt, während die Märkte von chinesischen Billigkopien geflutet werden. Auch Lubotschka steht an einem Wendepunkt: sie macht ihren Schulabschluss, sie wird 18 - und sie wird die geliebte Stadt mit ihrer Mutter gen Deutschland verlassen müssen. Aber nicht, ohne vorher ihr zartes Leben im großen Stil vor der anmutigen Stadtkulisse von Newa und Fontanka zu verschwenden. 

»Lubotschka« ist ein Roman über das Abschweifen, die Jugend und die Heimat, erzählt in einem unnachahmlichen Sound zwischen Tradition und Moderne. 

»Kraftvoll, sprachgewaltig, in die Haut schneidend - ein mitreißender Debütroman zwischen Abgrund und Aufbruch.« Kevin Kuhn.



Luba Goldberg-Kuznetsova ist 1982 in Leningrad geboren. Sie studierte in Düsseldorf und Kyoto Philosophie und Modernes Japan, außerdem Literarisches Schreiben in Hildesheim. Mit ihren YouTube-Interviews vom Ingeborg-Bachmann-Preis 2015 sorgte sie im deutschsprachigen Literaturbetrieb für Aufsehen. Um diese drehen zu können, hat sie das Radfahren gelernt. »Lubotschka« ist ihr erster Roman. Sie lebt in Berlin.

Luba Goldberg-Kuznetsova ist 1982 in Leningrad geboren. Sie studierte in Düsseldorf und Kyoto Philosophie und Modernes Japan, außerdem Literarisches Schreiben in Hildesheim. Mit ihren YouTube-Interviews vom Ingeborg-Bachmann-Preis 2015 sorgte sie im deutschsprachigen Literaturbetrieb für Aufsehen. Um diese drehen zu können, hat sie das Radfahren gelernt. »Lubotschka« ist ihr erster Roman. Sie lebt in Berlin.

Als er klingelte, machte sie auf und schmiss ihn von der Treppe. Wir wohnen im Erdgeschoss, deshalb waren es nur fünf Stufen. Aber trotzdem habe ich genau gesehen, dass sie ihn wie ein dünnes Bäumchen bei den Schultern gepackt und heruntergestoßen hat, und wie er gefallen ist. Das Geräusch des Sturzes war ein dumpfes mit Glassplittern. Seine Brille zerbrach, und darüber fluchte er wirr und laut. Der Schmerz des Sturzes dagegen schien ihm nichts auszumachen. Er stand dann noch lange vor unserem Küchenfenster und drohte, die Mutter zu verklagen. Ich lag auf dem Bett in meinem dunklen Zimmer und hörte ihm zu.

Nachdem sie ihn dann bei einer weiteren Gerichtsverhandlung gesehen hatte – es gab immer wieder welche – erzählte sie nicht unzufrieden, sondern lachend, dass er mit einer Damenbrille aufgekreuzt war und wie ein Zahnloser nuschelte. In seiner immerwährenden Schultertasche sah sie das Buch, das er las, als sie sich kennengelernt hatten – Hundert Jahre Einsamkeit.

Ein himmelblauer Briefkasten hängt vor unserer Haustür. Die Tür selbst ist rotbraun und fällt mit einem Geräusch zu, das früher unwiderstehlich nostalgische Gefühle in mir hervorrief, wenn ich lange nicht zuhause war und daran dachte.

Manchmal hört man einen Zug in der Ferne der Station vorbeifahren, vom Baltischen Bahnhof zum Peterhof oder zurück. Die Station ist zehn Minuten zu Fuß entfernt. Jemand raucht im Waggonflur, jemand isst Sahneeis mit einem Holzstäbchen aus einem Pappbecher.

Das an den äußeren Kanten schwarze und vorne angenehm vergilbte Radio, das schon mein Leben lang in der Küche steht und nur die eine Radiostation kennt, und an dem man sonst nur die Lautstärke regulieren kann, beendet jede Stunde mit denselben Tönen, von denen ich träumte, als ich in die Sommerlager geschickt wurde: erst das Piepen der Stunden, und dann der Refrain der Moskauer Nächte.

Im August lasse ich mich von der Mutter auf ein Kwasfass einstellen. Ich sitze vor dem gelben Fass im Schatten eines Sonnenschirms und lese Naked Lunch, wenn es kühl ist, wenn es regnet, und keiner da ist. Wenn es heiß ist, zapfe ich Kwas aus dem Hahn für ganze Schlangen von Durstigen. Die Mutter sitzt an ihrem Kwasfass am anderen Ende der Brücke. Sie gibt einem kleinen Jungen Kwas aus, damit er mit seinem Rad zwischen uns hin und herfährt, und wir Notizen austauschen können.

»Wie läuft es denn, meine Kleine?«, schreibt die Mutter, im besten Wissen, dass ich im Winter achtzehn werde. »Hat mit dem Hahn alles geklappt? Hab keine Angst. Wer nicht nett und höflich ist, dem musst du nichts verkaufen. Du bist der Boss. Wenn du eine Pause machen willst, schließ das Fass mit dem Hängeschloss und geh was essen. Kannst du eigentlich jederzeit. Gegen zwei Uhr kommt ein nettes Ehepaar vorbei mit warmem Essen. Sie sind auch sehr gut! Also wenn sie kommen, kaufe unbedingt bei ihnen Kotleta21 mit Kartoffelpüree! Sie machen alles selbst, und es ist sehr lecker! Wenn du sonst irgendwas brauchst, frag Swetlana am Zeitungsstand. Bei ihr kannst du auch Zeitschriften umsonst lesen! Kuss, Mama.«

Swetlana fehlt ein Vorderzahn, die anderen sind grau. Sie hat blasse dicke großporige Haut, dichte dunkle Haare mit einem Pony, den sie sich bestimmt selbst schneidet, und sie raucht die ganze Zeit. Ihr Blick ist düster und ihre Witze grob.

»Haben Sie zufällig die Milchfrau gesehen?«, frage ich sie an einem Nachmittag, weil ich am selben Morgen diese Milchfrau kennenlernte. Für die ist es der erste Tag. Sie hat erzählt, wie sie mit ihren Freunden eine Wette abschloss, dass sie sich traut, nur in einem roten Unterkleid durch ganz Newski zu gehen. Ich wollte noch das Ende der Geschichte hören.

»Sie fickt!«, sagt die dunkelhaarige Swetlana, und ihre Augen glänzen auf eine unheimliche Weise. Ich weiß nicht, ob sie triumphiert oder neidisch ist. Sie öffnet den Mund mit dem fehlenden Vorderzahn und zieht an ihrer Zigarette und zeigt auf den Lastwagen, aus dem ein Südländer sonst Kartoffeln verkauft und der auf einmal zu ist.

Wenn ich mich entscheide, eine Pause zu machen, kaufe ich in einem Kiosk von einem anderen Südländer eine aromatische Schawerma, deren Duft den ganzen Tag zwischen den Kiosken über dem Platz vor der Metro weht. Neider und Neurotiker sagen, er wäre künstlich und die Südländer würden ihn überall aus der Sprühflasche zerstäuben, um Kunden anzulocken. Das stört mich ebenso wenig wie Zwiebeln und Knoblauch in den Bestandteilen. Ich trinke Kwas dazu.

Abends kommt die Mutter vom anderen Ende der Brücke und hilft mir, alles abzuschließen. Sie sammelt die benutzten Plastikbecher zu langen Kolonnen und packt sie in die schwarze Sporttasche aus Nylon. Die hängt sie sich über die Schulter, und wir fahren mit dem Bus nach Hause.

Ich gehe auf mein Zimmer und lese Naked Lunch oder Journal du voleur, während sie die Becher in der Badewanne einweicht und die beiden Abrechnungen macht, für mich und für sie. Sie hasst diese Bücher, die ich lese, obwohl sie sie nie gelesen hat. Ihr reicht schon ein kurzer Blick hinein, um sie zu verdammen. Sie macht immer ein Gesicht, wenn ich die Autoren erwähne. Einmal hat sie mein neues Exemplar von Miracle de la rose geklaut und angeblich verbrannt, noch bevor ich es lesen konnte. Ich habe es nie gefunden.

Wenn sie dann die Becher gespült hat, komme ich und helfe ihr, die frischgewaschenen Wegwerfbecher zum Trocknen auf allen horizontalen Flächen aufzustellen. Es sei denn, sie vergisst, mich zu rufen.

Von meinem ersten selbstverdienten Geld kaufe ich mir noch mehr Bücher von den verbotenen Autoren. Ich nehme sie alle mit nach Deutschland. Und außerdem kaufe ich mir sonst alles, was mir gefällt, wenn ich aus dem Haus gehe.

Ansonsten verbringe ich den Sommer mit Aufnahmeprüfungen an der Petersburger Universität, an der Journalismus-Fakultät – nur für den Fall, dass ich es mir mit der Ausreise nach Deutschland im März im letzten Moment anders überlege oder sonst was Unerwartetes passiert. Bei Fakultäten wie dieser weiß ich, dass es ohne eine Packung Dollarscheine oder einen Anruf von einem machtvollen Freund unmöglich ist, einen staatlich finanzierten Platz für ein Vollzeitstudium zu bekommen. Höchstens einen Teilzeit- oder privat finanzierten Platz. Trotzdem versuche ich es.

Erst sind die standardisierten Staatsprüfungen dran: ein Aufsatz in der russischen Literatur, eine mündliche Prüfung in Geschichte, in die ich es irgendwie schaffe, ein Lehrbuch zu schmuggeln und es auch zu benutzen. Und dann die eigentliche, wichtigste Prüfung: in Journalismus. Sie besteht aus einem journalistischen Text, den man vor Ort im Auditorium verfassen muss, und einem Aufnahmegespräch danach.

Im Prüfungsschein, den ich ziehe, stehen zwei Themen zur Auswahl: der Job meiner Träume und mein Lieblingshaustier. Das mit dem Traumjob ist mir zu früh, ich schwebe im Moment noch zwischen Filmstar und einer Vollzeitreisenden. Also schreibe ich über meinen Kater, den mir die Mutter als kleines Katzenbaby geschenkt hatte. Sie hatte ihn in einem Karton, zusammen mit seiner Mutter und drei Geschwistern, auf irgendeiner Treppe in einem Haus nicht weit von ihrem Kwasjob im Frühling, letztes Jahr, gefunden. Zuhause stellte sich bald raus, dass das Katzenbaby Flöhe hatte. Sie sprangen durch die ganze Wohnung und erreichten dabei die Springhöhe von bis zu dreißig Zentimetern und bissen uns in die Beine. Meine Beine waren voll von weißen kleinen Bläschen der frischen Stiche und kleinen roten Punkten der abheilenden. Die Flöhe waren schwarze Punkte, die herumsprangen – es war unmöglich, einen zu fangen. Sie bissen auch das Katzenbaby und setzten unter die Haut um seine kleinen rosa Öhrchen und in seiner Unterwolle ihre widerlichen Flohlarven. Sie nährten sich von seinem Blut und schissen rotbraune Punkte aus – Katzenbabyblut, das durch den Flohverdauungstrakt durchgegangen war. Diese rotbraunen Punkte waren auch in der Unterwolle und rund um seine Öhrchen.

Das Katzenbaby weinte traurig, beklagte sich über die schmerzhaften Bisse und den Juckreiz. Es tat mir leid. Ich selbst tat mir auch leid. Die Bisse waren wie Nadelstiche, die sofort anfingen, unheimlich zu jucken. Ich beklagte mich die ganze Zeit, die Mutter dagegen kaum.

Sie kaufte in der Hauswarenabteilung eine Sprühdose Dichlorvos und besprühte damit die ganze Wohnung, ohne eine Ecke auszulassen. Dann ging sie zu einer weiteren Schicht am Kwasfass. Ich war in der Schule. Das waren die letzten Tage vor den Sommerferien, und ich wusste noch nicht, dass ich schon wieder in ein Sommerlager geschickt werden würde. Deshalb genoss ich die Tage trotz meines Hasses auf die Schule. Sie waren die glücklichsten, voller Hoffnung auf Freiheit. Als ich dann nach Hause kam, stank die ganze Wohnung nach Dichlorvos und überall lagen Zeitungen, auf den Böden und auf den Tischen, um die toten Flöhe aufzufangen. Und wirklich lagen viele schwarze Punkte auf den Zeitungsseiten, und nichts sprang mehr hin und her.

Das Katzenbaby lag in der Ecke und atmete kaum. Seine Augen waren halb geschlossen. Ich öffnete alle drei Fenster – eins in der Küche, eins im Wohnzimmer und eins in meinem Zimmer – ließ die frische Luft rein und nahm das Katzenbaby in die Hände. Es war wie eine verwelkte Blume. Es wehrte sich nicht dagegen, in die Hände genommen zu werden, wie sonst immer. Sein kleiner Körper, der ganz auf meine Handfläche passte, erschlaffte. Sein Köpfchen hing willenlos runter.

Die Mutter kam in diesem Moment auch zurück und wurde grimmig, als sie meine Tränen sah....

Erscheint lt. Verlag 15.3.2019
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Auswanderer • Coming-of-age • Debüt • Einwanderer • Erwachsenwerden • Familiengeschichte • Flaneurroman • Hildesheim • Jüdisch • Jüdische Emigration • Jugend • Ostblock • Popliteratur • Russland • Spätaussiedler • Stadtgeschichte • St. Petersburg
ISBN-10 3-8412-1715-X / 384121715X
ISBN-13 978-3-8412-1715-8 / 9783841217158
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