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Warten auf Kafka (eBook)

Eine literarische Seelenkunde Tschechiens

(Autor)

eBook Download: EPUB
2019
224 Seiten
Luchterhand Literaturverlag
978-3-641-22294-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Warten auf Kafka - Martin Becker
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»Was man hier erlebt, das ist manchmal so absurd wie in einem Theaterstück von Václav Havel. Oder vertrackt wie in einer Erzählung von Franz Kafka. Sie finden, ich übertreibe? Dabei habe ich doch noch gar nicht angefangen. Außerdem: Die Geschichten stimmen vielleicht nicht immer alle hundertprozentig, aber dann hätten wir uns nicht in der Kneipe treffen dürfen, wenn Sie die absolute Wahrheit hören wollen.« Martin Becker versammelt Biographien und Geschichten tschechischer Autorinnen und Autoren und verbindet sie in seinen Essays mit leichter Hand zu einer literarischen Seelenkunde des Landes.

Es sind Geschichten vom Ankommen und vom Abschied. Vom Bleiben, obwohl man es nicht mehr erträgt. Vom Gehen, obwohl man lieber bleiben möchte. Von unwahrscheinlichen Begegnungen und vom Humor, vom Zauber und von der Melancholie. Beckers Buch lädt ein, Tschechien aus einem anderen Blickwinkel zu erleben und sich in der eigenwilligen Literatur des Landes zu verlieren.

Martin Becker wurde 1982 geboren und wuchs in der sauerländischen Kleinstadt Plettenberg auf. Er kommt aus einer Arbeiterfamilie aus dem Ruhrgebiet, sein Vater war Bergmann und seine Mutter Schneiderin. Er ist freier Autor für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk und berichtet in Features und Reportagen unter anderem aus Tschechien, Frankreich, Kanada und Brasilien. 2007 erschien sein mehrfach ausgezeichneter Erzählband »Ein schönes Leben«, 2014 sein Roman »Der Rest der Nacht«, 2017 sein Roman »Marschmusik« und 2021 »Kleinstadtfarben«. Martin Becker lebt mit seiner Familie in Halle (Saale).

Ganz klein, ganz groß?

Eine Annäherung an das tschechische Erzählen

»Herzlich willkommen im Land der Geschichten.« Seit einigen Jahren begrüßt die offizielle tschechische Tourismusagentur Besucherinnen und Besucher mit einer einfachen Botschaft: »Czech Republic – Land of Stories.« Normalerweise würde man einen solch lieblosen Spruch den Verantwortlichen aus der Werbebranche um die Ohren hauen. Man würde dem Geld nachtrauern, das für diese schlichte Botschaft aus dem Fenster geworfen wurde, Geld, mit dem man so viel Besseres hätte anstellen können. Ich weiß, ich weiß, Geschichten sind schön und gut, Geschichten gehen immer – aber welches Land hat denn keine zu bieten, egal, ob gute oder schlechte oder langweilige? Würde man als Staat nicht viel eher auffallen, wenn man sich als »Land ohne Geschichten« bezeichnete? Land der Geschichten, und das in der Konkurrenz mit den größeren und großen Nachbarländern, von denen manche sogar über ein Meer verfügen und somit, entschuldigt, liebe Nachbarn, über ein stark erweitertes Erzählpotenzial? Ist das wirklich euer Ernst? Ja, ihr meint es ernst. Bierernst sogar. Das »Land der Geschichten« ist nämlich durch und durch ein Land der Geschichten. Mit Leib und Seele. Ganz und gar. Das hat mich immer schon an Tschechien fasziniert: dass man gar nicht viel tun muss, um in den Sog des Erzählens zu geraten, um in diesem Prag und in diesem Land andauernd Geschichten erzählt zu bekommen, Geschichten zu erleben oder sogar selbst Geschichten zu schreiben, grotesk, originell, absurd, unglaublich – und nicht selten alles zugleich.

Mich hat das sogenannte »Land der Geschichten« schon als kleines Kind beschäftigt, vollkommen unbewusst natürlich, aber doch sehr früh. Mal auf gute, mal auf weniger gute Weise. Letztlich haben diese frühzeitigen Begegnungen mit der tschechischen Kultur meinen Blick auf das Land von Anfang an geprägt: In den Achtzigern sah ich Serien und Filme aus der Tschechoslowakei im Westfernsehen – natürlich »Drei Haselnüsse für Aschenbrödel«, selbstverständlich ebenso die Geschichten von Herrn Tau, der kraft seiner Fantasie und auf geradezu magische Weise schrumpfen konnte, wenn es ihm gefiel. »Pan Tau« war, obwohl mir der freundliche Herr in seinem makellosen Anzug durch seine Stummheit mitunter unheimlich war, eine Figur wie aus dem Paradies.

Direkt aus der Hölle hingegen kam für mich an einem Nachmittag vor dem Fernseher – ich war damals im Vorschulalter – die böse Frau Not, für mich die persönliche Gegenspielerin des guten Herrn Tau. Das filmische Puppenspiel »Paní Bída«, gedreht im Jahr 1983, hat mir damals tatsächlich ein veritables Trauma zugefügt. Das kreide ich natürlich eher meiner anfälligen Konstitution als der exzellenten Arbeit der Regisseurin Vlasta Pospíšilová an – oder anders, vielleicht hat mir dieser tschechoslowakische Alptraum in Puppenspielform deshalb jahrelange Angstzustände beschert, weil er so präzise ist in der Darstellung der Grausamkeit. »Frau Not« ist eine Geschichte, die ganz der Gesetzmäßigkeit sozialistischer Erziehung zu gehorchen scheint: Die Not kommt als alte Frau mit Kopftuch zur arglosen Familie eines Handwerkers, nachdem der König ihr keinen Einlass gewährt hatte. Sie lässt Mäuse aus ihren Schuhen, zerstört das Haus der Familie und wirft einen Galgen als Erinnerung in die Verwüstung hinein. Überall, wo sie auftaucht, hinterlässt sie Elend, Panik und Schrecken. Sogar den dicken, faulen und raffgierigen König treibt sie in den Tod. Aber gegen die Not, liebe Kinder, so die Moral des Films in den letzten Szenen der für ein Kind sehr langen Viertelstunde, ist ein Kraut gewachsen. Man muss nur fleißig sein. Als Frau Not nämlich zur Handwerksfamilie zurückkehrt und das gerade wieder hergerichtete Haus erneut ruinieren möchte, da werden ihr Werkzeuge gereicht – doch gegen Arbeit ist die Not allergisch, versagt auf ganzer Linie und rennt davon. Die Grausamkeit der Not hatte ich noch erfassen können – die Wendung hin zum Guten hingegen ging an mir vorbei, ich war so erschrocken, dass ich jahrelang mit niemandem über die Begegnung mit Frau Not sprach. Die Intensität dieser tschechoslowakischen Geschichte aus einem nicht real existierenden Land der Märchen wurde fast ein Jahrzehnt später abgelöst von einem anderen, noch intensiveren Horror aus Prag, zumindest wurde uns das in der Schule so beigebracht. Nach den ersten Kurzprosatexten war ich hin und weg. In dieser Form war mir das noch nie passiert: dass Literatur heftig auf mich einschlug wie eine Axt auf ein gefrorenes Meer. So etwas wie Kafka hatte ich noch nie erlebt – und es sollte in dieser extremen Ausprägung auch nicht mehr passieren. So entstand nicht nur der Wunsch, selbst Autor zu werden (tatsächlich war es Kafka, der das auslöste, aber bei wem war es Kafka nicht?), zugleich begann ich, mir über dieses offenkundig seltsame Prag Gedanken zu machen. Weil die übliche westdeutsche Klassenfahrt nach Prag nicht vorgesehen war, imaginierte ich ein goldenes Bild der Goldenen Stadt: verwunschene Gassen und noch verwunschenere Gässchen, emsige Menschen in Kleidung aus der Zeit um die Jahrhundertwende, überall Kutschen und natürlich Kafkaesken. Na gut, dass es Bierstuben in Prag gibt und Kneipen, das bekam ich mit, aber es sollte wiederum fast ein Jahrzehnt vergehen, bis ich das erste Mal in einer solchen Kneipe saß – und ich neben dem Horror mit sozialistischem Antlitz und der gigantisch komischen Alptraumwelt der Samsas und Roßmanns noch weitere wesentliche Spielarten des tschechischen Erzählens kennenlernte.

Die Kneipe war und ist für ein tiefergehendes Verständnis ein wunderbarer Initiationsort: Dort spielen nicht nur auffällig viele Kurzgeschichten und Bücher, dort kann man sie auch hören, die unglaubwürdigsten Erlebnisse, die einem selbst Freunde gern mit erhobenen Fingern schwörend erzählen – und deren Wahrheitsgehalt dennoch von Bier zu Bier immer stärker angezweifelt werden kann.

Am Rande: Natürlich stellt man im Laufe der Jahre häufig fest, dass ausgerechnet die kuriosesten Räuberpistolen wirklich stimmen, dass das, was sich der Typ da beim Bier zusammenfabuliert, einer Wahrheit entspricht, die jede Fiktion um Längen schlägt.

Die Kneipe als Refugium, die Kneipe als Ort, an dem im Laufe der Jahrhunderte ohne Angst vor Repressionen Tschechisch gesprochen werden konnte, die Kneipe als erstes Wohnzimmer, weil die eigene Wohnung viel zu klein ist: In der Tat ist das ein tschechischer Topos, der die Kultur des Landes nach wie vor prägt – ein Mythos, an dem selbst strenge Rauchverbote, Warnungen vor übermäßigem Alkoholkonsum und eine strenge Registrierkassenpflicht für jedes einzelne Bier in den letzten Jahren nicht rütteln konnten. Untrennbar damit verknüpft ist der Alltag, aus dem heraus typisch tschechische Geschichten entstehen und auch die sind eben nicht einer engen Idee von Realismus verhaftet: Die Fantasie ist durchaus frei, und die Kraft der Ausschmückung hat ein niemals zu unterschätzendes Potenzial. Sogar dem ganz alltäglichen Kulturjournalismus liegt eine spezifische Art zugrunde, die Welt zu sehen. Warmherzig und mit Witz und mit einem geschärften Bewusstsein für skurrile Details. Selbstverständlich mit einem steten Hang zur Melancholie, selbstverständlich mit einem überragenden Sinn fürs Komische, der in Mitteleuropa seinesgleichen sucht. So verschieden und so hart und so schlimm die Themen auch mitunter sein mögen, die verhandelt werden – Humor ist geradezu Voraussetzung für eine in Tschechien gebraute Erzählung. Die originellste Geschichte hätte allerdings keine Chance, sich durchzusetzen – wenn da nicht ebenso originelle Figuren wären. Diese fröhlichen und verrückten Scharen von Außenseitern und Getriebenen, diese unüberschaubare Zahl an kleinen und großen Verlierern, die ihrer Existenz dennoch ein Stück Würde abgewinnen können und die mit einer enormen Zuneigung beschrieben sind. So sind sie, die typisch tschechischen Helden, die Bahnwärter und die Soldaten, die Klinikärzte und die Papierpresser, die Zoowärter und die Schläger, die immer mit viel Pech auf der falschen Seite gestanden haben: von der Geschichte überrollt, im eigenen Leben komplett verloren, aber trotzdem noch da, aber trotzdem noch längst nicht bereit, für immer zu schweigen. Sich selbst nicht allzu ernst nehmend, den Lauf der Welt sowieso nicht. Was soll man auch tun, außer einen Witz aus dem Elend zu zimmern, das uns umgibt?

Das alles sagt etwas aus über das tschechische Selbstbild: Immer wieder ist das kleine Land im Laufe der Jahrhunderte fremdbestimmt gewesen, immer wieder gab es schmerzliche Niederlagen zu verkraften, immer wieder wurde die Leidensfähigkeit des Volkes hart auf die Probe gestellt – sei es in jüngerer Geschichte durch die brutale Herrschaft der Nationalsozialisten, sei es danach durch die düstere Zeit des Kommunismus, in der das Aufkeimen von Freiheit und Selbstbewusstsein bei der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 von russischen Panzern erdrückt wurde. Die tschechischen Bücher, die mich fasziniert haben, sind direkt oder indirekt mit diesen historischen Umwälzungen verbunden – die Geschichte hat Geschichten geschrieben.

Diese Grundpfeiler des tschechischen Erzählens – und somit auch der tschechischen Literatur – reichen weit bis in die Praxis des zeitgenössischen Schreibens hinein. Schaut man sich eine möglichst repräsentative Auswahl tschechischer Gegenwartsliteratur an, fallen schon auf den ersten Blick gemeinsame Themen auf: Fast alle Texte spielten irgendwann in der Dorfkneipe oder in einer Prager Bar, fast aus jeder Geschichte schaute...

Erscheint lt. Verlag 11.3.2019
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Essays / Feuilleton
Schlagworte Bohumil Hrabal • Božena Němcová • eBooks • Franz Kafka • Gustav Meyrink • Jaroslav Rudiš • Karel Čapek • Lenka Reinerová • Literaturgeschichte • Mentalitätsgeschichte • Milan Kundera • Petr Hruška • Seelenkunde • Tschechien • Tschechische Bibliothek • Václav Havel
ISBN-10 3-641-22294-X / 364122294X
ISBN-13 978-3-641-22294-9 / 9783641222949
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