Gott wohnt im Wedding (eBook)
432 Seiten
Penguin Verlag
978-3-641-22536-0 (ISBN)
Im ehemals roten Wedding, diesem ärmlichen Stadtteil in Berlin, steht in der Utrechter Straße ein altes Haus. Sie alle sind untereinander und schicksalhaft mit dem Gebäude verbunden: Leo, der nach 70 Jahren aus Israel nach Deutschland zurückkehrt, obwohl er das eigentlich nie wollte. Seine Enkelin Nira, die Amir liebt, der in Berlin einen Falafel-Imbiss eröffnet hat. Laila, die gar nicht weiß, dass ihre Sinti-Familie hier einst gewohnt hat. Und schließlich die alte Gertrud, die Leo und seinen Freund Manfred 1944 in ihrem Versteck auf dem Dachboden entdeckt, aber nicht verraten hat.
Regina Scheer, die großartige Erzählerin deutscher Geschichte, hat die Leben ihrer Figuren zu einem bewegenden Roman verwoben, voller Wahrhaftigkeit und menschlicher Wärme.
Regina Scheer, 1950 in Berlin geboren, studierte Theater- und Kulturwissenschaft an der Humboldt-Universität. Von 1972 bis 1976 arbeitete sie bei der Wochenzeitschrift «Forum». Danach war sie freie Autorin und Mitarbeiterin der Literaturzeitschrift «Temperamente». Nach 1990 wirkte sie an Ausstellungen, Filmen und Anthologien mit und veröffentlichte mehrere Bücher zur deutsch-jüdischen Geschichte, u.a. «Im Schatten der Sterne» (2004). Ihre ersten beiden Romane, «Machandel» (2014) und «Gott wohnt im Wedding» (2019), waren große Publikumserfolge. Ihr neuestes Buch, «Bittere Brunnen», wurde 2023 mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet.
1
DER MANN IM TRENCHCOAT mit Hut sieht aus wie einem alten Film entstiegen, nur ist sein Stock kein eleganter Gehstock, sondern eine gewöhnliche Krücke. Er steht vor der Liebenwalder 22 und beugt sich über das Straßenpflaster, als könne er in den buntgeäderten Steinen etwas erkennen. Der Regen war kurz und heftig, nun liegt wieder die Sommerhitze über den Straßen, das Wasser hat Plastiktüten, Papier, Zerbrochenes und Erbrochenes, auch den Hundedreck an die Ränder gespült, wo sich der Unrat staut. Die Granitpflastersteine schimmern jetzt feucht in allen Grautönen, mit rosa und bunten Adern.
Hinter dem Mann tritt ein jüngerer in die Tür, sieht den in seine Betrachtung versunkenen Alten, spricht ihn mit Mister Lehmann an und macht ihn auf Englisch darauf aufmerksam, dass die Stolpersteine aus Messing ein paar Meter weiter, vor der Nummer 16, zu finden seien. Denn die suche er doch sicher, da sei ein Judenhaus gewesen.
»Mit mir könnse Deutsch reden. Und ick suche keene Stolpersteine«, antwortet der andere.
»Ich dachte nur, weil Sie doch aus Israel …«
»Det warn hier außerdem allet Judenhäuser.«
Sein Berlinisch klingt wie aus einer anderen Zeit, er merkt es selbst. Heute redet man offenbar im Berliner Wedding anders Deutsch, durchsetzt mit schwäbischen und bayrischen Klängen, aber auch Türkisch, Englisch, Russisch, sogar Fetzen von Arabisch und Iwrith hat er gehört, als er gestern Abend ankam. Seine Enkelin Nira, die wenig Deutsch versteht, konnte sich mit dem Taxifahrer und den jungen Serviererinnen des Cafés an der Ecke mühelos verständigen. Sie zog auch noch los, nachdem sie vom Abendessen in ihre Hotelzimmer zurückgekommen waren, nach Kreuzberg wollte sie oder in den Prenzlauer Berg, ihre Freunde haben ihr die Namen von Cafés und Klubs aufgeschrieben, die sie unbedingt kennenlernen soll in den Wochen ihres Aufenthalts hier in dieser Stadt, aus der ihr Großvater kommt.
Jetzt, am Vormittag, schläft Nira noch und Leo Lehmann will ein paar Schritte gehen. Er hat nicht gewusst, dass Nira ausgerechnet im Wedding Hotelzimmer bestellte; als er hier wohnte, von seiner Geburt an immerhin knapp zwei Jahrzehnte, gab es in dieser Gegend keine Hotels. Aber Nira weiß gar nichts über den Wedding, das »Steps« hat sie im Internet gefunden, es warb mit seiner Lage in Berlin-Mitte, und die Zimmer waren billiger als anderswo. Den Wedding zählen die jetzt also zur Mitte Berlins. Und das Hotel »Steps« war früher ein normales Mietshaus, mit falschen Säulen und Simsen an der mit Klinkern verblendeten Fassade. Dass das noch erhalten ist. Leo kam hier jeden Tag auf seinem Schulweg vorbei. Eine hölzerne Gedenktafel hing damals neben der Tür, weil hier, in der Liebenwalder 22, Walter Wagnitz gewohnt hatte. Zu Tode gekommen ist er ja in der Utrechter.
Als sie gestern aus dem Taxi stiegen, erkannte Leo sofort alles, die Straße, das Haus. Das Café »Schraders« an der Ecke war die Eckkneipe von Heinrich Reim gewesen, in der Leos Vater manchmal ein Bier getrunken hatte, als Leo noch ein kleiner Junge war. Später dann nicht mehr. Ein Zufall, dass Nira ausgerechnet hier gebucht hat. Dabei war diese Gegend eine Trümmerlandschaft, als er sie zum letzten Mal sah. Sie haben manches neu gebaut und die alten Häuser wieder zusammengeflickt, die Löcher zugeschmiert, die Fassaden verputzt, das können sie ja gut, die Deutschen.
So denkt Leo Lehmann und bleibt in seinen eigenen Gedanken hängen. Ist er nicht selbst ein Deutscher? Ein deutscher Jude. Wie das klingt. Wie ein Opfer. Er ist Israeli, das hört sich schon besser an. Aber Berliner ist er eben doch.
Hier links war eine Flohkiste, Thalia-Lichtspiele, die sieht er noch vor sich, obwohl jetzt ein ganz anderes Haus hinter einem Kinderspielplatz steht. Der alte Mann weiß noch, durch welche Seitentür er ohne Bezahlung in das Kino kam, wenn er Glück und der Filmvorführer sie nicht abgeschlossen hatte. Mehr als einmal hatte er sich als Steppke kurz vor Beginn der Vorstellung, wenn der Vorführer mit seinen Apparaten beschäftigt war, hinter ihm vorbeigedrückt, war durch eine weitere Tür geschlüpft und musste sich dann nur noch schnell im abgedunkelten Zuschauerraum einen Platz suchen, bevor die Kartenabreißerin ihn entdeckte. Einmal, als alles voll war, hat Manne, sein Freund Manfred Neumann, ihm im Halbdunkel zugewinkt, und sie quetschten sich dann beide auf seinen Platz. Manne hatte Geld fürs Kino, seinem Vater gehörten damals noch zwei Mietshäuser, eines drüben in der Wagnitzstraße, wo sie ein Jahrzehnt später bis zu Manfreds Verhaftung ab und zu untergekrochen sind. Eigentlich war es ja die Utrechter. Erst 1933 wurde sie in Wagnitzstraße umbenannt. Bei der feierlichen Namensverleihung für den Blutzeugen der Bewegung mussten auch Leo und Manne mit den anderen Schülern der 27. Volksschule antreten. Dass sie Juden waren, fiel damals noch keinem auf. So wie sie hießen hier viele. Und besonders religiös waren ihre Familien auch nicht.
In der Wagnitzstraße, mehr nach vorn zu, Richtung Müllerstraße, gab es den berühmten UFA-Palast, erst hieß das Lichtspieltheater Mercedes-Palast, der Eintritt dort war selbst für Manne zu teuer. Ob es den UFA-Palast noch gibt? Die Osram-Fabrikgebäude sind noch da, von seinem Hotelzimmer aus hat Leo Lehmann sie gesehen, sie reichen bis an die Liebenwalder Straße heran, aber da wird wohl nichts mehr produziert. Die Fenster der Shisha-Bar gegenüber vom Hotel gehörten damals auch zu einer Kneipe, hier war an jeder Ecke eine. »Steppan« hieß die da drüben, in welchem Winkel seines Gehirns hat er das all die Jahrzehnte über aufbewahrt? Dabei ist er dort nie drin gewesen, aber er weiß noch, dass der Arbeiter, der gleich nach dem Reichstagsbrand in dem Lokal erschossen wurde, Segebrecht hieß, Gustav Segebrecht. Wochenlang wurde davon geredet, auch bei ihm zu Hause. Gewohnt hat dieser Segebrecht ein paar Häuser weiter. Zu der Zeit gab es hier öfter Schießereien, der Wedding war rot, aber die Nazis machten sich schon vor ’33 breit. Segebrecht war Sozialdemokrat, er arbeitete bei Osram nebenan und hatte Kinder, die auch in die 27. Volksschule gingen. Es war ein Schlagaderschuss, das Wort hat Leo als Achtjähriger zum ersten Mal gehört und nie vergessen. Schlagaderschuss. RACHE FÜR WAGNITZ stand damals an den Fenstern der Kneipe. Heute sind die Jalousien da drüben auch beschmiert, aber er kann es nicht lesen, wird wohl Türkisch sein, Arabisch nicht, das würde er erkennen.
Leo Lehmann steht vor dem »Steps« und fühlt sich, als sei er in die Kulisse eines Films über seine Jugend geraten. Alles ist vertraut, aber auch wieder nicht, hat die falschen Farben, ist zu neu oder zu alt. Er ist fremd in dieser Kulisse, und nicht nur, weil die Straße so anders aussieht. Er ist nach Berlin gekommen, weil er hier etwas zu erledigen hat, nicht um seiner Vergangenheit nachzuspüren. Mit seiner Vergangenheit ist er fertig. Mit Berlin ist er fertig. Mit diesen Häusern und den Erinnerungen. 1948 hat er Berlin verlassen.
Nachdem Manfred aufgeflogen war, im April 1944, war Leo kaum noch in diese Gegend gekommen. Und nach dem Krieg wohnte er in Tempelhof, in der Nähe seiner neuen Freunde, der Displaced Persons. Jahrelang hatte er wie alle Untergetauchten nur auf das Kriegsende hin gelebt, irgendwie geglaubt, dann würde alles wie früher werden. Die Eltern würden wiederkommen, die Schwester, die Freunde … Nein, das konnte er nicht geglaubt haben, er wollte einfach überleben und dachte nicht weit über den Tag hinaus. Aber dann war er befreit, und als er das begriff, erschien ihm diese Freiheit wie ein Abgrund, man musste sich irgendwo festhalten, um nicht ins Bodenlose zu stürzen. Manfred war noch im Februar 1945 im Gefängnis in der Schulstraße umgekommen. Leo hat nie erfahren, ob er erschossen wurde oder bei dem großen Bombenangriff starb. Nun waren Simon und Leo die einzigen Überlebenden der Gruppe vom Habonim. Der zehn Jahre ältere Simon hatte sie nach dem Verbot 1938 weiter zusammengehalten. Zusammen waren sie in den Untergrund gegangen, schlugen sich zwei Jahre lang als Untergetauchte durch. Simon haben sie schon kurz vor Manfreds Verhaftung geschnappt. Vielleicht sind sich die beiden noch im Gestapogefängnis begegnet, aber Simon redete nicht, kein Wort über das, was er nach der Verhaftung erlebt hatte. Leo besuchte ihn in den Nachkriegswochen ein paarmal in seinem Zimmer in der Ackerstraße, aber der Apotheker war nicht mehr da, den hatten sie auch weggeholt, seine Witwe guckte nur vorwurfsvoll. Und Simon war krank, kaum wiederzuerkennen. Sie hatten ihm das Haar geschoren, und es wuchs einfach nicht mehr in der Zeit, die ihm noch blieb. Der unerschrockene, wendige Simon saß mit leerem Blick glatzköpfig und aufgeschwemmt da und tat nichts. Im August 1945 brachte er sich um. Als Leo von seinem Tod erfuhr, war er schon begraben. In Weißensee brauchten sie damals viele Gräber für die Selbstmörder, deren Kraft nur zum Überleben gereicht hatte, nicht zum Leben.
Nun erst erfuhr man, was im Osten geschehen war, in den Lagern. Leos Eltern waren nach Riga deportiert worden. In der Jüdischen Gemeinde in der Oranienburger, wo die Zurückgekehrten sich meldeten, saßen eines Tages zwei Brüder, die hatten das KZ Kaiserwald bei Riga überlebt und erzählten vom Wäldchen Rumbula, in dem der ganze 18. Osttransport aus Berlin, eintausendundvier Menschen, gleich nach der Ankunft erschossen worden war. Seit dieser Begegnung ging Leo regelmäßig zu den Gottesdiensten in die Rykestraße, wo er die Worte des Rabbiners kaum verstehen konnte, weil alle heulten.
Außerhalb der Synagoge heulte er eigentlich nie. Er tat, was er in den Jahren...
Erscheint lt. Verlag | 25.3.2019 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Artur Axmann • Berlin • Berlin-Roman • Berlin Wedding • Deutsche Geschichte • Dörte Hansen • eBooks • Familiensaga • Gentrifizierung • Großstadtroman • Juli Zeh • Machandel • Roma • Sinti • Walter Wagnitz |
ISBN-10 | 3-641-22536-1 / 3641225361 |
ISBN-13 | 978-3-641-22536-0 / 9783641225360 |
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