Mars Override (eBook)
736 Seiten
Heyne (Verlag)
978-3-641-24395-1 (ISBN)
Richard Morgan wurde 1965 in Norwich geboren. Er studierte Englisch und Geschichte in Cambridge und arbeitete viele Jahre als Englischlehrer im Ausland, bevor er sich entschloss, sein Geld als freier Schriftsteller zu verdienen. Sein Roman »Altered Carbon - Das Unsterblichkeitsprogramm«, ausgezeichnet mit dem Philip K. Dick Award, wurde ein internationaler Bestseller. Morgan lebt und arbeitet in Glasgow.
1
Es war früh am Abend, als ich den Mariner Strip erreichte, und oben in der Lamina versuchte man gerade wieder, Regen zu machen. Mit begrenztem Erfolg, würde ich sagen. Es war nicht mehr als ein dünnes, kaltes, unregelmäßiges Geniesel, das aus einem paprikafarbenen Himmel weinte.
Ich hatte keine Informationen darüber, dazu war ich zu beschäftigt gewesen. Ich hatte nur von irgendeiner neu geschriebenen Subroutine gehört, die man von dem flimmernden Rand des Industriezweigs hinzugeholt hatte, codiert und aufbereitet und losgelassen, irgendwo da oben inmitten der gewaltigen, sich verschiebenden hauchdünnen Schichten, die das Valley warmhalten. Es musste auch irgendein massiver Marketingeinfluss dahinterstehen, denn für einen Abend mitten in der Woche war es recht voll auf den Straßen. Als der Regen einsetzte, fühlte es sich an, als käme die ganze Stadt zum Stillstand, um zuzuschauen. Überall sah man Leute, die stehen blieben, den Hals reckten und glotzten.
Auch ich erübrigte einen mürrischen Blick zum Himmel, blieb jedoch nicht stehen. Stattdessen schob ich mich weiter, schritt unbeirrt durch die stockenden Gruppen aus Gaffern und Öko-Geeks hindurch, die Scheiße laberten. Jeder, der erwartete, von diesem Blödsinn tatsächlich nass zu werden, würde voraussichtlich eine ganze Weile warten müssen. In der aufdringlichen Verlockung des Marketings vergaßen die Leute oft, dass auf dem Mars nichts schnell fällt. Und ob der Code nun neu war oder nicht, dieser Versuch eines Wolkenbruchs würde auf gar keinen Fall irgendwelche Grundgesetze der Physik verletzen. Hauptsächlich schwebte und wehte der versprochene Regen einfach nur in der Luft herum, voller Verachtung für die halbherzige Schwerkraft, ein Sprühnebel, der von dem erlöschenden Licht blutrot getönt wurde.
Hübsch anzuschauen, ohne Zweifel. Aber manche von uns hatten nebenbei auch was zu erledigen.
Der Strip ragte um mich herum auf – fünfstöckige Fassaden aus der Siedlungszeit in vernarbtem antikem Nanobeton, nachdem die Wartungsverträge längst abgelaufen waren. Heutzutage sind die inaktiven Oberflächen durch jahrzehntelangen stürmischen Wind und Splitt aufgeschäumt, sodass sie eher wie ebene Korallenriffe bei Ebbe aussehen, und nicht wie etwas, das man als menschengemacht bezeichnen würde. In den frühen Tagen ging es den COLIN-Ingenieuren nur darum, sich niederzukauern – sie bauten entlang eines breiten Grabens, der zwischen den freiliegenden Fundamenten ausgehoben wurde, bis sich spiegelbildliche Gebäude zu beiden Seiten erhoben. Sechzig Meter breit ist dieser Kanal und drei Kilometer lang, dabei nur ein klein wenig verkrümmt, um eine existierende geologische Verwerfungslinie im Valley auszunutzen. Früher einmal beherbergte der Graben hydroponische Gärten und manikürte Erholungsflächen für die ursprünglichen Kolonisten, alles mit Glas überdacht. Parks, Velodrome, ein paar kleine Amphitheater und einen Sportplatz – und sogar, wie man mir sagte, einen Swimmingpool oder auch drei. Freier Zutritt für alle.
Muss man sich mal vorstellen.
Jetzt ist das Dach demontiert, so wie alles andere auch. Abgerissen, ausgegraben, weggeräumt. Was man stehen gelassen hat, ist ein abgewetzter, vermüllter Boulevard mit einem Gewirr aus Karren und Verkaufsständen, die alle darum wetteifern, der Menge die billigsten Waren zu präsentieren. Holt es euch, solang es noch heiß ist, Leute, holt es euch jetzt! Herabgesetzte Codiernadeln der letzten Saison, halbintelligenter Schmuck, markengeschützte Marstech, gefälscht oder gestohlen – bei diesen Preisen konnte es das nur sein – und Fast Food, jede Menge, die in unzähligen unterschiedlichen Woks und Pfannen dampfte. Straßenchemiker hielten sich am Rand, pushten Zwanzig Maßgeschneiderte Methoden, um ganz schnell den Verstand zu verlieren, Straßenjungen und -mädchen standen an Ecken, boten einen simpleren Fluchtweg zum gleichen Ziel an. Vermutlich ließ sich behaupten, dass man sich hier auch heute noch auf einer Art von Erholungsfläche befand. Aber es war ein ziemlich karger und schriller Geist des Vergnügens, der sich in diesen Tagen auf dem Strip tummelte, und wenn man ihn versehentlich anrempelte, mochte man ihm nicht in die Augen blicken.
Diejenigen, die trotzdem zu diesem Geist streben, erreichen den Boden über lange Rolltreppentunnel, die auf unelegante Weise zielstrebig durch die ursprünglichen Bauten gehackt wurden – sie finden sich am Ende der meisten Querstraßen, wo sie auf die Gebäude aus der Siedlungszeit stoßen, zu beiden Seiten gesäumt von einer weniger geduckten und hermetischen Architektur, die für eine Generation entworfen wurde, die plötzlich nach draußen gehen konnte. Wo die Querstraßen enden, stößt die Neue Draußenzeit abrupt gegen die tristen, heruntergekommenen Rückseiten der Alten Siedlungszeit. Man tritt unter großen überwölbten Öffnungen in dem abgenutzten Nanobeton auf die Rolltreppe, und das endlose metallene Förderband trägt einen hindurch und hinauf.
Oder wenn Sie neu auf dem Mars sind, frisch aus dem Shuttle gestiegen, oder wenn Sie eher zu den Nostalgie-Freaks gehören, dann machen Sie es auf die laute Touristenart und fahren mit den riesigen antiken Lastenaufzügen an beiden Enden des Grabens. Die zwei Ladeplattformen von tausend Quadratmetern, die immer noch wie gewaltige Kolben hinauf- und hinuntergehen, wie langsam atmende Lungen, reibungslos wie an dem Tag, als sie in Betrieb genommen wurden. Mit diesen kitschigen pseudohistorischen Zurücktreten-Ansagen, die in einer Aufnahmeschleife aus Megafon-Lautsprechern entlang des Sicherheitsgeländers tönen. Rotierende gelbe Warnleuchten, das komplette Programm. Die ölverschmierte wuchtige Ingenieurskunst der alten High Frontier wurde konserviert, damit Sie sich abgestumpft daran ergötzen können.
Wie auch immer – ob auf einer Plattform oder einer sich endlos bewegenden überdachten Rolltreppe –, es löst so ziemlich die gleichen Empfindungen aus. Man wird langsam hinuntergelassen, versinkt im Bauch von etwas Riesigem, das die körperliche Gesundheit voraussichtlich gefährden wird.
Kein Problem für mich.
Ich hatte den Aufzug nach unten am Ende der Crane Alley genommen, der mich etwa einen Kilometer von meinem Ziel entfernt absetzte. Es ging ganz langsam, während die Wetterverrückten den Fluss hemmten. Und als ich unter der Ausgangswölbung hinaustrat, musste ich mich aller Wahrscheinlichkeit zum Trotz gegen einen richtigen Regen auf Straßenniveau behaupten. Er schlug mir ins Gesicht, während ich mich durch die Menge bewegte, und nässte meinen Kragen. Warf ungewohnte Perlen aus Feuchtigkeit auf meine Stirn und meine Handrücken. Es fühlte sich ziemlich gut an, was in diesem Moment allerdings auch für alles andere galt.
Drei Tage wach und heißlaufend.
Über meinem Kopf gingen erste Lichter hinter längst überflüssigen Sturmschlitzen in den oberen Ebenen der Gebäude an und wiesen auf die sinnlichen Mysterien hin, die sich dort befanden. Namen und Logos von Clubs klammerten sich wie eine Plage gigantischer leuchtender Käfer und Tausendfüßer an die antike Architektur. Und quer über den tröpfelnden Himmel breiteten die ersten Branengel ihre fast unsichtbaren Seifenblasenflügel aus. Silbriges Gestöber aus vorzeitiger Statik rieselte zitternd an ihren Oberflächen hinab, wie ein Husten, der die Kehle freimacht. Die Bilder klärten sich, und die Video-Zuhälterei der langen Nacht setzte ein.
Ich hatte gedacht, nachdem das Shuttle von der Erde erst an diesem Morgen angedockt war, gäbe es vielleicht ein paar Ultratripper-Montagen oder Standardwerbespots für Vector Red und Horkan Kumba Ultra. Doch an diesem Abend führte die Regenmacher-Publicity die Parade an – stimmungsvolle, intensive Aufnahmen von straffen jungen Körpern, die auf nächtlichen Straßen in einem Regenguss herumtollten, wie ihn hier niemand im Umkreis von 50 Millionen Kilometern jemals real erleben würde. Dünne, dunkle Kleidung, durchnässt und aufgerissen, eine Art von Favela-Chic, klebte an Kurven und Vorsprüngen, um aufgereizte Brustwarzen modelliert, umrahmten Aufschnitte und Scheiben aus wasserbeperltem Fleisch. Marketingtexte zogen sich wiederholt über die ran- und rausgezoomten Aufnahmen …
PARTICLE SLAM PLATSCHT! – LASS DICH NASS MACHEN! EIN GEMEINSCHAFTLICHES CODIERUNGSPROJEKT, PRÄSENTIERT VON PARTICLE SLAM IN MARKENPARTNERSCHAFT MIT DER COLONY INITIATIVE.
Ja, klar, COLIN schlug wieder zu – die allgegenwärtigen, allmächtigen, korporativen Hebammen der Menschheit im Weltraum. Vor einigen Jahrhunderten, als sie ihre Bestrebungen starteten, hätte man sie durchaus als spezialisiertes Keiretsu bezeichnen können. Heutzutage wäre das so, als würde man einem T-Rex ein Schild mit der Aufschrift Echse anheften. Es wird dem Ausmaß der Sache einfach nicht gerecht. Wenn irgendetwas mit dem menschlichen Footprint irgendwo im Sonnensystem oder mit transplanetaren Beförderungen oder Handelsbeziehungen zu tun hat, dann ist COLIN die Besitzerin, die Betreiberin oder die Sponsorin oder wird es bald sein. Ihr Kapitalfluss ist das Herzblut der Expansion, ihre Übernahme alter legaler Strukturen der Erde das übergreifende Gerüst, das alles aufrechterhält. Und ihre angebliche wettbewerbsfreundliche Marktdynamik ist genauso wenig real oder relevant wie die posierenden Tanzschritte und Konfrontationen der grazilen jungen Dinger in dem lustigen,...
Erscheint lt. Verlag | 10.6.2019 |
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Übersetzer | Bernhard Kempen |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Thin Air |
Themenwelt | Literatur ► Fantasy / Science Fiction ► Science Fiction |
Schlagworte | Abenteuer • Altered Carbon • Der Marsianer • eBooks • Intrigen • Korruption • Mars • New York Times-Bestsellerautor • Spannung |
ISBN-10 | 3-641-24395-5 / 3641243955 |
ISBN-13 | 978-3-641-24395-1 / 9783641243951 |
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