Das Gewicht der Welt (eBook)
284 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-75630-0 (ISBN)
Die Arbeitsmoral dieser exemplarischen Aufzeichnungen ist ihre Genauigkeit, die, selbst wo sie aus der Verzweiflung kommt, eine Art von Freundlichkeit ist gegenüber der Welt. Was hier niedergeschrieben wurde, will nicht zur Nachahmung anstiften; aber man kann daraus leben lernen.
<p>Peter Handke wird am 6. Dezember 1942 in Griffen (Kärnten) geboren. Die Familie mütterlicherseits gehört zur slowenischen Minderheit in Österreich; der Vater, ein Deutscher, war in Folge des Zweiten Weltkriegs nach Kärnten gekommen. Zwischen 1954 und 1959 besucht Handke das Gymnasium in Tanzenberg (Kärnten) und das dazugehörige Internat. Nach dem Abitur im Jahr 1961 studiert er in Graz Jura. Im März 1966, Peter Handke hat sein Studium vor der letzten und abschließenden Prüfung abgebrochen, erscheint sein erster Roman <em>Die Hornissen</em>. Im selben Jahr 1966 erfolgt die Inszenierung seines inzwischen legendären Theaterstücks <em>Publikumsbeschimpfung </em>in Frankfurt am Main in der Regie von Claus Peymann.</p> <p>Seitdem hat er mehr als dreißig Erzählungen und Prosawerke verfasst, erinnert sei an: <em>Die Angst des Tormanns beim Elfmeter </em>(1970), <em>Wunschloses Unglück</em> (1972), <em>Der kurze Brief zum langen Abschied </em>(1972), <em>Die linkshändige Frau </em>(1976), <em>Das Gewicht der Welt</em> (1977), <em>Langsame Heimkehr </em>(1979), <em>Die Lehre der Sainte-Victoire </em>(1980), <em>Der Chinese des Schmerzes </em>(1983),<em> Die Wiederholung </em>(1986), <em>Versuch über die Müdigkeit</em> (1989), <em>Versuch über die Jukebox</em> (1990), <em>Versuch über den geglückten Tag</em> (1991), <em>Mein Jahr in der Niemandsbucht </em>(1994), <em>Der Bildverlust </em>(2002), <em>Die Morawische Nacht</em> (2008), <em>Der Große Fall</em> (2011), <em>Versuch über den Stillen Ort</em> (2012), <em>Versuch über den Pilznarren</em> (2013). </p> <p>Auf die <em>Publikumsbeschimpfung </em>1966 folgt 1968, ebenfalls in Frankfurt am Main uraufgeführt, <em>Kaspar. V</em>on hier spannt sich der Bogen weiter über <em>Der Ritt über den Bodensee </em>1971), <em>Die Unvernünftigen sterben aus </em>(1974), <em>Über die Dörfer</em> (1981), <em>Das</em> <em>Spiel vom Fragen oder Die Reise zum sonoren Land </em>(1990), <em>Die Stunde da wir nichts voneinander wußten</em> (1992), über den <em>Untertagblues </em>(2004) und <em>Bis daß der Tag euch scheidet </em>(2009) über das dramatische Epos <em>Immer noch Sturm</em> (2011) bis zum Sommerdialog <em>Die schönen Tage von</em> <em>Aranjuez </em>(2012) zu <em>Die Unschuldigen, ich und die Unbekannte am Rand der Landstraße</em> (...
Peter Handke wird am 6. Dezember 1942 in Griffen (Kärnten) geboren. Die Familie mütterlicherseits gehört zur slowenischen Minderheit in Österreich; der Vater, ein Deutscher, war in Folge des Zweiten Weltkriegs nach Kärnten gekommen. Zwischen 1954 und 1959 besucht Handke das Gymnasium in Tanzenberg (Kärnten) und das dazugehörige Internat. Nach dem Abitur im Jahr 1961 studiert er in Graz Jura. Im März 1966, Peter Handke hat sein Studium vor der letzten und abschließenden Prüfung abgebrochen, erscheint sein erster Roman Die Hornissen. Im selben Jahr 1966 erfolgt die Inszenierung seines inzwischen legendären Theaterstücks Publikumsbeschimpfung in Frankfurt am Main in der Regie von Claus Peymann. Seitdem hat er mehr als dreißig Erzählungen und Prosawerke verfaßt, erinnert sei an: Die Angst des Tormanns beim Elfmeter (1970), Wunschloses Unglück (1972), Der kurze Brief zum langen Abschied (1972), Die linkshändige Frau (1976), Das Gewicht der Welt (1977), Langsame Heimkehr (1979), Die Lehre der Sainte-Victoire (1980), Der Chinese des Schmerzes (1983), Die Wiederholung (1986), Versuch über die Müdigkeit (1989), Versuch über die Jukebox (1990), Versuch über den geglückten Tag (1991), Mein Jahr in der Niemandsbucht (1994), Der Bildverlust (2002), Die Morawische Nacht (2008), Der Große Fall (2011), Versuch über den Stillen Ort (2012), Versuch über den Pilznarren (2013). Auf die Publikumsbeschimpfung 1966 folgt 1968, ebenfalls in Frankfurt am Main uraufgeführt, Kaspar. Von hier spannt sich der Bogen weiter über Der Ritt über den Bodensee 1971), Die Unvernünftigen sterben aus (1974), Über die Dörfer (1981), Das Spiel vom Fragen oder Die Reise zum sonoren Land (1990), Die Stunde da wir nichts voneinander wußten (1992), über den Untertagblues (2004) und Bis daß der Tag euch scheidet (2009) über das dramatische Epos Immer noch Sturm (2011) bis zum Sommerdialog Die schönen Tage von Aranjuez (2012) zu Die Unschuldigen, ich und die Unbekannte am Rand der Landstraße (2016). Darüber hinaus hat Peter Handke viele Prosawerke und Stücke von Schriftsteller-Kollegen ins Deutsche übertragen: Aus dem Griechischen Stücke von Aischylos, Sophokles und Euripides, aus dem Französischen Emmanuel Bove (unter anderem Meine Freunde), René Char und Francis Ponge, aus dem Amerikanischen Walker Percy. Sein Werk wurde mit zahlreichen internationalen Preisen ausgezeichnet. Die Formenvielfalt, die Themenwechsel, die Verwendung unterschiedlichster Gattungen (auch als Lyriker, Essayist, Drehbuchautor und Regisseur ist Peter Handke aufgetreten) erklärte er selbst 2007 mit den Worten: »Ein Künstler ist nur dann ein exemplarischer Mensch, wenn man an seinen Werken erkennen kann, wie das Leben verläuft. Er muß durch drei, vier, zeitweise qualvolle Verwandlungen gehen.«
5. Juni
In der Nacht immer wieder auf Leute gezielt; aufgewacht wie mit sich schälender Haut
Als Kind habe ich doch manchmal Hüpfschritte gemacht: so schlimm kann die Kindheit also nicht gewesen sein
»Ich bin nicht müde. Ich bin nicht müde.« — »Ich bin auch müde.«
Das Wort »Mutwille«, das manchmal auf mich zutrifft
6. Juni
Ohne Selbstbewußtsein in den Schuhen stehen, so daß die Füße kalt werden
Allein, und nicht allein: im eigenen Dunstkreis
Immer wieder das Bedürfnis, als Schriftsteller Mythen zu erfinden, zu finden, die mit den alten abendländischen Mythen gar nichts mehr zu tun haben: als brauchte ich neue Mythen, unschuldige, aus meinem täglichen Leben gewonnene: mit denen ich mich neu anfangen kann
Er redete voll Trauer, und ich hörte ihm ohne Teilnahme zu: Wer war der Schuldige?
Jeder von uns, nach dem langen Tag miteinander, hatte plötzlich, und fast gleichzeitig, das Gefühl, nicht mit den richtigen zusammen zu sein (nur ich dann nicht mehr: als ich mir das klargemacht hatte)
Ein Rad dreht sich unter der stillen Erdoberfläche, und dieses sich drehende blanke Rad bricht plötzlich im Halbschlaf an einer Stelle durch die Erdkruste
7. Juni
»Nie kann ich allein sein — immer stört mich jemand andrer: meine Hand, mein Nasenrücken, mein Schweiß, meine kalten Füße …«
Sich mit Freunden treffen, um sich an ihrer Geduld ein Beispiel zu nehmen
Ich: jemand ohne Geschichte aus einer Familie ohne Geschichte (kein Stolz dieser Art ist möglich — gut so)
Ich war so müde, daß ich nicht mehr unterscheiden konnte, ob die Stimme im Radio sprach oder sang
8. Juni
Lieber gar keine Gedanken als dieses (häufige) bloße Deklamieren von Gedanken im Kopf
Die tristen Klaviere in den Wohnungen, wie Zeichen für eine Sackgasse
Lustigkeit: alle reden, ohne vom andern was zu erwarten; Heiterkeit wäre Eingehen, Offenheit füreinander — in der bloßen Lustigkeit erscheinen alle verschlossen
Wunsch: einmal, aus dem Fenster schauend, plötzlich »den Zusammenhang« begreifen, wie in einem Kriminalroman
Wohlige Empfindung, wenn mich mein Gefühl betrogen hat
9. Juni
Ich sah sie, schön wie sie war, und schaute mit meiner Sehnsucht woandershin
Sie wurde in der Dämmerung allmählich schön, d. h. unpersönlich
Das Lächerliche an der Sexualität: Techniken zu benutzen
Nach einem Dinosaurier-Film mit den Kindern auf der Straße gehend: bei einem Geräusch aus einem offenen Fenster glaubte A., die Stimme der Dinosaurier wiederzuhören — während tatsächlich nur aus einem Holztrog nasser Beton geschabt wurde (aber es war das Geräusch)
Fortschritt: mehreren gleichzeitig zuhören können, ohne daß das wie eine Leistung erscheint (jedes Dazwischenreden von Kindern selbstverständlich beantworten können)
10. Juni
Vor den ägyptischen Särgen ein bißchen das Grauen vor dem Totsein verloren: Trost, ein Ornament innerhalb andrer Ornamente zu sein — die Sarkophage sind auch so groß, daß man sich darin verlieren kann
Rette dich nicht ins Denken angesichts des Goldwagens Tutench-Amons, ins Denken z. B. über das Hämmern des Golds, über die Zeit seit dem Hämmern — das Betrachten ist schwieriger
Ich lache zu viel
All die Pflichten brauchen bei mir immer noch eine Anstrengung, ein Entschließen — statt daß ich sie verrichte wie andre
Sie sagte, auch die Frauen müßten ihre Vergangenheit vergessen, nach deren Regeln sie sich immer noch auf den Straßen bewegten
Vollkommenes Selbstbewußtsein: ich kann den Brennpunkt meiner Augen sofort verändern, auf jeden neuen, auch überraschenden Gegenstand
Eine Frau, die bei meinem Anblick das Gesicht verzieht, fragen, warum sie mich denn nicht anschauen könne — sie würde sogleich vor Vertrauen erstrahlen
Sie wurde plötzlich schüchtern, was die Einzelheiten in ihrem an sich schönen Gesicht deutlich machte: unschön
In der Nachbarwohnung läuft der Fernseher so leise, daß die Stimmen daraus auf einmal wirklich, körperlich klingen
Die Nacht wurde kühl, nur mit dem Duft der Strauchblüten kam noch, als Duft, eine letzte Tageswärme hergeweht
Die allgemeine Griesgrämigkeit, auf die ich in diesem Mietshaus schließe, ohne daß ich etwas anderes kenne von den Leuten als die Geräusche, die sie machen, hauptsächlich beim Öffnen und Schließen der Fensterläden
11. Juni
Die Hand auf den Kopf des schlafenden Kindes legend, verlor ich das Gefühl der Verdorbenheit, der Verlorenheit, der Überflüssigkeit, der Überzähligkeit, wie es sich so oft im Moment des Aufwachens einstellt
Tage, durchschossen von unklaren Traumerinnerungen, die die Erscheinungen kurz überwischen (weder Traumerinnerungen noch Außenwelt werden faßbar)
Unterschiede zwischen den Klischees beim Schreiben und beim Filmen: beim Schreiben unterlaufen sie, beim Filmen muß man sie als Klischees erst mühsam herstellen — da sind sie also eine Arbeit (auch), und also achtbarer
Meine Verlegenheit vor jemandem, der wirklich an Gott glaubt und von seinem Glauben durchdrungen ist
Der Schmerz, als er eintrat, war ganz selbstverständlich, und ich wunderte mich, daß er nicht schon viel früher eingetreten war, als das Naturgemäße
Ich, der ich von der Hitze draußen kam, und die Verkäuferin im Souterrain des Warenhauses: ihre kalte Hand, als sie das Wechselgeld in meine warme Hand gab
Schwerer Kopf in der lauen Nacht
Ich sitze so still im nächtlichen Garten wie ein Rabe; — und wie freundschaftlich plötzlich, wie lebendig, wie »treu« die Pflanzen neben mir im Dunkeln stehen; die Lampenschirme im fahlen Zimmer wie die Köpfe von Aasgeiern
12. Juni
Mein Behagen, in einer fremden Wohnung eine Zeitlang in einem Raum alleingelassen zu werden
Harmonie des Schlafs: »singendes Kind«; desillusionierendes Erwachen: das Kind schreit
Zufrieden über meine Unvollkommenheit
Was andre über mich sagen, dulde ich, ohne daß es mich betrifft
Er hat Glück: man sieht ihm seine Einsamkeit an
Der große Schauspieler: er macht entweder gar keine Bewegung oder eine große, vollständige; er blickt entweder überhaupt nicht oder ganz lange … (keine vielen kleinen Bewegungen, sondern eine umfassende)
Verlegenheit, Uneigentlichkeit: mein Gesichtskreis ist unterbrochen
Jetzt hat er mir seine ganze Geschichte erzählt — was wird er denn nun bis zum Abend mit sich anfangen? (Halbschlafvorstellung)
13. Juni
Noch ist die Sonne nicht da, und die Bienen sind schon in den Blüten, die, von den Bewegungen der Bienen losgerissen, hell zu Boden schießen, in Schwärmen manchmal; dann lange gar keine
»In heitern Seelen gibts keinen Witz« (Novalis)
Melodie im Sprechen: wie Lebensvortäuschung; etwas vorweg in Anspruch nehmen, das einem erst mit der Zeit zusteht
»Alles Schöne ist ein selbsterleuchtetes, vollendetes Individuum« (N.) — (Daher erscheint das Schöne so ruhig)
...Erscheint lt. Verlag | 21.10.2018 |
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Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Aufzeichnungen • Handke • handke peter • Journal • Kärntner Landesorden in Gold 2018 • Nestroy-Preis 2018 • Nobelpreis für Literatur 2019 • Notizen • Peter • Poesie • ST 500 • ST500 • suhrkamp taschenbuch 500 • Tagebuch 1975-1977 |
ISBN-10 | 3-518-75630-3 / 3518756303 |
ISBN-13 | 978-3-518-75630-0 / 9783518756300 |
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