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Neue Zeilen und Tage (eBook)

Notizen 2011-2013
eBook Download: EPUB
2018 | 1. Auflage
600 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-75912-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Neue Zeilen und Tage -  Peter Sloterdijk
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Nach längerer (Bedenk-)Zeit hat sich Peter Sloterdijk dem Unabwendbaren gebeugt. Wer Zeilen und Tage, das von Kritik wie Lesern zum Hype gemachte Vorgänger-Buch, veröffentlicht, kann sich Forderungen nach einer Fortsetzung ebenso wenig entziehen wie den Lockungen der buchlangen Transformation, Privates als Öffentliches auszuweisen und umgekehrt. »Zeilen und Tage vereint in einer grandiosen Mischung Gesellschaftsroman und Gesellschaftsanalyse für unsere Zeit.« Und, weiteres Beispiel: »Muss man das lesen? Unbedingt.«

Dabei erfährt man: »Heutzutage rückt jeder, der lesen und schreiben kann, mit seinem Befund über die kranke ?Gesellschaft der Gegenwart? heraus. Die ?Gesellschaft? wird so zu dem meist-überdiagnostizierten Patienten. Wäre ich ?die Gesellschaft?, ich wüßte nicht, woran zu leiden ich mir aussuchen würde.«

Peter Sloterdijk steht tagtäglich Sinn und Zweck des tagtäglichen Mitnotierens der Zeit und der Leute vor Augen und erklärt sich in gewohnt ironischer Weise: »Wozu? Wahrscheinlich lebe ich unter dem Auge eines transzendenten Beobachters, der von mir keine besonders hohe Meinung hat. Mein innerer Beobachter ist kein Publizist.« Folglich unterscheiden sich seine Notizen von denen der Blogger und netz-öffentlichen Tagebuchschreiber durch analytische Präzision, Wortmächtigkeit, Sprachbewusstsein, Gelehrtheit, Aphorismen, Humor, lyrischen Tonfall ...

Wenn also Goethe Neue Lieder, wie Heine und Rilke Neue Gedichte veröffentlicht, dann kann Peter Sloterdijk Neue Zeilen und Tage publizieren. Sie begründen, im Kontrast zu Sudelbüchern, Skizzenbüchern, Ideensammlungen, ein eigenes Genre mit Namen: Archivierung des gelebten und reflektierten Tages.



<p>Peter Sloterdijk wurde am 26. Juni 1947 als Sohn einer Deutschen und eines Niederländers geboren. Von 1968 bis 1974 studierte er in München und an der Universität Hamburg Philosophie, Geschichte und Germanistik. 1971 erstellte Sloterdijk seine Magisterarbeit mit dem Titel <em>Strukturalismus als poetische Hermeneutik</em>. In den Jahren 1972/73 folgten ein Essay über Michel Foucaults strukturale Theorie der Geschichte sowie eine Studie mit dem Titel <em>Die Ökonomie der Sprachspiele. Zur Kritik der linguistischen Gegenstandskonstitution</em>. Im Jahre 1976 wurde Peter Sloterdijk von Professor Klaus Briegleb zum Thema<em> Literatur und Organisation von Lebenserfahrung. Gattungstheorie und Gattungsgeschichte der Autobiographie der Weimarer Republik 1918-1933</em> promoviert. Zwischen 1978 und 1980 hielt sich Sloterdijk im Ashram von Bhagwan Shree Rajneesh (später Osho) im indischen Pune auf. Seit den 1980er Jahren arbeitet Sloterdijk als freier Schriftsteller. Das 1983 im Suhrkamp Verlag publizierte Buch <em>Kritik der zynischen Vernunft</em> zählt zu den meistverkauften philosophischen Büchern des 20. Jahrhunderts. 1987 legte er seinen ersten Roman <em>Der Zauberbaum</em> vor. Sloterdijk ist emeritierter Professor für Philosophie und Ästhetik der Staatlichen Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe und war in Nachfolge von Heinrich Klotz von 2001 bis 2015 deren Rektor.</p>

Peter Sloterdijk wurde am 26. Juni 1947 als Sohn einer Deutschen und eines Niederländers geboren. Von 1968 bis 1974 studierte er in München und an der Universität Hamburg Philosophie, Geschichte und Germanistik. 1971 erstellte Sloterdijk seine Magisterarbeit mit dem Titel Strukturalismus als poetische Hermeneutik. In den Jahren 1972/73 folgten ein Essay über Michel Foucaults strukturale Theorie der Geschichte sowie eine Studie mit dem Titel Die Ökonomie der Sprachspiele. Zur Kritik der linguistischen Gegenstandskonstitution. Im Jahre 1976 wurde Peter Sloterdijk von Professor Klaus Briegleb zum Thema Literatur und Organisation von Lebenserfahrung. Gattungstheorie und Gattungsgeschichte der Autobiographie der Weimarer Republik 1918–1933 promoviert. Zwischen 1978 und 1980 hielt sich Sloterdijk im Ashram von Bhagwan Shree Rajneesh (später Osho) im indischen Pune auf. Seit den 1980er Jahren arbeitet Sloterdijk als freier Schriftsteller. Das 1983 im Suhrkamp Verlag publizierte Buch Kritik der zynischen Vernunft zählt zu den meistverkauften philosophischen Büchern des 20. Jahrhunderts. 1987 legte er seinen ersten Roman Der Zauberbaum vor. Seit 2001 ist Sloterdijk in Nachfolge von Heinrich Klotz Rektor der Staatlichen Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe sowie dort Professor für Philosophie und Ästhetik.

Heft 112


10. Juni 2011 – 9. August 2011


10. Juni, Amsterdam

Französische Redensart: »Sie kampieren auf ihren Unterschieden.«

Nicht wenige Motive, die man ethisch und spirituell dem Judentum zurechnet, gehören in Wahrheit Babylon, allgemeiner gesprochen dem Zweistromland, um für den Augenblick von den ägyptischen Quellen nicht zu reden. Zu den bedeutendsten darunter rechnet man die Gleichung von »Benennen« und »Erschaffen«. In den ersten Zeilen des babylonischen Schöpfungsmythos Emuna Elish ist der Gedanke präsent, wonach der Gott schafft, indem er dem Seienden Namen gibt. Die biblische Genesis hat uns davon eine Zweitfassung überliefert. Sie gibt Bericht von einem Anfang, der seinen eigenen Anfang verschweigt.

Grundidee für das zweite Bild von Babylon: Wenn die Woche zerrüttet ist, klafft das Chaos auf. Es gibt kein Heil außerhalb der Sieben-Tage-Integrität. Jeder Gott hat seinen Tag, und jeder Tag seinen Stern, doch die regierende Gottheit ist die Woche. Daß die Woche einen Präsidenten hat, ergibt die Grundfigur des Summotheismus. In dem leben wir bis heute, unter monotheistischem Gewand, da wir ja am Sonntag als dem Ehrenvorsitzenden der Wochentage festhalten. Man versteht das leichter, sobald man »Götter« in »Werte« übersetzt. Dem vulgären Pluralismus ist die Einsicht verlorengegangen, daß Werte, wie Götter, hierarchisch organisiert sind. Sie scheinen über uns zu stehen, als wären sie untereinander gleich, jedoch sind sie von verschiedener Höhe, und einer übernimmt den Vorsitz.

Auch der Gott des Monotheismus, der scheinbar in homogener Jenseitigkeit »existiert«, ist auf verhohlene, doch latent katastrophale Weise seit je in sich zerklüftet, weil seine wichtigsten Attribute nicht gleichberechtigt nebeneinanderstehen. Nur durch eine unbegründbare Entscheidung ist festzulegen, ob in ihm die Allwissenheit oder die Allmacht vorrangig sein soll; auch kann niemand sagen, ob er mehr gerecht ist als liebend. Die üblichen Auskünfte der Theologen, er sei beides zugleich, sind logisch wertlos wie alle Behauptungen, die in der Nacht von Samstag auf Sonntag aufgestellt werden.

Ohne Einfühlung in die verborgenen Spannungen der scheinbar unzeitgemäßen Theologie kann niemand die Verlegenheit der Demokratie angesichts des »Wertepluralismus« nachvollziehen.

Was geschieht, wenn dem Prädikat »Allmacht« der Vorzug gegeben wird, kann man am heutigen Islamismus ablesen.

Die meisten bekannteren Opern beruhen auf dem Effekt, daß die Musik das Libretto mehr oder weniger mühelos übertrifft. Für diesmal könnte das Buch zu einer Extremherausforderung für die Komposition geraten. Widmann scheint zu allem entschlossen.

11. Juni, Karlsruhe, Amsterdam

Gott hat damals, post eventum, gelobt, die Erde nie mehr zu verwüsten. Ist es denkbar, daß er nach der Sintflut nicht wußte, was er zuvor gesagt hatte, und vor der Sintflut nicht verstand, was er zu sagen berechtigt war? Was soll denn das heißen: Es reute ihn, die Menschen geschaffen zu haben?

Im zweiten und dritten Bild von Babylon wird der Meineid der Götter zum Gegenstand von Klagen und satirischen Couplets.

Schlußmotiv: »Solange die Woche lebt, ist Babel gegenwärtig.«

Mit René wieder auf dem Hausboot: noch angegriffen durch die Folgen der Operation, vom Morphium benommen. Er zwinkert mir hin und wieder zu wie ein Junkie in post-operativer Euphorie.

Während der Zug durch Südholland rollt: Anfangs dominieren die Lärmschutzzäune, die die Siedlungen nahe der Bahntrasse abschotten. Weiter draußen liegen die Dörfer mit den folkloristischen Windmühlen. Später wird die Sicht frei auf Kuh-Herden, die sich in erzflachen Wiesen verstreuen, als weiß-schwarze Diskontinuitäten. Es tauchen Pappelalleen und Pony-Höfe auf. Heiteres Roggengrün und suggestives Weizenblond. Ihrer Flachheit zum Trotz erscheinen die Landschaften nicht öde, weil sie von Baumgruppen, Büschen, Feldern und Weideflächen rhythmisiert werden. Die Augen würden gern ein Bild einsammeln, ein Ganzes will sich nicht ergeben.

Zu alt für törichte Feindschaften, zu jung für Gleichgültigkeit.

Ach, Freund. In deinen Schwächen spiegeln sich meine. Castor amputiert, Pollux in Atemnot.

Die Woche, die Stunde, die Minute. An den antiken Zeit-Einteilungen, die in der Natur oder im Universum keinen Anhaltspunkt haben, hängt der Bestand der Welt.

13. Juni, Karlsruhe

Was das Lächerliche an der Literatur ist: daß man auch für die gewöhnlichen Dinge die besseren Formulierungen bevorzugt. In den Buchspiegel schauen, das ist geradezu, wie wenn man sich für die Oper fein macht.

Die magere Kuh frißt die fette, trotzdem fühlt sie sich hohl.

Markus Imhof: More than honey. Vom weltweiten Bienensterben.

Die klassische Theologie bleibt an feudale Welt- und Seelen-Verhältnisse gebunden, solange sie darauf insistiert, daß Gott ebenso furchtbar wie gnädig sei. Sie wird modern in dem Maß, wie sie sich von der Idee abkehrt, der Himmel könne Strenge zeigen. Sie sendet den zornigen Gott in den Ruhestand und behält einen Restgott zurück, der Aufsicht führt über die Telefonseelsorge.

Im Vorwort zum Joseph-Roman macht Thomas Mann eine Bemerkung, die mir jetzt mehr einleuchtet als bei früherer Lektüre (René hat mich auf die Stelle aufmerksam gemacht): Für die mythische Rede sei das »Gesetz der Zusammenziehung« gültig. Das besagt, aus dem ähnlichen wird im Mythos das gleiche, ja dasselbe. Während die historische Rede in jedem Detail das immer wieder andere hervorhebt, als wolle sie die Möglichkeit der identischen Wiederholung als solche bestreiten, betont der Mythos das Immergleiche. Er hat die Mission, die Differenzen so lange zu schwächen, bis es unter der Sonne tatsächlich nichts Neues gibt. Der effektive Mythos macht die Einzelheiten vernachlässigbar, gute Geschichtsschreibung dagegen läßt den Widerstreit zwischen dem Einmaligen und dem Typischen hervortreten.

Ich führe kein Tagebuch, ich mache Notizen, täglich oder nicht. Ich mißtraue den Autoren von Tagebüchern, sobald sie ihre inneren und äußeren Zustände in ganzen Sätzen darstellen, als ob ihnen nie der Zweifel an der Abbildungstauglichkeit von Sätzen begegnet wäre.

Ich habe noch nie etwas erlebt, was wirklich einem ganzen Satz entsprach. Sicher, an manchen Tagen ist man disponiert, Erlebnisse anhand der Form von Subjekt, Prädikat, Objekt »abzubilden« – aber nur so, wie man Tücher zum Trocknen auf die Leine hängt. Die Leine und die Wäschestücke sind nicht isomorph.

Ein Diarist sollte nur einzelne Wörter hinsetzen, ohne Beschreibungsambition, wie ein tâchistischer Künstler. Hier ein Wort, dort ein Wort, keine Zusammenhangsbehauptung, keine Syntax, vor allem keine kontinuierliche »Realität«.

Ich erinnere mich an ein Gespräch mit Wolfgang Rihm vor einigen Jahren, in dem er über eine aktuelle Komposition sagte, sie bestehe aus einem Nacheinander von einzelnen säulenhaften...

Erscheint lt. Verlag 2.10.2018
Reihe/Serie Datierte Notizen
Datierte Notizen
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Briefe / Tagebücher
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Europapreis für politische Kultur 2021 • Gesellschaft • Gesellschaftsanalyse • Helmuth-Plessner-Preis 2017 • Ludwig-Börne-Preis 2013 • Notizbuch • Notizen • Tagebuch
ISBN-10 3-518-75912-4 / 3518759124
ISBN-13 978-3-518-75912-7 / 9783518759127
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