Ich bin ein Mensch, ich bin kein Fall (eBook)
304 Seiten
Verlagsgruppe Droemer Knaur
978-3-426-45264-6 (ISBN)
Dr. med. Rana Awdish ist Intensivmedizinerin am Henry Ford Hospital in Detroit. Für ihr Engagement zur Verbesserung der Kommunikation zwischen Ärzten und Patienten und für ihre Bemühungen um eine verbesserte psychologische Ausbildung junger Ärzte wurde sie mehrfach ausgezeichnet. Mit Ehemann und Sohn lebt die Autorin in Northville, Michigan.
Dr. med. Rana Awdish ist Intensivmedizinerin am Henry Ford Hospital in Detroit. Für ihr Engagement zur Verbesserung der Kommunikation zwischen Ärzten und Patienten und für ihre Bemühungen um eine verbesserte psychologische Ausbildung junger Ärzte wurde sie mehrfach ausgezeichnet. Mit Ehemann und Sohn lebt die Autorin in Northville, Michigan. Nach mehreren Jahren in Frankreich lebt und arbeitet Alexandra Baisch inzwischen in München. Sie übersetzt Romane und Sachbücher aus dem Französischen, Englischen und Spanischen und unterrichtet darüber hinaus im Masterstudiengang für literarisches Übersetzen.
Eins
Ausgeblutet
Der Tod ist die dunkle Schicht, die ein Spiegel braucht, damit wir etwas sehen.
Saul Bellow
Rückblickend wird jeglicher Schmerz abstrakt. Es gleicht Barmherzigkeit, dass keiner in der Lage ist, die Intensität von erlebten Schmerzen erneut heraufzubeschwören. Während ich hier sitze und über den Schmerz nachdenke, der mich ins Krankenhaus gebracht hat, kann ich ihn in etwa umschreiben, kann bestimmen, wie groß und wo er zu spüren war, aber er ist nicht länger ein Teil von mir. Das kommt einer Art Sinnesüberflutung gleich, ähnlich wie ein Wort, das endlos wiederholt wird und mit der Zeit seine Bedeutung verliert. Ich kann mich noch daran erinnern, dass der Schmerz für mich nicht mit dem Leben vereinbar war. Ich weiß noch, wie ich dachte, dass ich vor diesem Moment absolut keine Ahnung von der Bedeutung des Wortes Schmerz hatte und alles, was ich zuvor als Schmerz bezeichnet hatte, nur mehr der Schatten eines Konstrukts namens Schmerz war. Der Schmerz, der mich zerriss, war überaus heftig und kaum zu ertragen.
Instinktiv wusste ich, dass mich Schmerzen von diesem Ausmaß umbringen würden, sollten sie länger andauern.
Qualvoll krümmte ich mich auf einer Trage im Notfallzimmer der Entbindungsstation mit seinen graugrünen Kacheln. Zusammengerollt lag ich auf der rechten Seite, das Gesicht nahe genug an den quadratischen Fliesen, um den Geruch des Bleichmittels wahrzunehmen, der von den Fugen ausging. Mein Blick folgte den Kacheln, die das Entfernen von Blutspritzern erleichtern sollten, bis nach oben zur Decke. Ich zitterte, wurde gedanklich bereits von dem gepeinigt, was als Nächstes kommen würde. Diese Vorkehrung mit den einfach abzuwischenden Wänden verstörte mich, genau wie es mich erschreckte, wenn jemand in der Sendung Dateline, in der Kriminalfälle abgehandelt werden, kurz vor einem Mord im Baumarkt Isolierband gekauft hatte. Dieses dumpfe Einerlei strafte die darauffolgende Gewalttat Lügen.
Die Schmerzen hatten ganz unvermittelt eine Stunde zuvor bei einem Abendessen eingesetzt, das letztlich nicht angerührt wurde. Es war ein ganz typischer, ereignisloser Tag, an den ich mich nicht weiter erinnern würde, hätte er nicht so katastrophal geendet. Stattdessen nahm alles an diesem farblosen Tag seinen Anfang, eine Bezeichnung, die man ihm nur rückblickend zuschreiben kann.
»Es war ein völlig normaler Tag.«
Das höre ich oft von meinen Patienten oder Familien, von Überlebenden verheerender Krankheiten oder Tragödien. Denken sie im Nachhinein über die lebensverändernden Ereignisse eines Tages nach, dann kommentieren sie unweigerlich, wie langweilig und unaufgeregt der Tag bis zu diesem Moment gewesen war. Diese friedvolle Flaute des Wassers am Tag des Ertrinkens. Dieser wolkenlos blaue Himmel am Tag des Flugzeugabsturzes. Hollywood und die Literatur haben uns darauf getrimmt, etwas Schreckliches zu ahnen, und das Fehlen jeglicher Warnsignale ist, als hätte man uns darum betrogen, den Ausgang abzuwenden. Als hätte man uns die Gelegenheit genommen, etwas daran zu ändern.
Es war ein strahlender Tag zu Beginn des Frühlings, bei dem das Versprechen des nahenden Sommers mitschwang. Im Schatten war es noch ziemlich kühl, aber an sonnenbeschienenen Plätzen war die Temperatur bereits angenehm. Ich hatte mir freigenommen und wollte vor dem Abendessen ein paar Dinge für den Strickkurs besorgen, für den ich mich angemeldet hatte. Der Vorstellung, der müßigen Tätigkeit des Strickens nachgehen zu können, haftete etwas Absurdes an, und vermutlich war genau das der Grund, weshalb ich überhaupt Lust dazu verspürte. Nach so vielen Jahren, in denen jeder Moment von Lesen, Lernen und von Patientenbetreuung bestimmt war, hatte der Gedanke, Zeit zum Stricken zu haben, etwas unglaublich Befreiendes. Darüber hinaus erfüllte es mich mit einer gewissen Nostalgie, selbst etwas für das Baby anzufertigen, was mein Kind in seinem weiteren Leben begleiten könnte.
Als Erstes wollte ich jedoch neue Schuhe für meine geschwollenen Füße kaufen. Ich war im siebten Monat schwanger, mein Körper aufgedunsen und schwerfällig. Schicke Schuhe trug ich überhaupt nicht mehr, doch sogar meine flachen braunen orthopädischen Treter schnitten mir inzwischen ins Fleisch, wenn ich sie einen halben Tag lang angehabt hatte. Ich betrat also das große Kaufhaus und suchte in der Schuhabteilung nach flachen Absätzen.
Dabei wurde mir leicht schwindlig. Mit einem Mal realisierte ich, dass ich keine Ahnung hatte, wie ich überhaupt hierhergekommen war. Verunsichert sah ich mich um, überlegte, ob mich vielleicht jemand hergefahren hatte. Aber nein, ich war allein, ich musste selbst gefahren sein. Eigenartig, dass ich mich gar nicht mehr daran erinnern konnte. Waren das etwa die Auswirkungen des Schlafmangels in der letzten Zeit? Hinter mir lag ein sehr anstrengender Monat auf der Intensivstation, jede vierte Nacht hatte ich Bereitschaftsdienst gehabt, und sobald ich mich irgendwo hinsetzte, wo es halbwegs bequem war, konnte ich kaum noch die Augen offen halten. War ich etwa während des Fahrens eine Millisekunde eingedöst? Fast entschuldigend streichelte ich über meinen schwangeren Bauch. Angesichts des Babys sollte ich mehr auf meinen Körper achten, das wusste ich.
Schließlich wurde ich fündig, blieb vor einem Regal mit einer Reihe unästhetischer, praktischer Schuhe stehen und ging meine Auswahlmöglichkeiten durch. In zunehmend verärgertem Tonfall wiederholte eine Frau »Entschuldigung, entschuldigen Sie bitte«, während sie gleichzeitig versuchte, sich an mir vorbeizudrängen. Anscheinend hatte ich die ersten paar Aufforderungen überhört. Ich schüttelte den Schleier ab, in dem ich gefangen war, und bemerkte dann, dass ich den gesamten Gang blockierte, während ich viel länger als nötig auf die zwei Paar Schuhe in meiner Hand gestarrt hatte. Verlegen tat ich so, als könnte ich mich nicht entscheiden, und ging mit beiden zur Kasse.
Eigentlich wollte ich nach Hause fahren, aber dann hielt ich beim Supermarkt, weil ich meinte, mich zu erinnern, dass ich noch etwas zu besorgen hatte. Er wirkte größer als sonst, und irgendwie war es auch schwieriger als üblich, durch die Gänge zu navigieren. Schon nach wenigen Schritten war ich so außer Atem, als würde ich einen steilen Hügel mit dem Fahrrad hinauffahren. Mein Geist war träge, die langen Pausen zwischen flüchtigen Gedanken waren erfüllt von stumpfer Taubheit. Mir fiel nicht mehr ein, weshalb ich hergekommen war, und unerklärlicherweise verließ ich den Supermarkt mit nichts als einem kleinen Glas Vanillezucker. Zum Abendessen war ich mit meiner Freundin Dana verabredet, die ebenfalls Ärztin ist. Vielleicht konnte sie mir ja helfen herauszufinden, weshalb ich mich so eigenartig fühlte.
Als der Schmerz schließlich einsetzte, überrollte er mich wie eine Welle, die mir den Atem stocken ließ und so schnell abebbte, wie sie gekommen war. Mein erster Gedanke: Okay, da stimmt wirklich etwas nicht; ich bin nicht verrückt. Ich schaute Dana über den Tisch hinweg an und sagte: »Ich glaube nicht, dass ich etwas essen kann.« Mein Gesichtsausdruck sagte ihr mehr als die paar Worte, die ich herausgebracht hatte. Zaghaft schob ich den Stuhl nach hinten, als könnte jede Bewegung eine neue, unerwünschte Welle auslösen, dann verließ ich das Restaurant und ging beunruhigt auf dem Gehweg auf und ab.
Durch den Adrenalinschub, den die Schmerzattacke ausgelöst hatte, bekam ich wieder einen klaren Kopf. Ich wusste, dass ich diesen Moment sinnvoll nutzen musste, bevor eintrat, was auch immer eintreten würde. Nachdem ich mich etwas beruhigt hatte, rief ich meinen Mann Randy an. »Ich fühle mich nicht gut … mein Magen … ich habe ganz eigenartige Schmerzen … Ich weiß auch nicht … Aber mach dir keine Sorgen, dem Baby geht es gut.«
Sowie ich den üblichen Singsang in meiner Stimme hörte, konnte ich nur den Kopf über mich schütteln. Ich war derart bemüht, ihn nicht unnötig zu beunruhigen, dass ich ihm die Dringlichkeit der Situation nicht begreiflich gemacht hatte. Also versuchte ich es erneut. »Ich glaube, du solltest mich ins Krankenhaus bringen.« Kurz überlegte ich, ob ich ihm erzählen sollte, wie komisch ich mich den ganzen Tag über gefühlt hatte; dieser Aussetzer im Schuhladen, die Kurzatmigkeit und meine Verwirrung im Supermarkt. Stattdessen fügte ich jedoch nur hinzu: »Es ist wohl besser, wenn ich nicht selbst fahre« und hoffte, das wäre ausreichend. Zumindest war das eine klare Ansage. Randy arbeitet als Anwalt in einer Kanzlei in der Stadt und erwiderte etwas wie, er würde sich auf den Weg machen, sobald er die berühmte »letzte E-Mail« geschrieben hätte, was mir wiederum bestätigte, dass es mir doch nicht gelungen war, ihn von der tatsächlichen Dringlichkeit meiner Notlage zu überzeugen.
Dana beobachtete mich durch das Restaurantfenster und begriff, was für eine unvollständige und belanglose Geschichte ich meinem Mann da gerade aufgetischt hatte. Sie kannte mich und meine Eigenheiten sehr gut. Und sie wusste, dass ich für gewöhnlich keine Panikmacherin bin, sondern davon ausgehe, dass keine großartigen Probleme auftauchen, und ich Randy im Moment nicht unnötig beunruhigen wollte. Mein Mann hingegen hatte noch nicht so tiefe Einblicke in meine Persönlichkeit, schließlich waren wir erst seit einem knappen Jahr verheiratet. Zum Glück schien Dana Handeln wichtiger zu sein als Beruhigen, denn sie rief ihn an, kaum dass ich aufgelegt hatte: »Ich weiß nicht, was sie dir gerade erzählt hat, aber du musst nach Hause fahren, und zwar sofort. Ich bringe sie zu euch, wir treffen uns dort.«
Er kam. Und bis heute beteuert er, nicht erst noch diese eine letzte...
Erscheint lt. Verlag | 26.9.2018 |
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Übersetzer | Simone Jakob, Alexandra Baisch |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Andreas Michalsen • Arztgeschichten • Ärztin • Arzt Patient • Arzt-Patient-Verhältnis • Atul Gawande • Autobiografien Frauen • Bevor ich jetzt gehe • Biografien Frauen • Blutverlust • Diagnose • Empathie • Erfahrungen Krankheit • Erfahrungen und Schicksale • Erfahrungen und wahre Geschichten • Fehlgeburt • Glücksmedizin • Heilen mit der Kraft der Natur • Intensivstation • Kindstod • Klinik • Körperglück • Krankenhaus • Lebensgeschichten Frauen • Lebensgeschichten Schicksal Bücher • Medizin • Memoir • Mitgefühl • Patientin • Paul Kalanithi • Rana Awdish • Schicksale Bücher • Schicksale und Erfahrungen • Schock • Schwangerschaft • Schwangerschaftskomplikation • Sprechstunde • Sterblich sein • Stern-Rubrik "Die Diagnose" • Tod eines Kindes • Trauma • Verlust • Verlust eines Kindes • wahre geschichten bücher • wahre Medizingeschichten • Was hab ich eigentlich? • Werner Bartens |
ISBN-10 | 3-426-45264-2 / 3426452642 |
ISBN-13 | 978-3-426-45264-6 / 9783426452646 |
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