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Mit der Faust in die Welt schlagen (eBook)

Fachbuch-Bestseller
Roman
eBook Download: EPUB
2018 | 1. Auflage
320 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-1851-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Mit der Faust in die Welt schlagen -  Lukas Rietzschel
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Zwei Brüder, ein Dorf in Ostsachsen und eine Wut, die immer größer wird Philipp und Tobias wachsen in der Provinz Sachsens auf. Im Sommer flirrt hier die Luft über den Betonplatten, im Winter bricht der Frost die Straßen auf. Der Hausbau der Eltern scheint der Aufbruch in ein neues Leben zu sein. Doch hinter den Bäumen liegen vergessen die industriellen Hinterlassenschaften der DDR, schimmert die Oberfläche der Tagebauseen, hinter der Gleichförmigkeit des Alltags schwelt die Angst vor dem Verlust der Heimat. Die Perspektivlosigkeit wird für Philipp und Tobias immer bedrohlicher. Als es zu Aufmärschen in Dresden kommt und auch ihr Heimatort Flüchtlinge aufnehmen soll, eskaliert die Situation. Während sich der eine Bruder in sich selbst zurückzieht, sucht der andere ein Ventil für seine Wut. Und findet es. Lukas Rietzschels Roman ist eine Chronik des Zusammenbruchs. Eine hochaktuelle literarische  Auseinandersetzung mit unserem zerrissenen Land.

Lukas Rietzschel, geboren 1994 in Räckelwitz in Ostsachsen, lebt in Görlitz. 2012 wurde sein erster Text im »ZEIT Magazin« veröffentlicht, seitdem folgten Veröffentlichungen in verschiedenen Anthologien. 2017 war er Gewinner bei poet|bewegt. Für das Manuskript seines Romandebüts wurde er 2016 mit dem Retzhof-Preis für junge Literatur ausgezeichnet.

Lukas Rietzschel, geboren 1994 in Räckelwitz in Ostsachsen, lebt in Görlitz. 2012 wurde sein erster Text im "ZEIT Magazin" veröffentlicht, seitdem folgten Veröffentlichungen in verschiedenen Anthologien. 2017 war er Gewinner bei poet|bewegt. Für das Manuskript seines Romandebüts wurde er 2016 mit dem Retzhof-Preis für junge Literatur ausgezeichnet.

5. KAPITEL


Zu Tobis Einschulung war das Haus fertig. Einfahrt und Terrasse mussten noch gepflastert werden. Tobi stellte sich mit seiner Zuckertüte im Garten vor die niedrige Hecke. Auf das blasse, frische Gras. Grinste in die Fotoapparate. Auf den Fotos reichte ihm die Hecke bis zu den Waden. Seine Haare waren ihm ins Gesicht gekämmt. Er sagte kein Wort, drehte sich und lächelte, wie es seine Verwandten wünschten. Beide Großeltern, der Onkel. In der Turnhalle, während der offiziellen Einschulung, hatten ihm Mutter und Vater zugewinkt. Er hielt seine Zuckertüte fest umklammert. Rührte sich nicht. Mutter und Vater hatten auf den Sportbänken gesessen, in der Nähe der Kletterstangen, die bis unter die Decke reichten. Sie saßen so tief, dass sich ihre Knie auf Brusthöhe befanden. Die Großeltern und Philipp standen am Eingang. In der Turnhalle hingen bunte Wimpel an den Wänden. Neben dem Mikrofon eine junge Birke in einem mit Sand gefüllten Plastikeimer. An den Ästen kleine Zuckertüten. Außerdem Bilder der neuen Schüler. Darunter eines von Tobi. Er sah es und verlor es wieder aus den Augen. Hinter ihm stand ein Junge, der gegen die Bilder pustete, sodass sie leicht schaukelten, sich die Schnüre verdrehten und verhedderten. Jemand flüsterte, dass er damit aufhören sollte. Eines der Kinder. Aus dem Publikum zeigten Leute auf ihn. Tobi spürte wie der kalte Wind seinen Nacken streifte. Das fühlte sich gut an.

Der Dachstuhl, der im Frühjahr fertig geworden war, hatte ausgesehen wie ein Walskelett, das man auf die Mauern gelegt hatte. Mit Philipp war er auf dem Baugerüst herumgeklettert. Sie stiegen aus einem Fenster und gingen über das Gerüst zu einem anderen. So erreichten sie jeden Raum, ohne durch das Haus laufen zu müssen. Drinnen strichen die Großeltern und der Onkel die Wände. In den Räumen, in denen die Farbe getrocknet war, befestigte Uwe Lampen an der Decke. Wie schmächtig und blass dieser Mann aussah. Das Gesicht eingefallen, als hätte jemand das Fleisch aus den Wangen geschnitten. Philipp verzog sein Gesicht, und Tobi lachte darüber. Dann duckten sie sich. Hielten sich ihre Hände vor den Mund und gingen zu einem anderen Fenster. Irgendwo waren Mutter und Vater. Der Garten war ein brauner Fleck, matschig und mit Brettern ausgelegt. Der Vulkan war noch da, sollte aber demnächst abtransportiert werden.

Tobi drehte sich zur nächsten Kamera und lächelte. Seine Wangen zitterten ein wenig. Je breiter er grinste, desto stärker wurde das Zittern. Die Fassade war hellgrün, und wenn die Sonne mittags hoch stand, sahen die Außenwände fast weiß aus. In seinem Zimmer saß Großmutter auf dem Bett und strich über den Stoff des Überzuges. »Gefällt es dir?«, fragte sie. Tobi ging zu ihr und sah sich um, als würde er den Raum das erste Mal betreten. »Ja«, sagte er. Der Teppich gelb mit dunklen Dreiecken darauf. An Tobis Hosenbein ein Streifen Erde. »Endlich hast du dein eigenes Zimmer und ein eigenes Bett«, sagte Großmutter. Endlich raus aus diesen Wohnblöcken. Wahrscheinlich wollte sie das sagen. Tobi setzte sich an seinen neuen Schreibtisch, auf den neuen Schreibtischstuhl und drehte sich ein wenig hin und her. Großmutter ging zum neuen Kleiderschrank, öffnete ihn. »So viel Platz«, sagte sie erstaunt. Wenn Tobi aus dem Fenster sah, konnte er die Kastanie sehen, die vorm Haus stand. »Alles so hell und freundlich«, sagte Großmutter, »das musst du natürlich alles sauber halten, damit es so bleibt.« Dann ging sie in Philipps Zimmer nebenan. Philipp hatte einen grünen Teppich und ebenso eine Dachschräge mit Dachfenster. Sein Zimmer war ein wenig kleiner und grenzte an das Schlafzimmer der Eltern.

Der Tisch war mit dem Goldrandservice eingedeckt. Fünf Kuchen standen unregelmäßig verteilt neben Kaffeekannen und Limoflaschen. Mutter hatte Namensschilder aus buntem Tonpapier gebastelt und kleine Zuckertüten darauf geklebt. Tobi saß an der Stirnseite des Tisches und lächelte, wenn jemand sein Zimmer oder die Einschulungsveranstaltung in der Turnhalle ansprach. Die Leute freuten sich, also musste er sich auch freuen. Dabei fuhr er mit seiner Fingerkuppe langsam und gleichmäßig die Kante seines Namensschildchens nach. Vielleicht würde ja ein Ton entstehen wie bei dünnwandigen Weingläsern, die halb gefüllt waren. »Herr von Stein hat ein ganz graues Gesicht«, sagte Großmutter. »Er hatte doch den Schlaganfall«, sagte Mutter. »Als er dein Lehrer war, sah er aber auch schon so schlecht aus.« Dann nahm sich Großmutter ein Stück von dem Kuchen, den sie gebacken und mitgebracht hatte. Gabeln quietschten auf Tellern. Tassen klirrten auf den Untertassen. Löffel wurden darauf abgelegt. Die Sonne und die weißen Gardinen. Alles neu, man konnte es riechen.

Dann klopfte es an der Haustür. Die Klingel war noch nicht angeschlossen. Vater rutschte mit seinem Stuhl auf den Fliesen zurück, die im ganzen Erdgeschoss verlegt worden waren, stand auf und ging in den Flur. Die anderen am Tisch beobachteten ihn und unterbrachen ihre Gespräche. Im Flur wurde es heller, als er die Haustür öffnete. Das konnte man durch die Glaseinsätze der Wohnzimmertür sehen. »Nein, komm ruhig rein«, sagte Vater. »Nein, gar kein Problem.« Dann schloss er die Haustür. Jemand zog sich die Schuhe aus und streifte eine Jacke vom Körper, Tobi erkannte das Geräusch. Kein Reißverschluss. Tobi hielt seine Kuchengabel fest in der Hand und blickte zur Tür. Am Rand seines Glases stiegen die Luftbläschen der Apfelschorle nach oben.

Vater kam ins Wohnzimmer zurück, und Uwe folgte ihm. Er hielt ein kleines Geschenk in der Hand, eingepackt in buntes Papier. Er trug eine Jeans, in die ein kurzärmeliges Hemd gesteckt war. Es schien, als berührte der Stoff nirgends seinen Körper, so dünn war Uwe. »Hallo«, sagte er und stand vor dem gedeckten Tisch. Die Verwandten daran, die ihn musterten. Vater holte einen Stuhl aus der Küche und stellte ihn an den Tisch. Da, wo der Onkel und die Großmutter saßen. Großvater reichte Uwe die Hand. Dann beugte Uwe sich über die Teller und gab Tobi das Geschenk. »Viel Spaß in der Schule«, sagte er. Grinste. Schien zu überlegen, einen Witz zu erzählen. »Danke«, sagte Tobi und legte das Päckchen neben seinen Teller. »Kaffee?«, fragte Vater. »Ja, bitte.«

Der Onkel redete nicht und aß ein Stück Kuchen nach dem anderen, bis er alle fünf probiert hatte. Gelegentlich stieß er mit seinem Ellbogen an Uwes Ellbogen. Der entschuldigte sich und legte seine Oberarme eng an den Körper. Uwe hatte kurz in die Runde geschaut und versucht, die Großeltern dem jeweiligen Elternteil zuzuordnen. Dann blickte er an die Decke. Betrachtete die Wände von oben bis unten. »Ist viel passiert«, sagte Vater, dem das auffiel.

»Ja, ist schön«, sagte Uwe.

»Was haben Sie gelernt?«, fragte Großvater.

»In Bautzen beim Waggonbau.«

»Die haben doch Fernsehantennen gebaut«, sagte Großvater.

»Ja«, sagte Uwe, »und Campinganhänger. Bis ’80 ungefähr.«

»Waren Sie da schon dort?«, fragte Großvater.

»Nein, das hab ich nicht mehr mitbekommen.«

Tobi stand auf und ging mit dem Päckchen nach nebenan, wo er sich aufs Sofa setzte. Er hörte, wie Großvater noch etwas über seinen alten Betrieb sagte. Dass er zur Arbeit laufen konnte, oder mit dem Motorrad gefahren war. Vor der neuen Schrankwand waren die Geschenke aufgereiht. Die große Zuckertüte lag auf dem Boden mit leicht abgeknickter Spitze, weil Tobi sie für Fotos häufig abgestellt hatte. Er öffnete die obere Schleife und zog ein paar Süßigkeiten heraus. Einzelne Buntstifte lösten sich unter dem Netz, das über die Öffnung gespannt war, und fielen auf die Fliesen. »Noch nicht«, sagte Mutter, »die anderen wollen doch sehen, wie du sie auspackst.« Sie hob die Stifte auf und steckte sie wieder in die Zuckertüte. Sie stellte einen Stuhl in die Mitte des Raumes, zwischen Schrankwand und Sofa, und sagte, dass er sich dort hinsetzen solle. »Aber warte noch kurz mit dem Auspacken.« Dann ging sie wieder an den Tisch zurück und trank den letzten Schluck Kaffee.

Tobi setzte sich auf den Stuhl und hielt seine Zuckertüte umklammert. Zuerst setzte sich Großmutter auf das Sofa. Sie staunte über die Größe der Geschenke. Über das bunte Papier. Die Farben und Formen. Die lustigen Motive. Großvater und die anderen Großeltern folgten, dann der Onkel, der sich einen Stuhl von der Kaffeetafel mitgenommen hatte und sich an den Rand setzte. Mutter lehnte sich an die Sessellehne. Philipp hockte sich auf den Boden. Tobi beobachtete sie, wie sie näher kamen, wie sie seine Geschenke anfassten, sich hinsetzten und ihn musterten. Seine Füße baumelten in der Luft. Die Zuckertüte hatte er abgestellt, nur kurz. »Die Spitze, Tobi, pass auf«, hatte Mutter gerufen. Ihm schien, als würden sie näher heranrücken. Sie bildeten einen Halbkreis um ihn. Wie im Zirkus. Er in der Manege. Es fehlten die festgetretenen Holzspäne und der Geruch von Pferden. Die Clowns und Artisten. Ein Mann, der Tobis Nummer ankündigte. Kinder, die auf ihn zeigten. Eine Zeltplane, die vom Zugwind bewegt wurde.

Vater holte noch Stühle und schob sie auf dem Fliesenboden umher. Er bot sie seinen Eltern an, damit sie auf dem Sofa nicht so eingeengt sitzen mussten. Dann kam Uwe in den Raum. Tobi sah ihn an, ohne seinen Kopf zu bewegen. Uwe lehnte sich an die Wand, seine Hände hinter dem Rücken verschränkt. Diese seltsamen Augen. Im Flur schloss jemand die Tür zum Bad ab. In der Küche klirrte das Geschirr, das Mutter jetzt in die Spülmaschine räumte.

»Warum wartest du?«, fragte Großvater. »Ich soll warten, bis alle da sind«, sagte Tobi und blickte zu Vater. »Wer kommt noch?«,...

Erscheint lt. Verlag 7.9.2018
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 90er Jahre • AfD • Als wir träumten • Anspruchsvolle Literatur • Antifa • Ausländer • Ausländerfeindlichkeit • Ausschreitungen • Ausweglosigkeit • Bruder • Brüder • Bruder Buch • Brüder Buch • bücher neuerscheinung 2018 • Bücher Neuerscheinungen 2018 • Buch zur Zeit • Bürgerkrieg • bürgerliche Mitte • Chemnitz • Chemnitz 2018 • Clemens Meyer • Coming of Age • DDR • Debut • Debutant • Deutsche Literatur • Didier Eribon • Dresden • Familie • Freunde • Gegenwartsliteratur • Gegenwartsroman • Gegenwartsstoff • herbst 2018 • Hool • Industrieruinen • Ingo Schulz • Ingo Schulze • Juli Zeh • Junge deutsche Literatur • Junger Autor • Konzert Chemnitz • Literatur 2018 • Literaturpreis • Migranten • Nachwende • Neonazis • Neu 2018 • Neue Literatur • No Go Area • No-Go-Area • Ostdeutsche Provinz • Ostdeutschland • Pegida • Philipp Winkler • Polizei • Pro Chemnitz • Provinz • Radikalisierung • rechter Volksaufstand • Rückkehr nach Reims • Sachsen • Schamottewerk • Simple Stories • Sprachlosigkeit • Thomas Melle • Timur Vermes • überforderte Polizei • Unterleuten • Wende • Wut • Wutbürger • Zeitgenössische Literatur
ISBN-10 3-8437-1851-2 / 3843718512
ISBN-13 978-3-8437-1851-6 / 9783843718516
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