Man muss auch mal loslassen können (eBook)
272 Seiten
Verlagsgruppe Droemer Knaur
978-3-426-45289-9 (ISBN)
Monika Bittl (1963-2022), in einem kleinen bayrischen Dorf aufgewachsen, hat nach einer journalistischen Ausbildung und Auslandsaufenthalten in Sizilien, Ägypten und Island Germanistik, Psychologie und Film in München studiert. Als freie Autorin schrieb sie mit großem Erfolg Drehbücher, Sachbücher und Romane. Ich hatte mich jünger in Erinnerung stand ein halbes Jahr auf Platz 1 der SPIEGEL-Bestsellerliste und zwei Jahre lang unter den Top 20.
Monika Bittl, 1963 in einem kleinen Dorf im Altmühltal geboren und dort aufgewachsen, hat nach einer journalistischen Ausbildung und Auslandsaufenthalten in Sizilien, Ägypten und Island Germanistik, Psychologie und Film in München studiert. Seit 1993 ist sie freie Autorin und schreibt mit großem Erfolg Drehbücher, Sachbücher und Romane. "Ich hatte mich jünger in Erinnerung" stand ein halbes Jahr auf Platz 1 der Spiegel-Bestsellerliste und 2 Jahre lang unter den Top 20. Monika Bittl lebt mit ihrer Familie in München.
Wilma
Was für eine Friedhofsruhe! Wilma spülte hinter dem Tresen die Weißbiergläser noch einmal durch, gewohnheitsmäßig, wie immer kurz vor fünf an Werktagen. Ein Weißbierglas muss immer gut gespült und vor allem mit klarem Wasser nachgespült sein, sonst bekommt man keine Schaumkrone. Der Lehrer trinkt immer ein Weißbier, manchmal zwei, aber nie mehr. Wilma hat ihm extra den alten Tisch von der Tante Loni herrichten lassen. Sepp hat ihn abgeschmirgelt und neu gestrichen, sie hat ihn abseits gleich rechts vom Eingang gestellt und bei Ikea eine Schreibtischlampe besorgt – ganz egal ob fremde Leute sich darüber wundern würden, dass da ein Schreibtisch in einer Wirtschaft steht. Da konnte der Lehrer in Ruhe sitzen und korrigieren, obwohl es Wilma nach wie vor ein Rätsel ist, wie der Lehrer sich konzentrieren kann, wenn am Stammtisch laut debattiert wird oder nebenan die Schafkopfrunde der Frauengymnastikgruppe sitzt und schrill plärrt: »Herz sticht!« oder auf den Tisch haut, wenn Kontra gegeben wird. Und seit drei oder vier Jahren kommen auch die Jungen wieder, früher haben die so eine Dorfwirtschaft gemieden wie der Teufel das Weihwasser, da sind alle bloß noch in die Disco gegangen. Aber bei ihr dürfen sie rauchen. Vielmehr: Bei ihr haben sie rauchen dürfen.
Die Jungen, fesche Mädels und Burschen aus allen möglichen und unmöglichen umliegenden Dörfern, werden natürlich schnell hitzig und laut. Die plärren immer rum, wegen Mode oder Musik oder Politik. Aber insgesamt sind die Jungen viel vernünftiger als die Leute noch zu ihrer Jugendzeit. Wer fährt, bleibt immer nüchtern. Da hat sie keinem mehr die Autoschlüssel abnehmen müssen, nie mehr, so wie früher dem Sepp oder dem Martin, die zwei, die zwar nie gestänkert haben, aber immer betrunken heimfahren haben wollen. Mit dem Auto heimfahren, obwohl der eine in drei und der andere in fünf Minuten zu Fuß daheim gewesen ist.
»Pfundskerle sind die«, dachte Wilma, »der Sepp und der Martin.« Die zwei und die Frauen der beiden haben ihr immer geholfen, sie hat nie darum bitten müssen. Sie hat bloß gesagt: »Für den Lehrer würd ich gern den Tisch von der Tante Loni herrichten, damit er einen eigenen Schreibtisch hat.« Am nächsten Tag war der Sepp in seiner Mittagspause gekommen, hat den Tisch vom Speicher geholt, ihn mitgenommen, hergerichtet und einen Tag später dort hingestellt, wo Wilma meinte, dass ein Schreibtisch am besten hinpassen würde, nämlich gleich beim Eingang in die Ecke, in der es im Winter schön warm ist und im Sommer nie zieht. Und der Martin ist ja auch sofort gekommen, wie sie gesagt hat, sie braucht jetzt auch Internet, das hängt ja jetzt auch mit dem Fernsehen zusammen, schon alleine wegen dem Fußball. Ihr ist der Fußball ja schon immer herzlich wurscht gewesen, aber die Jungen schauen wieder gern Champions League. Und die haben sie darauf gebracht, dass man auch »schwarz« fernsehen kann, über das Internet, »first rau« oder so ähnlich heißt das, die Jungen können ja alle viel besser Englisch, sie hätte »Sky« schon bezahlt, aber alle – vom Stammtisch bis zum Lehrer – waren sich einig, dass man diesem Sender doch nicht noch mehr Geld in den Rachen schieben soll. Ja, und der Lehrer hat sogar seelenruhig korrigiert, wie Weltmeisterschaft gewesen ist. Hauptsache, er hatte sein Weißbier. War nicht jetzt auch bald wieder Weltmeisterschaft, in Russland? Aber was ging sie das noch an?
Gläser spülen, obwohl keiner kommt, was für ein Schmarrn. Aber was sollte sie denn sonst tun? Für die Gläser und den Tresen bekommt sie doch nichts mehr, wenn sie das gebraucht verkauft, ob die Gläser nun dreckig oder sauber sind. Und über dem Gläserregal steht immer noch die Anrichte mit dem ganzen Hochprozentigen. Überall noch was drin, beim Whiskey, Aperol, Martini und sogar Jägermeister. Den tranken die Jungen plötzlich wieder gern, nachdem er überhaupt nicht mehr in Mode gewesen ist. Aber die Jungen zogen ja auch plötzlich wieder Tracht an, Dirndl und Lederhosen zur Wiesn, so sind die schon zu ihr in die Wirtschaft gekommen. Da hat sie gestaunt, denn sie selbst hätt ja lieber einen Schulaufsatz geschrieben, als ein Dirndl anzuziehen.
Wilma blickte durch ihre Wirtschaft mit den 40 Sitzplätzen ohne Nebenzimmer und ging zum runden Stammtisch. Der Sepp hatte gefragt, ob er das »Stammtisch«-Schild bekommt, zur Erinnerung. »Freilich«, hatte Wilma geantwortet. Denn dem Sepp, dem Martin und dem Lehrer hatte sie unter dem Siegel der Verschwiegenheit die Wahrheit gesagt, wie es bestellt war um ihr Lokal. Der Sepp, der Martin, deren Frauen und der Lehrer würden nie schlecht über sie reden. Bei denen hat sie nie aufpassen müssen, was sie gesagt hat. Was wird jetzt wohl über sie geratscht werden, wenn das ganze Dorf und die Nachbardörfer das erfahren?
Wilma saß am runden Stammtisch ohne Stammtischschild. Das Stammtischschild war ja noch vom Papa gewesen, von dem sie die Wirtschaft übernommen hat. Das musste ihr erst einmal wer nachmachen: drei kleine Kinder großziehen und eine Wirtschaft führen! Und wie sie das geschafft hat! Da hatte ihr Herrmann ja schon nicht mehr gearbeitet, ein halbes Jahr später ist er gestorben; allein hat er sie gelassen mit den drei Kindern, das jüngste erst ein Jahr alt. Da war was geboten gewesen. Tag und Nacht ein Trubel, immer was los, daheim und in der Wirtschaft, wobei sie bis heute gar nicht genau sagen kann, was nun Wirtschaft und was daheim ist. War ja auch immer schon alles im gleichen Haus. Und mittags hat sie für die Kinder in der Wirtschaft gekocht, aber gleich so viel, dass es abends dann das »Tagesgericht« geworden ist.
Damals haben alleinstehende Männer noch bei ihr gegessen, heute können die ja alle auch selber kochen. Und trotzdem waren viele auch noch oft zum Essen gekommen, nicht bloß zum Trinken, und nicht bloß zu Kommunion-, Hochzeitstags- oder betrieblichen Weihnachtsfeiern; richtig gut gelernt hat sie das Kochen und sich auch immer fortgebildet. Sogar beim Schuhbeck persönlich ist sie im Kurs gewesen. Seitdem war ihr Gulasch ein Gedicht, wie die Leute gesagt haben, und auch das Blaukraut hat erst seit dem Schuhbeck-Kurs richtig gut geschmeckt, denn da hat sie gelernt, dass es vorher in Essig eingelegt werden muss, damit es knackig bleibt, auch wenn es dann verkocht wird. Nein, ihre Kochkünste kann ihr so schnell keiner schlechtreden, egal was sonst bisweilen wohl über sie geratscht wird. Obwohl sie selbst sich stets mit Geschmacksurteilen, persönlichen Meinungen über andere oder politischen Ansichten sehr zurückhält. Denn sie ist schließlich als Wirtin eine Gastgeberin, und eine Gastgeberin hat sich mit niemandem anzulegen, sondern hält sich dezent zurück. Demonstrieren für irgendwelche eigenen Ansichten kann man vor dem Landtag, aber doch nicht hier!
Weil Wilma nichts Besseres einfiel, setzte sie sich an den Lehrerschreibtisch. Auf jedem Stuhl war sie schon x-mal gesessen, weil sich doch eine jede gute Wirtin auch mal kurz zu den Gästen dazugesellte. Bloß am Lehrerschreibtisch war sie nie gesessen, weil entweder der Lehrer dort gehockt war oder keiner. Und der Lehrer war ja eigentlich immer an seinem Platz gewesen. Außer einmal im Jahr an Weihnachten. Da hat er sich mit an den Stammtisch gesetzt. An Weihnachten, am Heiligen Abend, wo alle richtig zusammengehören.
Ein Lehrer hat doch mehr Ferien als Arbeitszeit. Sie hat nie Ferien gemacht, nur Montag war Ruhetag gewesen. Sie hat ja auch mal einen Großeinkauf machen, zum Doktor oder Winterjacken kaufen müssen – so wie früher für die Kinder. Oder ins Krankenhaus hat sie müssen. Fünf Monate ist sie dort gelegen wegen einer Entzündung an der Herzklappe. Mit drei kleinen Kindern! So was ist kein Sonntagsspaziergang! Und was haben der Martin und der Sepp gemacht? Die haben ihre Kinder zur Betreuung mit heimgenommen. »Auf drei mehr oder weniger kommt es nicht an«, haben sie gesagt. Die Frauen vom Sepp und vom Martin haben sie sogar mit den Kindern im Krankenhaus besucht und ihr verraten, dass die Leute an Wilmas Wirtschaft ein Schild gehängt hatten: »Wegen Renovierung vorübergehend geschlossen«. Und als sie wieder heimgekommen ist, nach fünf Monaten Krankenhaus, hatten die Gäste unter der Leitung von Martin und Sepp bis auf die Küche das ganze Lokal renoviert gehabt. Holzbänke und Wände waren gestrichen und die wackligen Barhocker repariert. Da war sie zu Tränen gerührt gewesen.
Es war so ruhig hier in der Wirtschaft, dass man fast hören konnte, wie Wilmas Tränen auf den Stammtisch tropften. Normalerweise war so was undenkbar in der ständigen Geräuschkulisse einer Wirtschaft. Und wenn sie doch mal weinen hat müssen, ist sie in die Küche gegangen. Sollte ja keiner mitkriegen, dass die Wirtin weint, wär ja noch schöner. Eine Wirtin weint doch nicht vor den Gästen. Die Gäste hatten sich bei ihr zu vergnügen oder sich bei ihr auszuweinen, aber sie doch nicht bei ihnen. Die bezahlten doch auch für eine fröhliche Stimmung hier, und zwar immer sofort. Denn anschreiben hat Wilma höchstens für einen Tag lassen, wenn jemand mal wirklich das Geld vergessen hat. Das hatte der Papa ihr eingetrichtert: Nur der Bierdeckel von einem Tag wird aufgehoben, nie mehr!« Hat ihr auch nie jemand übel genommen, diese Strenge, es hat immer geheißen: »Jeder braucht seine Grundsätze.«
Aber vielleicht hat es ihr doch jemand übel genommen. Die Petra wahrscheinlich. Irgendjemand muss sie ja hingehängt haben. Sonst wär sie doch nicht drei Mal innerhalb von vier Wochen kontrolliert worden! Niemals! Bis auf die Petra wollte ihr doch keiner im Dorf wirklich was Böses....
Erscheint lt. Verlag | 29.8.2018 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | A long way down • Banküberfall • Beste Freundin • Ein Mann namens Ove • Freunde • Freundinnen • Freundinnen-Roman • Freundschaft • Ganove • Gemeinsamkeit • Gemeinsam sind wir stark • Gemeinschaft • Humor • komischer Roman • Lachen • Lebenskrise • lustige Geschichte • lustiger Roman • Monika Bittl • Roadtrip • Schönheit des Lebens • Selbstmord • Suizid • Unterhaltsam • Unterhaltung |
ISBN-10 | 3-426-45289-8 / 3426452898 |
ISBN-13 | 978-3-426-45289-9 / 9783426452899 |
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