Zerrissene Erde (eBook)
512 Seiten
Verlagsgruppe Droemer Knaur
978-3-426-45030-7 (ISBN)
N. K. Jemisin stammt aus Iowa City und studierte Psychologie an der Tulane-Universität in New Orleans. Sie lebt in New York City und arbeitet unter anderem für die New York Times. Ihre Bücher wurden für zahlreiche Preise nominiert. Für ihre Trilogie Die große Stille erhielt sie als erste Autorin überhaupt drei Mal in Folge den renommierten HUGO Award.
N. K. Jemisin stammt aus Iowa City und studierte Psychologie an der Tulane-Universität in New Orleans. Sie lebt in New York City und arbeitet unter anderem für die New York Times. Ihre Bücher wurden für zahlreiche Preise nominiert. Für ihre Trilogie Die große Stille erhielt sie als erste Autorin überhaupt drei Mal in Folge den renommierten HUGO Award.
Vorspiel
Du bist hier
Beginnen wir mit dem Ende der Welt, ja? Bringen wir es hinter uns und wenden wir uns dann interessanteren Dingen zu.
Zunächst: das persönliche Ende.
Es gibt da etwas, über das sie später wieder und wieder nachdenken wird, wenn sie sich vorstellt, wie ihr Sohn gestorben ist. Wenn sie versucht, Sinn in etwas zu finden, das von Natur aus sinnlos ist. Sie wird eine Decke über Uches zerstörten kleinen Körper ausbreiten – nicht über seinem Gesicht, denn er hat Angst im Dunkeln – und betäubt neben ihm sitzen, ohne sich darum zu scheren, dass da draußen gerade die Welt untergeht. Die Welt in ihr ist bereits untergegangen, und weder das eine noch das andere geschieht zum ersten Mal. Es ist ein alter Hut für sie.
Was sie dabei – und danach – denkt, ist: Aber er war frei.
Und es ist ihr verbittertes, müdes Ich, das ihrem verwirrten, schockierten Ich entgegnet: Nein, das war er nicht. Nicht wirklich. Aber jetzt wird er es sein.
Aber dir fehlt der Kontext. Wenden wir uns noch einmal dem Ende zu, diesmal kontinental.
Da ist ein Land.
Es ist ein ganz normales Land, wie alle Länder. Es gibt Berge und Hochebenen und Schluchten und Flussdeltas, das Übliche. Ganz normal ist es, abgesehen von seiner Größe und seiner Dynamik. Es bewegt sich nämlich, dieses Land. Wie ein alter Mann, der ruhelos auf seinem Bett liegt, hebt und senkt es sich, zieht sich zusammen und furzt, gähnt und schluckt. Deshalb haben die Bewohner dieses Landes ihm den Namen Die Stille gegeben. Es ist ein Land der versteckten und verletzenden Ironie.
Die Stille hatte einst andere Namen. Früher einmal bestand das Land aus verschiedenen Ländern. Jetzt ist es ein einziger riesiger, zusammenhängender Kontinent, aber irgendwann in der Zukunft wird es wieder mehr als nur ein Land sein.
Ziemlich bald sogar.
Das Ende beginnt in einer Stadt: der ältesten, größten und herrlichsten lebendigen Stadt der Welt. Die Stadt heißt Yumenes, und sie war einmal das Herz eines Imperiums. Noch immer ist sie das Herz von vielem, allerdings ist das Imperium in den Jahren nach seiner ersten Blüte ein wenig verwelkt, wie das bei Imperien eben so ist.
Es ist nicht die Größe, die Yumenes einzigartig macht. In diesem Teil der Welt gibt es viele große Städte, die wie die Glieder einer Kette entlang des Äquators miteinander verbunden sind und eine Art Kontinentalgürtel bilden. Überall sonst auf der Welt werden nur selten aus Dörfern Städte, und Städte werden selten zu Großstädten, denn all diese Gemeinwesen sind schwer am Leben zu halten, wenn die Erde immer wieder versucht, sie zu verschlingen. Yumenes jedoch ist während der siebenundzwanzig Jahrhunderte, die es existiert, fast immer stabil gewesen.
Yumenes ist einzigartig, weil nur hier die Menschen es gewagt haben, beim Bauen nicht auf Sicherheit zu setzen oder auf Bequemlichkeit, ja nicht einmal auf Schönheit, sondern auf Kühnheit. Die Stadtmauern sind ein Meisterwerk aus filigranen Mosaiken und Prägungen und zeugen ausgiebig von der langen und brutalen Geschichte ihrer Bewohner. Die dicht gedrängten Gebäude werden immer wieder durchbrochen von großen, hohen Türmen, die wie steinerne Finger wirken; von handgeschmiedeten Lampen, die von dem modernen Wunder der Hydroelektrizität mit Energie versorgt werden; von kühnen, gläsernen Brücken und von architektonischen Strukturen, die als Balkone bezeichnet werden und die zugleich so schlicht und tollkühn sind, dass in der gesamten Geschichtsschreibung noch niemand zuvor so etwas gebaut hat. (Aber vergiss nicht, dass in der Geschichtsschreibung das meiste nie erwähnt wird.) Die Straßen bestehen hier nicht aus den üblichen, leicht zu ersetzenden Pflastersteinen, sondern aus einer glatten, lückenlosen und übernatürlichen Substanz, die von den Ortsansässigen als Asphalt bezeichnet wird. In Yumenes haben sogar die Baracken etwas Gewagtes, denn sie sind lediglich dünnwandige Hütten, die aussehen, als würden sie beim nächsten heftigen Wintersturm zusammenbrechen, erst recht bei einem Erdbeben. Und doch stehen sie schon seit Generationen.
Im Herzen der Stadt gibt es viele hohe Gebäude, und es überrascht wohl nicht, dass eines davon besonders groß und gewagter ist als alle anderen zusammen: ein massives Bauwerk, dessen Sockel in Form einer sternenförmigen Pyramide aus präzise behauenen Obsidianziegeln besteht. Pyramiden sind die stabilste architektonische Form überhaupt, und diese Pyramide ist gewissermaßen eine fünffache Pyramide – und warum auch nicht? Und weil das hier Yumenes ist, befindet sich am Scheitelpunkt der Pyramide eine riesige geodätische Kuppel mit facettierten Wänden, die an durchscheinenden Bernstein erinnern. Sie scheint dort zu balancieren, während in Wirklichkeit jeder Teil ihrer Struktur nur dazu dient, sie zu stützen. Das Ganze soll nur verwegen aussehen, weiter nichts.
Im Schwarzen Stern treffen sich die Oberhäupter des Imperiums, um das zu tun, was Oberhäupter so tun. Ihr vollkommener Herrscher wird in der Bernsteinkuppel verwahrt und sorgfältig geschützt. Er schlendert in vornehmer Verzweiflung durch die goldenen Hallen, tut, was man ihm sagt, und fürchtet den Tag, an dem seine Herren beschließen, dass seine Tochter ein besseres Schmuckstück abgibt als er.
All diese Orte und Bewohner spielen übrigens keine Rolle. Ich erwähne sie nur wegen des Kontextes.
Aber dieser Mann jetzt wird sehr wichtig werden.
Vorläufig kannst du dir selbst ausmalen, wie er aussieht. Du kannst dir auch selbst ausdenken, was er gerade denkt. Es mag falsch sein und nur Mutmaßungen, aber wahrscheinlich trifft irgendwas davon zu. In seinem Kopf können in Anbetracht seiner folgenden Taten nur wenige Gedanken sein.
Er steht auf einem Hügel unweit der Obsidianmauern des Schwarzen Sterns. Von hier aus kann er den größten Teil der Stadt überblicken, ihren Rauch riechen, sich in ihrem Geschwätz verlieren. Auf einem der Asphaltwege unterhalb von ihm spazieren ein paar junge Frauen; der Park, in dem sich der Hügel befindet, ist bei den Stadtbewohnern sehr beliebt. (Sorge für Grün innerhalb der Mauern, rät die Steinweisheit, aber in den meisten Gemeinschaften wird brachliegendes Land mit Gemüse und anderen Früchten bepflanzt und nutzbar gemacht. Nur in Yumenes wird das Grün zu Schönheit geformt.) Das Lachen der Frauen weht als Antwort auf etwas, was eine von ihnen gesagt hat, auf einer vorbeistreichenden Brise zu ihm herauf. Er schließt die Augen und genießt das schwache Tremolo ihrer Stimmen und den noch schwächeren Widerhall ihrer Schritte, die sich wie Flügelschläge von Schmetterlingen an seinen Mentastzellen anfühlen. Er kann nicht alle sieben Millionen Einwohner der Stadt mentasten, wirklich nicht. Er ist gut, aber so gut nun auch wieder nicht. Die meisten allerdings sind da. Hier. Er holt tief Luft und wird zu einem Bestandteil der Erde. Sie schreiten über die Fasern seiner Nerven, und die feinen Härchen auf seiner Haut werden von ihren Stimmen bewegt. Ihr Atem kräuselt die Luft, die er in seine Lungenflügel zieht. Sie sind auf ihm. Sie sind in ihm.
Aber er weiß, dass er keiner von ihnen ist und auch niemals einer von ihnen sein wird.
»Wusstest du«, fragt er im Plauderton, »dass die erste Steinweisheit wirklich in Stein geschrieben wurde? Damit man sie nicht verändern und dem jeweiligen Zeitgeist oder der Politik anpassen konnte. Damit sie nicht verging.«
»Ich weiß«, sagt seine Begleitung.
»Hm. Ja, wahrscheinlich warst du dabei, als sie niedergeschrieben wurde, das hatte ich vergessen.« Er seufzt, während die Frauen sein Sichtfeld verlassen. »Es ist ungefährlich, dich zu lieben. Du wirst mich nicht enttäuschen. Du wirst nicht sterben. Und ich kenne den Preis im Voraus.«
Seine Begleitung erwidert nichts. Er hat eigentlich auch nicht damit gerechnet, selbst wenn ein Teil von ihm es gehofft hat. Er ist so einsam gewesen.
Aber Hoffnung ist irrelevant, wie so viele andere Gefühle auch, die ihn – wie er weiß – nur verzweifeln lassen, wenn er sie beachtet. Er hat sich damit genug beschäftigt. Die Zeit des Zauderns ist vorbei.
»Ein Gebot ist in Stein gemeißelt«, sagt der Mann und breitet die Arme aus.
Stell dir sein Gesicht vor, das ihm vom vielen Lächeln wehtut. Stundenlang lächelt er: mit zusammengebissenen Zähnen, zurückgezogenen Lippen, der Bereich um die Augen in Falten gelegt, sodass die Krähenfüße sichtbar werden. Es ist eine Kunst, auf eine Weise zu lächeln, dass andere es glauben. Es ist immer wichtig, die Augen einzubeziehen; ansonsten merken die Leute, dass du sie hasst.
»Gemeißelte Worte sind absolut.«
Er spricht zu niemand Besonderem, aber neben dem Mann steht eine Frau – oder zumindest so etwas Ähnliches wie eine Frau. Die Merkmale sind nur oberflächlich nachgebildet, als Gefälligkeit. Auch das in lockeren Falten herabhängende Kleid, das sie trägt, ist keine echte Kleidung. Sie hat lediglich einen Teil ihrer steifen Substanz so gestaltet, dass es zu den Vorlieben der zerbrechlichen, sterblichen Kreaturen passt, bei denen sie sich gerade aufhält. Aus der Ferne könnte die Illusion sogar funktionieren und sie könnte als reglos dastehende Frau durchgehen, zumindest für eine Weile. Aus der Nähe allerdings würde jeder hypothetische Betrachter bemerken, dass ihre Haut aus weißem Porzellan besteht – und das ist keine Metapher. Als Skulptur wäre sie wunderschön, wenn auch zu schonungslos realistisch für den Geschmack der Ortsansässigen. Die meisten Bewohner von Yumenes ziehen eine höfliche Abstraktion der vulgären Wirklichkeit...
Erscheint lt. Verlag | 27.7.2018 |
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Reihe/Serie | Die große Stille | Die große Stille |
Übersetzer | Susanne Gerold |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Fantasy / Science Fiction ► Fantasy |
Schlagworte | Andere Welten • apokalypse bücher • Bestseller-Autorin • Bestseller-Autorin nk Jemisin • Bestseller New-York-Times# • Brennender Fels • broken earth trilogy • broken earth trilogy deutsch • climate fantasy • climate science fiction • climate scifi • Die große Stille • Die große Stille buch • Dystopie • dystopie Bücher • Dystopische Romane • Endzeit • endzeit Bücher • Endzeit Romane • Familie • Fantasy • Fantasy Bestseller • Fantasy Bücher Erwachsene • Fantasybücher über Klima • fantasy romane für erwachsene • Fantasy Serien • Fantasy Trilogie • gute fantasy bücher • Heldin • High Fantasy • High Fantasy Bücher • Hugo Award • jemisin die große stille • Klima • Klimaveränderung • Klimawandel • Krieg • N K Jemisin • N. K. Jemisin • N.K. Jemisin • Postapokalypse • preisgekrönte serien • Rache • Schicksal • science fiction bücher • Science Fiction Bücher über Klima • Science Fiction Romane • science fiction serien • Science Fiction Trilogie • Sonnenlicht • Starke Frauen • Steinerner Himmel • Tochter • trilogie bücher • trilogie Die große Stille • Verrat • Wahnsinn • weibliche Heldin • Zerrissene Erde |
ISBN-10 | 3-426-45030-5 / 3426450305 |
ISBN-13 | 978-3-426-45030-7 / 9783426450307 |
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