Corpus Delicti (eBook)
272 Seiten
btb (Verlag)
978-3-641-24270-1 (ISBN)
Jung, attraktiv, begabt und unabhängig: Das ist Mia Holl, eine Frau von dreißig Jahren, die sich vor einem Schwurgericht verantworten muss. Zur Last gelegt wird ihr ein Zuviel an Liebe (zu ihrem Bruder), ein Zuviel an Verstand (sie denkt naturwissenschaftlich) und ein Übermaß an geistiger Unabhängigkeit. In einer Gesellschaft, in der die Sorge um den Körper alle geistigen Werte verdrängt hat, reicht dies aus, um als gefährliches Subjekt eingestuft zu werden. Juli Zeh entwirft in »Corpus Delicti« das spannende Science-Fiction-Szenario einer Gesundheitsdiktatur irgendwann im 21. Jahrhundert, in der Gesundheit zur höchsten Bürgerpflicht geworden ist.
Juli Zeh, 1974 in Bonn geboren, Jurastudium in Passau und Leipzig, Promotion im Europa- und Völkerrecht. Längere Aufenthalte in New York und Krakau. Schon ihr Debütroman »Adler und Engel« (2001) wurde zu einem Welterfolg, inzwischen sind ihre Romane in 35 Sprachen übersetzt. Juli Zeh wurde für ihr Werk vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Thomas-Mann-Preis (2013) und dem Heinrich-Böll-Preis (2019). Im Jahr 2018 erhielt sie das Bundesverdienstkreuz und wurde zur Richterin am Verfassungsgericht des Landes Brandenburg gewählt. Ihr Roman »Über Menschen« war das meistverkaufte belletristische Hardcover des Jahres 2021. Zuletzt erschien bei Luchterhand der zusammen mit Simon Urban verfasste Bestseller »Zwischen Welten«.
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Keine verstiegenen Ideologien
Unsere Gesellschaft ist am Ziel«, sagt Kramer, während er den Wasserkocher befüllt. »Im Gegensatz zu allen Systemen der Vergangenheit gehorchen wir weder dem Markt noch einer Religion. Wir brauchen keine verstiegenen Ideologien. Wir brauchen nicht einmal den bigotten Glauben an eine Volksherrschaft, um unser System zu legitimieren. Wir gehorchen allein der Vernunft, indem wir uns auf eine Tatsache berufen, die sich unmittelbar aus der Existenz von biologischem Leben ergibt. Denn ein Merkmal ist jedem lebenden Wesen zu eigen. Es zeichnet jedes Tier und jede Pflanze und erst recht den Menschen aus: Der unbedingte, individuelle und kollektive Überlebenswille. Ihn erheben wir zur Grundlage der großen Übereinkunft, auf die sich unsere Gesellschaft stützt. Wir haben eine METHODE entwickelt, die darauf abzielt, jedem Einzelnen ein möglichst langes, störungsfreies, das heißt, gesundes und glückliches Leben zu garantieren. Frei von Schmerz und Leid. Zu diesem Zweck haben wir unseren Staat hochkomplex organisiert, komplexer als jeden anderen vor ihm. Unsere Gesetze funktionieren in filigraner Feinabstimmung, vergleichbar dem Nervensystem eines Organismus. Unser System ist perfekt, auf wundersame Weise lebensfähig und stark wie ein Körper – allerdings ebenso anfällig. Ein simpler Verstoß gegen eine der Grundregeln kann diesen Organismus schwer verletzen oder sogar töten. Zitrone?«
Mia nimmt gern einen Spritzer Zitrone, und das heiße Wasser, das Kramer ihr reicht, tut gut. Er lässt sich ihr gegenüber im Sessel nieder und pustet in seine Tasse.
»Wissen Sie, was ich damit sagen will?«
»Dass es keine rationale Möglichkeit gibt, die Glaubwürdigkeit eines DNA-Tests in Frage zu stellen«, erwidert Mia leise.
Kramer nickt.
»Der DNA-Test ist unfehlbar. Unfehlbarkeit ist ein Grundpfeiler der METHODE. Wie sollten wir den Menschen im Land die Existenz einer Regel erklären, wenn diese Regel nicht vernünftig und in allen Fällen gültig, mit anderen Worten, unfehlbar wäre? Unfehlbarkeit verlangt Konsequenz, auf die uns der gesunde Menschenverstand verpflichtet.«
»Mia«, sagt die ideale Geliebte, »der Mann spricht in Formeln. Der Mann ist eine Maschine!«
»Kann sein.«
»Gesunder Menschenverstand«, ruft die ideale Geliebte, »ist, wenn einer recht haben will und nicht begründen kann, warum!«
»Warte einen Moment.«
»Wie bitte?«, fragt Kramer.
»Was«, fragt Mia, sich ihm zuwendend, »bedeutet Unfehlbarkeit im Angesicht des Menschlichen?«
»Ich weiß, worauf Sie hinauswollen.«
»Wie«, fragt Mia, »sollen denn Regeln, Maßnahmen, Verfahren unfehlbar sein, wenn das alles doch immer nur von Menschen ersonnen wurde? Von Menschen, die alle paar Jahrzehnte ihre Überzeugungen, ihre wissenschaftlichen Ansichten, ihre gesamte Wahrheit austauschen? Haben Sie sich nie gefragt, ob mein Bruder nicht trotz allem unschuldig sein könnte?«
»Nein«, sagt Kramer.
»Warum nicht?«, fragt die ideale Geliebte.
»Warum nicht?«, fragt Mia.
»Wohin sollte diese Frage führen?« Kramer stellt seine Tasse ab und beugt sich vor. »Zu Einzelfallentscheidungen? Zu einer Willkürherrschaft des Herzens, wie sie ein König ausüben würde, der nach Belieben gnädig und streng sein kann? Wessen Herz sollte entscheiden? Meines? Ihres? Welches Recht stünde dahinter? Die Macht einer übernatürlichen Gerechtigkeit? Glauben Sie an Gott, Frau Holl?«
»Ich glaube nicht an ihn und er nicht an mich. Das beruht auf Gegenseitigkeit.«
»Und auf was will der Herr Kramer sich berufen?«, fragt die ideale Geliebte. »Auf eine rationale Objektivität, an die er selbst nicht glaubt? Und sie nicht an ihn?«
»Na ja«, sagt Mia. »Das Gefühl ist jedenfalls ein schlechter Berater. Es besitzt per definitionem keine Allgemeingültigkeit.«
»Und der Verstand ist eine Illusion«, erwidert die ideale Geliebte schnell. »Nichts weiter als ein Kostüm, in das der Mensch die Summe seiner Gefühle steckt.«
»Du sprichst in romantischen Anachronismen!«, ruft Mia.
»Und du in jenen intellektuellen Sophistereien, an denen Moritz zugrunde gegangen ist!«
»Frau Holl!« Kramer winkt mit einer wohlgeformten Hand, als vertreibe er Nebelschwaden. »Hören Sie auf, mit sich selbst zu reden. Sie haben einen Menschen verloren. Nicht aber Ihre Überzeugung.«
»Eine Überzeugung, die Moritz zeit seines Lebens verachtet hat«, sagt die ideale Geliebte.
Mia wirft ihr einen warnenden Blick zu und steht auf, um ans Fenster zu treten. Es ist ein schöner Tag, ein Tag wie aus einer Werbung für eiweißhaltige Fitnessprodukte. Nur mit Mühe widersteht Mia dem Wunsch, die Vorhänge zuzuziehen. Die Sonne entdeckt halb leere Essenskartons vom Lieferservice, abgeworfene Kleidungsstücke und Staubflusen in allen Ecken. Es riecht nach zwanzigstem Jahrhundert. Mit jeder Minute scheint das helle Licht die Unordnung im Zimmer zu vergrößern.
»Ich blicke auf eine Kreuzung zwischen zwei Wegen«, sagt Mia. »Der eine Weg heißt Unglück, der andere Verderben. Entweder ich verfluche ein System, zu dessen METHODE es keine vernünftige Alternative gibt. Oder ich verrate die Liebe zu meinem Bruder, an dessen Unschuld ich ebenso fest glaube wie an meine Existenz. Verstehen Sie?« Mit einer heftigen Bewegung dreht sie sich um. »Ich weiß, dass er es nicht getan hat. Was soll ich jetzt machen? Wie mich entscheiden? Für den Sturz oder den Fall? Die Hölle oder das Fegefeuer?«
»Weder – noch«, sagt Kramer. »Es gibt Situationen, in denen nicht die eine oder die andere Möglichkeit, sondern die Entscheidung selbst der Fehler wäre.«
»Soll das heißen … Sie, ausgerechnet Sie bekennen sich zu Lücken im System?«
»Selbstverständlich.« Jetzt ist sein Lächeln entwaffnend. Vom Sessel aus sieht er zu ihr auf. »Das System ist menschlich, das haben Sie eben selbst festgestellt. Natürlich weist es Lücken auf. Das Menschliche ist ein nachtschwarzer Raum, in dem wir herumkriechen, blind und taub wie Neugeborene. Man kann nicht mehr tun, als dafür zu sorgen, dass wir uns beim Kriechen möglichst selten die Köpfe stoßen. Das ist alles.«
»Die Köpfe stoßen? Mein Kopf ist bereits zerschmettert.«
»Das sehe ich anders, und zwar mit eigenen Augen.« Kramer streckt einen Arm aus und deutet genau in die Mitte von Mias Stirn. »Es gilt, sich über all das zu erheben. Trauern Sie um Ihren Bruder, Mia. Trauern Sie nach Kräften. Und währenddessen kehren Sie zur Normalität zurück. Sie sind den Behörden auffällig geworden wegen gewisser Versäumnisse.«
»Es gibt Situationen, in denen …«, beginnt Mia, aber Kramer winkt ab.
»Sparen Sie sich die Rechtfertigungen, das haben Sie gar nicht nötig. Man wird Sie zu einem klärenden Gespräch einladen, nichts weiter. Nehmen Sie das Angebot an. Räumen Sie auf. Putzen Sie wenigstens die äußeren Zeichen der Hoffnungslosigkeit aus Ihrem Leben. Es ist immer noch Ihr Leben. Nehmen Sie es in die Hand.«
»Nichts anderes habe ich vor«, sagt Mia leise.
»Das freut mich sehr.« Kramer springt mit einem Elan aus dem Sessel, als wolle er sich eigenhändig an die Aufräumarbeiten machen. Mia sieht ihn misstrauisch an.
»Und Sie haben gleich einen Besen mitgebracht? Zum Zusammenkehren der Hoffnungslosigkeit?«
Sofort korrigiert Kramer seine Haltung und schiebt die Hände in die Hosentaschen.
»Was mich auf eine interessante Frage bringt«, sagt Mia. »Sie sind ein viel beschäftigter Mann. Ich glaube kaum, dass es Ihnen an kompetenten Gesprächspartnern fehlt. Planen Sie, mich zu adoptieren?«
»Mit anderen Worten«, sagt die ideale Geliebte, »was zum Teufel willst du hier?«
»Ich bin hier, um Ihnen einen Vorschlag zu machen.«
Kramer beginnt, durchs Zimmer zu schlendern, und verzichtet nicht darauf, die Fehlstandsanzeige an Mias Hometrainer abzulesen.
»Alles, was wir soeben besprochen haben, geht nicht nur Sie etwas an, sondern das ganze Land. Es wird nicht lange dauern, bis die ersten Doktorarbeiten zum Fall Ihres Bruders erscheinen – auf dem Gebiet der Rechtswissenschaft, der Soziologie, Psychologie, Politologie. Die causa Moritz Holl wird zu einer wahren Königin der Fußnoten avancieren. Wie kann es sein, dass die METHODE die Schuld eines Angeklagten zweifelsfrei feststellt und dieser sich trotzdem für unschuldig hält? Warum klaffen allgemeines und persönliches Wohl in einem solchen Fall auseinander? Das sind Grundfragen unseres Zusammenlebens. Grundfragen der METHODE, die immer wieder neu gestellt und behandelt werden müssen.«
Mia folgt seinem Weg mit verwundertem Blick.
»Gestellt? Behandelt? Wollen Sie mich etwa für ein – kritisches Interview?«
»Für ein differenziertes Gespräch. Ich würde Sie gern porträtieren, Mia. Für den GESUNDEN MENSCHENVERSTAND. Der Journalismus ist schon lange kein Wanderzirkus mehr, der weiterzieht, wenn das Spektakel vorbei ist.«
»Gleich lache ich laut«, sagt die ideale Geliebte. »Obwohl ich das gar nicht kann.«
»Wir könnten zeigen, welche Tragödien und Widersprüche selbst hinter einem sauberen System wie der METHODE stecken. Und warum es trotzdem notwendig ist, sich immer wieder zum Weg der Vernunft zu bekennen. Ein guter Bürger ist nicht einer, der wie ein Schaf mit der Herde trottet. Ein guter Bürger durchleidet Krisen und Zweifel, um danach nur noch fester zur gemeinsamen Sache zu stehen. Das könnten Sie den Menschen zeigen, Mia Holl. Denken Sie darüber nach. Es wäre nicht zu Ihrem Nachteil.«
»Wenn...
Erscheint lt. Verlag | 6.8.2018 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 2054 • 21.Jahrhundert • bestsellerliste spiegel aktuell • Bestseller Taschenbuch 2020 • Dystopie • dystopie fantasy • eBooks • Eigenverantwortung • Gericht • Geschenkausgabe • Gesundheitsdiktatur • Inzest • Liebe • Mündigkeit • Politthriller • Prozess • Roman • Romane • Schullektüre Deutsch • Schwurgericht • spiegel bestseller • SPIEGEL-Bestseller • Thriller • Über Menschen • Unfehlbarkeit • Verstand • Zukunft |
ISBN-10 | 3-641-24270-3 / 3641242703 |
ISBN-13 | 978-3-641-24270-1 / 9783641242701 |
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