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Runas Schweigen (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2018
624 Seiten
Blanvalet Taschenbuch Verlag
978-3-641-23672-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Runas Schweigen - Vera Buck
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»Man kam nicht her, um zu genesen, sondern um zu sterben.«
Paris, 1884. In die neurologische Abteilung der Salpêtrière-Klinik wird ein kleines Mädchen eingeliefert: Runa, die allen erprobten Behandlungsmethoden trotzt und den berühmten Arzt und Hysterieforscher Dr. Charcot vor versammeltem Expertenpublikum blamiert. Jori Hell, ein Schweizer Medizinstudent, wittert seine Chance, an den ersehnten Doktortitel zu gelangen, und schlägt das bis dahin Undenkbare vor. Als erster Mediziner will er eine Patientin heilen, indem er eine Operation an ihrem Gehirn durchführt. Was er nicht ahnt: Runa hat mysteriöse Botschaften in der ganzen Stadt hinterlassen, auf die auch andere längst aufmerksam geworden sind. Und sie kennt Joris dunkelstes Geheimnis ...

Die Hardcover-Ausgabe erschien unter dem Titel »Runa« bei Limes.

Vera Buck, geboren 1986, studierte Journalistik in Hannover und Scriptwriting auf Hawaii. Während des Studiums verfasste sie Texte für Radio, Fernsehen und Zeitschriften, später Kurzgeschichten für Anthologien und Literaturzeitschriften. Nach Stationen an Universitäten in Frankreich, Spanien und Italien lebt und arbeitet Vera Buck heute in Zürich. Ihr Debütroman »Runa« (im Taschenbuch »Runas Schweigen«) wurde für den renommierten Glauser-Preis nominiert und, wie auch der Nachfolger »Das Buch der vergessenen Artisten«, von Lesern und der Presse hoch gelobt.

Dieses Mal war es das Gesangbuch der katholischen Kirche. Monsieur Dupont holte aus und knallte es mir mit einer Präzision hinter die Ohren, die eine langjährige Erfahrung im Bücherhinterdieohrenknallen bewies. Gebetsbücher, Dichtungen und Abenteuerromane von Jules Verne – ich hatte zu diesem Zeitpunkt bereits alles um den Kopf gehauen bekommen, eine Woche zuvor sogar die Bibel. Doch das Gesangbuch lag heute näher, Monsieur Dupont hatte es ohnehin in der Hand gehalten.

»Wir waren also mal wieder zu faul, das Lied anständig einzuüben, und halten lieber den ganzen Chor auf, wie?«, schimpfte er und machte ein Gesicht, als wolle er am liebsten noch einmal ausholen. Ich kniff die Augen zusammen, hob die Schultern und betete, dass ich hinter den Ohren irgendwann eine Hornhaut entwickeln würde, so wie ich damals Hornhaut an den Fingern bekommen hatte, als ich einen Sommer lang beim Zäuneziehen half, ebenfalls auf Vaters Wunsch.

Ora pro nobis pecatoribus

Ora, ora pro nobis

Ora, ora pro nobis pecatoribus

Ich kannte den Wortlaut auswendig, schwierig war er schließlich nicht. Immer nur ora, ora, ora und so weiter, nicht sehr einfallsreich. Aber die Töne wollten mir in letzter Zeit einfach nicht mehr gelingen. Monsieur Dupont wusste das. Er wusste es, und trotzdem zwang er mich dazu, laut zu singen. Als hätte ich mich nicht absichtlich darum bemüht, die Wörter nur unauffällig mit den Lippen nachzuformen. So laut hatte ich singen müssen, dass alle anderen die Kiekser gehört hatten, die meine Stimme machte.

»Nein, Monsieur. Es tut mir leid, Monsieur«, sagte ich leise, und wieder quiekten die Worte aus mir heraus, als hätte ich Schluckauf. Ich konnte den Mund nicht aufmachen, ohne dass ein unkontrollierbarer Ton herauskam. Die anderen Jungen im Chor lachten.

»Du hältst das wohl für lustig, wie?«

»Nein, Monsieur.«

Er gab ein Geräusch von sich, das klang, als würde ein Hund niesen.

»Und wenn ich dir sage, dass du den Nachmittag hierbleibst und das Lied einstudierst, und zwar so lange, bis es klappt, findest du es auch noch lustig, wie?«

Ich kniff die Lippen zusammen. Ich hatte keine Lust, den Nachmittag zu bleiben. Ebenso wenig, wie ich am Morgen hatte herkommen wollen. Ich wollte viel lieber in die Bibliothek gehen und sehen, ob ich Gérard traf.

Ich schob die geschlossenen Lippen zwischen die Zähne und biss aufs Fleisch, bis es schmerzte. Gleich wirst du wieder losheulen, dachte ich verärgert, die Tränen sitzen dir doch schon im Hals. Und um mich abzulenken, fragte ich mich, warum das so war, warum man Tränen in der Kehle spürte, obwohl sie eigentlich aus den Augen kamen.

»Ich kann dich nicht verstehen, wie?«

»Nein, Monsieur. Ich danke Ihnen, Monsieur«, kiekste ich, und die Jungen kicherten. Natürlich musste ich den Nachmittag in der Kirche verbringen.

Die Sonne fiel durch das Portal und zeichnete Punkte auf den kalten Steinboden. Sie rotteten sich zusammen wie eine Schar bunter Käfer. Ich sah mich verstohlen um, um sicherzugehen, dass mich niemand beim Denken solcher Dinge beobachtete. Rührseligkeiten, würde mein Vater sagen, Gefühlsduseleien. Ich zog das zusammengefaltete Schulheft unter meinem Ministrantengewand hervor. Auf der letzten Seite hatte ich Beobachtungen, Skizzen und kurze Gedichte eingetragen, die mir in den Sinn kamen, wann immer ich allein war. Sie ließen mir keine Ruhe, bis ich sie niederschrieb, heimlich und in Schnörkelschrift. »Mädchenschrift« nannte Vater das. Noch einmal sah ich mich um. Das Heft würde hinter den Ohren nicht sehr wehtun, dafür war es zu dünn und zu weich, nicht einmal einen festen Umschlag hatte es. Ich hatte nur Angst davor, dass jemand die letzte Seite entdeckte und sie laut vorlesen könnte, oder noch schlimmer, dass ich selbst sie vorlesen müsste und dabei auch noch kiekste. Hirnabfall, würden sie denken und mich für einen Spinner halten.

Mir fielen sechs Begriffe ein, die sich auf Glas reimten.

Ich schrieb sie nieder und steckte mein Schulheft zurück unter das Gewand, das ich ausziehen würde, sobald die anderen gegangen waren. Es war mir irgendwie peinlich, mich vor ihnen zu entkleiden, früher nicht, aber heute, vor allem, seit Gustave zu der Gruppe gekommen war, von dem ich spürte, dass er anders war als die anderen und dass er auch kein Priester werden wollte.

Ich lauschte darauf, wie die Jungen sich im Nebenraum umzogen, hastig, das Gekicher unterdrückt, die Stimmen gemäßigt, später dann befreit und laut, als sie durchs Seitenportal ins Freie strömten. Der Nachmittag lag noch vor ihnen, vor mir dagegen nur das scheußliche Gesangbuch.

Ich schlug es von hinten auf und wendete die Seiten lustlos um, von vorn oder von hinten, die Lieder waren so oder so einschläfernd und unoriginell, nicht eine gute Metapher war darin zu finden. Ich stieß meinen Daumen in die Schnittkante des Buchs und beobachtete, wie die goldenen Seiten unter meinem Finger hindurchblätterten. Von vorne nach hinten, von hinten nach vorne, ich mochte das Geräusch der Blätter, wenn sie aufeinanderprasselten, und den leisen Luftzug, den das erzeugte.

Dann hielt ich plötzlich inne. Mir war, als hätte ich etwas gesehen, das die Gleichförmigkeit der Seiten durchbrach, ein Text mit anderem Schriftbild oder enger stehenden Zeilen, genau konnte ich es nicht sagen. Ich blätterte das Buch erneut durch, langsamer diesmal, das dünne Papier raschelte unter meinen Fingern. Ich fand die Stelle im hinteren Teil des Buchs. Bleistiftschrift über der Druckerschwärze, eine ganze Seite war beschrieben und bemalt, das ganze Lied Nr. 28. Ich wendete die Seite, auch das nächste Lied, Qu’elle est douce, und das übernächste – fünf oder sechs Seiten insgesamt. Der Gedanke packte mich, dass ich das Buch die ganze Zeit in der Hand gehalten hatte, ohne etwas von dem zu ahnen, was sich auf den letzten Seiten verbarg, eine geheime Botschaft inmitten der Kirchenlieder. Ich sprang von der Kirchenbank auf und nahm das Gesangbuch mit zum Seitenportal, wo die Sonne durch die bunt verglasten Fenster fiel. Dort hielt ich es ins Licht und betrachtete zunächst die Zeichnungen, die ungelenk wie die eines Kindes waren und noch dazu auf den Kopf gestellt. Erst als ich das Buch drehte, begriff ich, dass es jemand verkehrt herum benutzt hatte. Die letzte Seite war zur ersten gemacht worden und beschrieben. Und jede andere, schon existierende Schrift war dabei mit beeindruckender Hartnäckigkeit ignoriert worden. Ganz so, als ob es die Liedstrophen in dem Gesangbuch gar nicht gäbe. Ich konnte Menschen erkennen, in Strichen dargestellt, ein Viereck auf Rädern, Haken und Symbole, die aussahen wie Fische mit langen Nasen. Ich sah einen Topf, in dem ein kleiner Mensch steckte. Und dazwischen Buchstaben – Buchstaben über Buchstaben. Ich versuchte, die ersten Wörter zu entziffern, und musste enttäuscht feststellen, dass ich sie nicht lesen konnte. Sie schienen in einer anderen Sprache verfasst zu sein, oder in Geheimschrift:

Ohne den Blick von den Zeichen zu nehmen, hockte ich mich auf den kalten Kirchenboden, genau in den bunten Fleck, den die Sonne auf die Steine zeichnete. Ich versuchte ein System zu erkennen. Den krakeligen Buchstaben nach zu urteilen war das Kind, das diesen Text verfasst hatte, jünger als ich, deshalb nahm ich an, der Schlüssel könnte so kompliziert nicht sein.

Ich zog mein Schulheft hervor, blätterte bis zur Mitte und schrieb das ABC in zwei langen Reihen senkrecht aufs Papier, mit etwas Platz hinter jeder Spalte, dort, wo die verschlüsselten Buchstaben stehen sollten. Mit der Zungenspitze zwischen den Zähnen trug ich die wahrscheinlichsten Kombinationen ein, strich alte Möglichkeiten weg, probierte neue aus. Der Text musste eine Bedeutung haben, niemand schrieb in ein Gesangbuch und dachte sich dabei Wörter aus, die keinen Sinn ergaben, es sei denn, es war tatsächlich eine fremde Sprache, aber diese Möglichkeit schloss ich lieber von vornherein aus. Ein Geheimcode musste es sein, den konnte ich wenigstens entschlüsseln!

Ich hielt inne, als mir die Wiederholung in den Wörtern auffiel. Der geheime Text bestand eigentlich nur aus neun Buchstabenkombinationen, wie ich jetzt sah: Mit »H-g« hörte er auf und begann dann immer und immer wieder von vorne, wie eine Beschwörung. Ich blätterte die Seite um. Eineinhalb weitere Seiten waren in dieser Art beschrieben und mit Bildern übersät, dann riss die Zeichenkette plötzlich ab. Und mitten in der dritten Zeile, dort, wo die Zeichnung eines Männchens war, das sich über ein anderes beugte, entdeckte ich endlich ein Wort, das ich verstand oder zumindest lesen konnte: Ouvre-corps, der Körperöffner.

Aufgeregt und ein wenig verstört beugte ich mich vor. Ich dachte zunächst, ich hätte das Wort falsch entziffert, doch es gab keinen Zweifel: Körperöffner stand da, zwischen den Strophen des Lieds 29. Das Wort war fürchterlich und gleichzeitig poetisch, und dann auch noch zusammen mit dieser Zeichnung! Mir wurde kalt. In der nächsten Zeile konnte ich nicht viel lesen. Wo der blasse Bleistiftstrich auf die schwarzen Druckbuchstaben traf, waren die Wörter schlecht zu erkennen. Sie wurden verschluckt von den kopfstehenden Noten. Nur dort, wo die Strophe aufhörte und der Zwischenraum Platz zum Schreiben gelassen hatte, war wieder etwas zu lesen, etwas von Fröschen und einem Sammler. Ich hielt mir das Gesangbuch so dicht vor die Nase, als könne der Geruch der alten Seiten mir beim Entziffern helfen.

Ein geschlossener Text war es nicht, nur hier und dort konnte ich einen halbwegs vollständigen Satz entziffern: »nennt uns Frösche« stand da....

Erscheint lt. Verlag 3.9.2018
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte "Das Parfum" • Dr. Charcot • dunkles Geheimnis • eBooks • Experimente • Frankreich • Heimatkrimi • Historische Kriminalromane • Historische Romane • Hysterie • Krimi • Kriminalfall • Kriminalromane • Krimis • Paris • Psychiatrie • Roman • Romane • Salpêtrière • Schweiz • Wahn
ISBN-10 3-641-23672-X / 364123672X
ISBN-13 978-3-641-23672-4 / 9783641236724
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