Der Horror der frühen Medizin (eBook)
330 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-75742-0 (ISBN)
Grausig sind die Anfänge der Medizin: Leichenraub, blutige Operationen wie Kirmesspektakel, Arsen, Quecksilber, Kokain als verschriebene Heilmittel. Mitte des 19. Jahrhunderts ist das Unwissen der Ärzte sagenhaft, wie sie praktizieren, ein einziger Albtraum. Bis ein junger Student aus London mit seinen Entdeckungen alles verändert ... Lindsey Fitzharris erzählt vom Leben dieses Mannes und vom Horror, den ein einfacher Arztbesuch damals bedeutete - schaurig, unterhaltsam, erhellend.
Als Joseph Lister 1844 sein Studium in London beginnt, ist die medizinische Versorgung der Bevölkerung desaströs: Die Krankenhäuser sind überfüllt und verseucht. Um aufgenommen zu werden, müssen Patienten genug Geld für die eigene Beerdigung mitbringen. In den Operationssälen arbeiten Chirurgen in Straßenklamotten vor schaulustigem Publikum. Warum fast alle Patienten sterben, wie sich Krankheiten ausbreiten, darüber herrscht nicht im Geringsten Einigkeit, nur hanebüchene Theorien. Joseph Lister wird Chirurg, er will ganz praktisch helfen. Und von Neugier und hellem Verstand geleitet, entwickelt er eine Methode, die das Sterben vielleicht beenden kann ...
<p>Lindsey Fitzharris promovierte in Oxford in Medizingeschichte. Ihre YouTube-Serie <em>Under the Knife</em> über Wissenswertes und Gruseliges aus der Welt der Chirurgie verhalf Fitzharris zu größerer Bekanntheit. Sie schreibt regelmäßig für <em>The Guardian</em>, <em>The Huffington Post</em>, <em>The Lancet</em> und <em>New Scientist </em>. Ihr Buch <em>Der Horror der frühen Medizin</em> war ein internationaler Erfolg, wurde in 15 Sprachen übersetzt und stand 19 Wochen lang auf der <em>SPIEGEL</em>-Bestsellerliste.</p>
Lindsey Fitzharris promovierte in Oxford in Medizingeschichte. Ihre YouTube-Serie Under the Knife über Wissenswertes und Gruseliges aus der Welt der Chirurgie verhalf Fitzharris zu größerer Bekanntheit. Sie schreibt regelmäßig für The Guardian, The Huffington Post, The Lancet und New Scientist.
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Durch das Objektiv
Und nun wollen wir die weitere bedeutende Tatsache nicht übersehen, dass die Wissenschaft nicht nur der Bildhauerei, Malerei, Musik und Poesie zugrunde liegt, sondern dass die Wissenschaft selbst poetisch ist. […] Mit wissenschaftlichen Untersuchungen Beschäftigte zeigen uns beständig, dass sie nicht weniger lebhaft, sondern lebhafter als andere, die Poesie ihres Gebietes erfassen.
Herbert Spencer
*
Der kleine Joseph stellte sich auf die Zehenspitzen und spähte durch das Okular des neusten Mikroskops seines Vaters. Das wunderbare Gerät war überhaupt nicht zu vergleichen mit den kleinen Taschenmikroskopen, die so viele Touristen bei ihren Ausflügen ans Meer dabeihatten. Es war schön, elegant und leistungsstark: ein Symbol des wissenschaftlichen Fortschritts.
Als er zum ersten Mal durch ein Mikroskop blickte, staunte der kleine Lister über die neue, geheimnisvolle Welt, die sich vor seinen Augen auftat. Anscheinend konnte man mit dem Vergrößerungsglas unendlich viele Dinge studieren. Er war begeistert. Einmal fing er eine Garnele und betrachtete ehrfürchtig »das sehr schnell schlagende Herz« und die »pulsierende Aorta«. Er konnte sogar sehen, wie das Blut unter dem Außenskelett langsam durch das lange, röhrenförmige Herz und den Körper des zappelnden Tierchens floss.
Joseph Lister wurde am 5. April 1827 geboren. Anfangs wurde er nicht groß beachtet, doch als er sechs Monate alt war, schrieb seine Mutter in einem Brief an ihren Mann: »Das Baby war heute ungewöhnlich reizend.« Er war der zweitgeborene Sohn und das vierte von insgesamt sieben Kindern. Seine Eltern Joseph Jackson und Isabella Lister waren strenggläubige Quäker.
Lister hatte in seiner Kindheit reichlich Gelegenheit, mit dem Mikroskop Miniaturwelten zu erkunden. Quäker waren Anhänger des einfachen Lebens. Der kleine Lister durfte weder jagen noch Sport treiben noch ins Theater gehen. Das Leben war ein Geschenk, das dazu diente, Gott zu ehren und seinen Nächsten zu helfen. Es sollte nicht mit banalen Beschäftigungen verschwendet werden. Daher wandten sich zahlreiche Quäker der Wissenschaft zu, einem der wenigen Zeitvertreibe, die ihre Religion ihnen gestattete. In vielen Familien gab es einen Gebildeten, der große wissenschaftliche Leistungen erbrachte.
Listers Vater war dafür das beste Beispiel. Er verließ mit vierzehn die Schule und ging bei seinem Vater, einem Weinhändler, in die Lehre. Viele Quäker im viktorianischen England lebten abstinent, obwohl ihr Glaube dies nicht ausdrücklich verlangte. Als das jahrhundertealte Geschäft der Listers gegründet worden war, war das Trinken von Alkohol in der Quäkergemeinde noch durchaus üblich gewesen. Joseph Jackson Lister wurde schließlich Kompagnon seines Vaters. Weltweite Anerkennung erlangte er jedoch durch seine Erfindungen im Bereich der Optik. Sein Interesse für optische Phänomene war bereits in seiner Kindheit geweckt worden, als er im Arbeitszimmer seines Vaters einen Lufteinschluss in der Fensterscheibe entdeckte und feststellte, dass die Blase wie eine einfache Lupe funktionierte.
Anfang des 19. Jahrhunderts waren Mikroskope vor allem Spielzeuge für den wohlhabenden Gentleman und wurden in teuren, mit Samt ausgeschlagenen Schatullen verkauft. Manche Modelle waren auf einem Holzfuß mit Schubladen befestigt. Darin befanden sich zusätzliche Objektive und anderes Zubehör, das so gut wie niemand benutzte. Die meisten Hersteller lieferten ihren reichen Kunden fertig präparierte Objektträger mit Tierknochenstücken, Fischschuppen oder zarten Blüten. Kaum jemand kaufte sich damals ein Mikroskop, um ernsthafte wissenschaftliche Forschungen zu betreiben.
Joseph Jackson Lister war eine Ausnahme. Er liebte das Mikroskop und beschäftigte sich zwischen 1824 und 1843 intensiv damit, die technischen Mängel des Gerätes zu beheben. Die damals gebräuchlichen Linsen verursachten Verzerrungen, da sie Licht verschiedener Wellenlänge unterschiedlich stark brachen. Dadurch entstanden an den Objekträndern violette Farbsäume. Wegen dieses Halo-Effekts hielten viele Leute die mikroskopische Darstellung für einen Schwindel. Lister arbeitete fieberhaft daran, die störenden Farbsäume zu eliminieren, und präsentierte 1830 eine achromatische Linse, die den Abbildungsfehler korrigierte. Obwohl er weiterhin hauptberuflich als Weinhändler tätig war, fand er die Zeit, seine Linsen selbst zu schleifen und die Messwerte so präzise festzulegen, dass er sein Mikroskop bei einem der führenden Londoner Instrumentenmacher in die Herstellung geben konnte. 1832 wurde er für seine Verdienste in die Royal Society aufgenommen.
Im ersten Stock von Listers Elternhaus befand sich das »Museum«, ein Raum mit Hunderten Fossilien und anderen Schätzen, die alle möglichen Familienmitglieder im Lauf der Zeit zusammengetragen hatten. Alle Lister-Kinder mussten ihrem Vater vorlesen, während er sich morgens anzog. Die Bibliothek bestand aus religiösen und wissenschaftlichen Wälzern. Eines der ersten Geschenke, das Joseph von seinem Vater bekam, war Evenings at Home or, The Juvenile Budget Opened, ein vierbändiges Kinderbuch mit Fabeln, Märchen und naturkundlichen Beschreibungen.
Anders als viele seiner Zeitgenossen war Lister während seiner Kindheit so gut wie nie in ärztlicher Behandlung, denn sein Vater vertraute ganz auf die vis medicatrix naturae, die Heilkraft der Natur. Wie viele Quäker hielt er nichts von Ärzten und Medikamenten, sondern beharrte eisern darauf, dass die Vorsehung über den Genesungsprozess entschied. Die Verabreichung körperfremder Stoffe war seiner Meinung nach nicht nur überflüssig, sondern mitunter sogar lebensgefährlich. Da die meisten Arzneien damals hochgiftige Substanzen wie Heroin, Kokain oder Opium enthielten, lag Lister senior mit seinen Ansichten vielleicht gar nicht so falsch.
Entsprechend groß war die Überraschung, als der junge Lister seinen strenggläubigen Eltern mitteilte, er wolle Chirurg werden — ein Beruf, bei dem man aktiv in die Schöpfung eingriff. Bis auf einen entfernten Cousin war niemand in der Familie Arzt. Dazu kam, dass die Chirurgie nicht nur in der Quäkergemeinschaft kaum Ansehen genoss. In der Gesellschaft galten Chirurgen als Handwerker, die ihren Lebensunterhalt mit körperlicher Arbeit verdienten, so ähnlich wie heute Schlosser oder Klempner. Ihre niedrige soziale Stellung zeigte sich unter anderem daran, dass sie in relativer Armut lebten. Bis 1848 beschäftigte keines der großen Krankenhäuser einen fest angestellten Chirurgen, und mit Privatpraxen ließ sich kaum Geld verdienen.
Aber natürlich machte sich der junge Lister noch keine Gedanken über Geld und gesellschaftliches Ansehen. Sein Interesse galt ganz anderen Dingen. Im Sommer 1841 schrieb der Vierzehnjährige an seinen Vater: »Als Mama nicht da war, war ich allein zu Hause und hatte nichts zu tun, als Skelette zu zeichnen.« Lister bat um einen Zobelhaarpinsel, damit er »einen Mann mit allen Muskeln« wiedergeben konnte. Er zeichnete und beschriftete jeden Schädelknochen und obendrein jeden Handknochen von der Vorder- und Rückseite. Wie sein Vater war Lister ein begabter Künstler — ein Talent, das ihm später als Chirurg dabei half, seine mikroskopischen Beobachtungen mit verblüffender Genauigkeit festzuhalten.
Zu Listers Studienobjekten in diesem Sommer gehörte auch ein Schafskopf. In demselben Brief schrieb er: »Ich habe fast alles Fleisch abgelöst; ich muss wohl noch das Hirn entfernen … bevor ich ihn im Bottich mazeriere.« Damit wollte er das restliche Schädelgewebe aufweichen. Später setzte er das Skelett eines zuvor sezierten Frosches wieder zusammen und montierte es auf ein Holzstück, das er aus der Kommode seiner Schwester gestohlen hatte. Voller Begeisterung schrieb er seinem Vater: »Es sieht aus, als wolle er davonhüpfen«, und fügte verschwörerisch hinzu: »Bitte sag Mary nichts von dem Holzstück.«
So groß seine eigenen Vorbehalte gegen die Schulmedizin auch sein mochten, für Listers Vater stand fest, dass sein Sohn einmal Arzt werden würde.
*
Als Lister mit siebzehn sein Studium am University College London (UCL) aufnahm, begann für ihn ein völlig neues Leben. Sein Geburtsort Upton war eine Kleinstadt mit knapp...
Erscheint lt. Verlag | 9.7.2018 |
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Übersetzer | Volker Oldenburg |
Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | The Butchering Art |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Antiseptikum • Arznei • Arzt • Bestseller • Bestseller bücher • Bestsellerliste • Betäubung • buch bestseller • bücher bestseller 2018 • Bücher Bestseller 2018 Taschenbuch • bücher bestseller 2019 • Bücher Bestseller 2019 Taschenbuch • bücher bestseller 2020 • Chirurg • Chirurgen • comfy crime • Cosy Crime • cosy krimi deutsch • Cottagecore-Krimi • Cozy Mystery • Doktorbesuch • Dungeon • England • Grusel • Heilkunde • Heilkunst • Horror • Körper • Krankenhaus • Krankheit • Krankheiten heilen früher • Krimi für den Urlaub • Leib • London Greater London • Mark Benecke • Medizin • Medizin früher • Medizingeschichte • Medizinische Versorgung früher • Narkose • Operation • Operationen früher • Operation ohne Betäubung • Page Turner • Pein • Provinz-Krimi • Quacksalber • Schmerz • Schmerzen • Schmöker-Krimi • Skalpell • Spannung • spiegel bestseller • SPIEGEL-Bestseller • Spiegel Bestseller 2018 • spiegel bestsellerliste • Spiegel-Bestsellerliste • Spiegel Bestseller Liste • Spiegel-Bestseller-Liste • Spiegel Bestsellerliste aktuell • ST 5058 • ST5058 • Süd- und Südost-England • suhrkamp taschenbuch 5058 • The Butchering Art. Jospeh Lister's Quest to Transform the Grisly World of Victorian Medicine deutsch • Under the Knife • Vereinigtes Königreich Großbritannien • Weihnachtsgeschenk • Westeuropa • Wohlfühl-Krimi |
ISBN-10 | 3-518-75742-3 / 3518757423 |
ISBN-13 | 978-3-518-75742-0 / 9783518757420 |
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