Fast genial (eBook)
336 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-60929-5 (ISBN)
Benedict Wells wurde 1984 in München geboren, zog nach dem Abitur nach Berlin und entschied sich gegen ein Studium, um zu schreiben. Seinen Lebensunterhalt bestritt er mit diversen Nebenjobs. Sein vierter Roman, ?Vom Ende der Einsamkeit?, stand mehr als anderthalb Jahre auf der Bestsellerliste, er wurde u.a. mit dem European Union Prize for Literature (EUPL) 2016 ausgezeichnet. Benedict Wells' Bücher sind in 40 Sprachen erschienen, sein neuester Roman ?Hard Land? wurde 2022 mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis in der Kategorie Preis der Jugendjury ausgezeichnet. Nach Jahren in Barcelona lebt Benedict Wells in Zürich.
2
Claymont war ein Provinznest an der Ostküste, gerade noch groß genug für die Standardausrüstung einer Kleinstadt: McDonald’s, Papa John’s, Starbucks, Wal-Mart, Subway und Lucky Brand Jeans. Für Festivals oder eine Universität war der Ort drei Ecken zu klein, und wer was im Leben vorhatte, haute gleich nach der Schule ab. Die restlichen {17}Bewohner von Claymont hatten Minderwertigkeitskomplexe, weil sie hier lebten und nicht im dreißig Meilen entfernten Jersey City, so wie die Leute in Jersey City Komplexe hatten, weil sie dort lebten und nicht in New York. Die größten Komplexe aber hatten die Menschen, die im Pine-Tree-Trailerpark draußen am Stadtrand hausten. Es waren Verrückte, Verlierer oder kaputte Familien. Selbst die meisten Kinder wirkten schon verstört, mit raspelkurzen Haaren, schlechten Zähnen und einem debilen Gesichtsausdruck, den man nur bekam, wenn einem das Leben die Unwissenheit ins Gesicht getackert hatte. Hier lebte Francis mit seiner Mutter seit zweieinhalb Jahren. Durch ihre Krankheit hatte sie ihren Job als Sekretärin in einer Immobilienfirma verloren, kurz darauf hatte sich sein Stiefvater an der Börse verspekuliert. Von dem bisschen Geld, das er ihnen gab, hatten sie die Miete für die Wohnung im Zentrum nicht mehr bezahlen können. Danach hatten sie erst in einem Motel 6 gewohnt, ehe sie schließlich in eines der siebzig verfallen wirkenden Mobile Homes am Rand von Claymont gezogen waren.
Anfangs hatte es Francis gestört, aber inzwischen war es ihm egal. Hin und wieder bekam er zwar mit, wie die Polizei jemanden verhaftete, oder er beobachtete eine Schlägerei, bei der jemand halb totgeprügelt wurde. Aber ein Typ wie er, über eins neunzig groß und durchtrainiert, kam hier draußen ganz gut zurecht. Und es gab in der Siedlung auch nette und normale Leute. Seinen Nachbarn Toby Miller zum Beispiel, der mit allerlei Zeugs dealte, damit er und seine Familie über die Runden kamen. Auch Toby träumte davon, hier eines Tages abzuhauen, nach Williamsburg. {18}Dort würde er ein Lokal aufmachen, eine Frau finden und ein neues Leben anfangen. Der Punkt war nur, dass jeder hier draußen irgendwann dieses bestimmte Gefühl bekam. Manche mit zwölf, andere mit sechzehn, einige hatten es auch schon von Geburt an. Dieses Gefühl, dass man niemals von hier wegkommen würde.
Als Francis an diesem Tag die Fliegengittertür zum Trailer aufstieß, war er glücklich wie lange nicht. Anne-May Gardener. Unter anderen Umständen hätte sich der Kontakt zwischen ihr und ihm nur auf das Nötigste beschränkt. Sie wäre ein Model gewesen und er eben er, ein potentieller Mitarbeiter bei Wendy’s in der Spätschicht. Sie wäre zu ihm an die Kasse gekommen und hätte sich einen Salat und einen Cheeseburger bestellt.
Anne-May: »Einen Salat und einen Cheeseburger, bitte!«
Francis: »Hier, macht 2,90. Willst du lieber das Maxi-Sparmenü mit Fritten für 3,80?«
Anne-May: »Nein, danke.«
Das wär’s gewesen, mehr hätte er mit ihr nicht zu reden gehabt. Aber jetzt lag sie in der Klinik, nur ein paar Zimmer von seiner Mom entfernt, und war offenbar verrückt. Wenn er Glück hatte, kam sie da so schnell nicht raus, und er hatte genügend Zeit, mit ihr ins Gespräch zu kommen. Morgen, gleich nach der Schule, würde er seine Mutter besuchen und auch bei Anne-May vorbeischauen, um sich fürs Spannen zu entschuldigen, und dann würde er ihr erzählen, dass seine Mom ebenfalls da sei und dass er deshalb ganz {19}durcheinander wäre, und dann hätte Anne-May vielleicht Mitleid und würde sich mit ihm unterhalten. Okay, die Mitleidstour war ziemlich billig, aber who cares, Hauptsache, man kam ins Spiel.
Francis ging in sein Zimmer, eine kleine Kammer mit ein paar Postern und einem alten PC. Das Telefon klingelte. Er ließ es einfach läuten, die meisten Anrufe verhießen eh nichts Gutes. Es hätte die Klinik sein können oder die Schule oder, noch schlimmer, einer der Exfreunde seiner Mom. Nach der Scheidung hatte sie sich immer an reiche Typen gehängt, ihm von ihnen vorgeschwärmt und von einer besseren Zukunft geträumt, bis sie dann doch regelmäßig verlassen worden war. Inzwischen waren ihre Freunde nur noch Loser, von denen einige bei einer Polizeikontrolle wohl eher schlechte Karten gehabt hätten.
Einer, er hieß Derek Blake, war nach der Trennung mal besoffen vorbeigekommen und handgreiflich gegen seine Mom geworden. Zufällig war Francis auch da gewesen und hatte sie verteidigt. Derek war wutentbrannt auf ihn losgegangen, aber Francis war ein geübter Ringer und hatte ihn schnell auf den Boden gedrückt, dann hatte er ihm noch ein paarmal in die Rippen getreten, ihn am Hemd gepackt und aus dem Trailer geworfen.
Das Telefon läutete nun schon über eine Minute. Genervt hob er ab.
»Hi Frankie, hier ist Nicky.«
Jetzt war er doch froh, dass er drangegangen war. »Hey! Was gibt’s?«
»Die Klinik hat Dad angerufen. Er sagt, Mom ist wieder krank.«
{20}Nicky schniefte ein bisschen. Francis versuchte ihn durchs Telefon zu trösten. Er hatte nur noch selten Kontakt zu seinem kleinen Bruder, vor einigen Wochen, an Nickys dreizehntem Geburtstag, hatten sie sich das letzte Mal gesehen.
Francis gab seinem Stiefvater die Schuld; Ryan Wilco. Als er drei Jahre alt gewesen war, hatte seine Mutter in einem Café einen jungen Anwalt aus Newark kennengelernt. Bald darauf hatten sie geheiratet, und seine Mom war noch mal schwanger geworden, mit Nicky. Eine Zeitlang schien alles perfekt zu laufen. In Francis’ Kindheit gab es eine Menge Wochenendausflüge und gemeinsame Abendessen, und ein riesiges Kinderzimmer, in dem er im Stockbett oben schlief und Nicky unten. Damals hatten sie in Jersey City gelebt. Aber vor viereinhalb Jahren hatten sich seine Mutter und Ryan scheiden lassen. Streit, Unterhaltsklagen, das ganze Programm. Nicky war erst mal mit seinem Vater nach New York gezogen, seine Mom und er dagegen in Claymont gelandet. In einer laut Prospekt »unterschätzten und aufstrebenden Stadt im Herzen New Jerseys« oder anders gesagt: am Arsch der Welt. Seine Mutter hatte sich hier etwas »Neues« aufbauen wollen. »Wir zwei schaffen das«, hatte sie zu ihm gesagt, ihr Mantra. Ein halbes Jahr später war sie zum ersten Mal in der Klinik gelandet.
»Dad meint, du kannst zu uns kommen, wenn du willst«, sagte Nicky.
Francis steckte sich eine Zigarette an und nahm einen tiefen Zug. Er schüttelte den Kopf. Zwar vermisste er Ryan und hätte nichts lieber getan, als bei ihm zu wohnen. Aber das war vorbei. All die Jahre war Ryan wie ein Vater für {21}ihn gewesen, doch nach der Scheidung hatte er sich einfach abgewandt.
»Schon okay. Ich bleib hier.«
»Schade. Wir hätten Basketball spielen können. Ich kann jetzt den Korbleger. LetzteWochehabichJamiebesiegt:zehnzudrei.« Vor Aufregung redete Nicky zu schnell.
»Jamie Roscoe von nebenan? Aber der hat dich doch immer abgezogen.«
»Ja, früher!«
Bei der Vorstellung, wie sein Bruder jetzt den Hörer in der Hand hielt und strahlte, lächelte Francis. Schließlich war Nicky so klein, dass sich langsam alle Sorgen machten. Sein Bruder tat zwar so, als sei’s ihm egal, aber Francis wusste, dass es ihn störte. »Okay, abgemacht.« Er drückte die Kippe aus. »Ich schau bald mal wieder bei euch vorbei, und dann spielen wir eine Runde. Mich machst du bestimmt auch fertig. Du wirst langsam echt zu gut.«
Nicky gluckste am Telefon.
Nachdem Francis aufgelegt hatte, räumte er auf. Die Sachen, die seine Mutter nach ihm geworfen hatte, die schmale Küche, die verdreckte Toilette. Er reparierte auch noch den Wasserhahn. Fühlte sich gut an, etwas, was kaputtgegangen war, wieder hinzukriegen. Seine Katze kam in die Küche; sein Stiefvater hatte sie ihm damals aus dem Tierheim mitgebracht, als seine Mom das erste Mal krank geworden war. Sie strich ihm um die Beine und miaute, Francis antwortete ihr miauend. Eine Weile redeten sie auf diese Weise miteinander, er hätte gern gewusst, über was. Francis streichelte ihren Kopf und schüttete eine Portion Trockenfutter in die Schüssel. Während sie fraß, holte er seine Lose aus der Tasche {22}und rubbelte die verdeckten Stellen frei. Der spannendste Moment des Tages: Für ein paar Sekunden konnte er hoffen, eine Million zu gewinnen und hier rauszukommen. Aber es waren nur Nieten dabei.
Am Nachmittag steckte Grover seinen Kopf ins Zimmer. »Hier bist du!«, sagte er und ließ sich auf die Matratze fallen. Grover Chedwick war sein alter Nachbar und inzwischen bester Freund, allerdings schien er kein Klischee eines Nerds auslassen zu wollen. Seine dunklen Haare waren zu kurz geschnitten, er war groß, bleich und dünn, hatte eine Hornbrille und sah ständig nach unten, so dass ihn schon Dreizehnjährige verarschten. Aus unerfindlichen Gründen lief Grover auch im Sommer in schwarzen Stiefeln herum, dazu trug er noch immer diese T-Shirts, auf denen vorne pseudolustige Sprüche standen, etwa »FBI – Female Body Inspector«. Sein heutiges war grellrot und hatte den Slogan »SAVE FERRIS«.
»Hier.« Er hielt Francis einen Stoß Papier hin. »Hab dir deine Hausaufgaben mitgebracht, falls du sie machen willst.«
»Danke, schon okay.«
»War auch mehr eine rhetorische Frage.«
Grover sprach oft langsam, als würde seine Stimme mit reduzierter Geschwindigkeit von einem Tonband abgespielt, seine Gedanken liefen jedoch auf der Vorspultaste: Er war ein Informatikgenie mit ausgezeichneten Noten und einem überragenden IQ. Zwei...
Erscheint lt. Verlag | 26.9.2018 |
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Verlagsort | Zürich |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Abenteuer • Alleinerziehende • Belletristik • Experiment • Gegenwartsliteratur • Genexperiment • Genie • Harvard • Las Vegas • Liebe • Liebesgeschichte • Loser • Mädchen • Naher Osten • New Jersey • Reise • Roadmovie • Roadnovel • Roman • Showdown • Spielcasino • Suche • Trailerpark • USA • Vater • Vatersuche • Versager • Westküste • Wissenschaftler • Zeugung |
ISBN-10 | 3-257-60929-9 / 3257609299 |
ISBN-13 | 978-3-257-60929-5 / 9783257609295 |
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