Archipel (eBook)
432 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-00128-2 (ISBN)
Inger-Maria Mahlke wuchs in Lübeck und auf Teneriffa auf, studierte Rechtswissenschaften an der FU Berlin und arbeitete dort am Lehrstuhl für Kriminologie. 2009 gewann sie den Berliner Open Mike. Ihr Debütroman Silberfischchen wurde ein Jahr später mit dem Klaus-Michael-Kühne-Preis ausgezeichnet. Für einen Auszug aus ihrem Roman Rechnung offen bekam sie beim Wettbewerb um den Ingeborg-Bachmann-Preis den Ernst-Willner-Preis zugesprochen; 2014 erhielt sie den Karl-Arnold-Preis der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste. Ihr Roman Wie Ihr wollt gelangte unter anderem auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises, den sie 2018 für den Roman Archipel dann erhielt.
Inger-Maria Mahlke wuchs in Lübeck und auf Teneriffa auf, studierte Rechtswissenschaften an der FU Berlin und arbeitete dort am Lehrstuhl für Kriminologie. 2009 gewann sie den Berliner Open Mike. Ihr Debütroman Silberfischchen wurde ein Jahr später mit dem Klaus-Michael-Kühne-Preis ausgezeichnet. Für einen Auszug aus ihrem Roman Rechnung offen bekam sie beim Wettbewerb um den Ingeborg-Bachmann-Preis den Ernst-Willner-Preis zugesprochen; 2014 erhielt sie den Karl-Arnold-Preis der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste. Ihr Roman Wie Ihr wollt gelangte unter anderem auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises, den sie 2018 für den Roman Archipel dann erhielt.
Julio, el Portero
Julio Baute schaltet erst den Fernseher, dann den Ventilator ein, lehnt seinen Stock an das Regal, das die gesamte Rückwand der Pförtnerloge einnimmt, rückt den Stuhl so, dass er, ohne den Kopf zu wenden und im Luftzug des Ventilators einen steifen Nacken zu bekommen, Tour de France schauen kann. Er hängt seine Mütze an die Stuhllehne und setzt sich, ehe er auf dem Monitor nachsieht, ob sie draußen wieder mit verschränkten Armen und ungeduldigen Uhrblicken auf Einlass warten. Es ist Mittagsruhe, die Zeiten stehen auf dem Schild neben der Klingel.
Eine Flachetappe, knapp zweieinhalb Minuten haben die Ausreißer noch, zwei Franzosen, ein Niederländer, und der vierte ist auch kein Spanier. Das Peloton kommt näher, 47 Kilometer vor dem Ziel, sie werden sie kriegen, es wird eine Sprintankunft werden. Julio Baute schaltet den Ton stumm. Morgen beginnen endlich die Bergetappen, er bevorzugt sowieso die Vuelta.
Draußen stehen zwei Frauen, eine Küchenhilfe, die jetzt viel zu spät zur Nachmittagsschicht kommt, und eine der Angehörigen. Julio Baute betätigt den Summer, später, am Abend, erwarten sie einen neuen Bewohner. Bewohner, männlich, ist Julio Baute sich sicher, ein Irrtum, wie er am nächsten Morgen feststellen wird. Für Frauen gibt es eigentlich keine freien Plätze im Asilo. Sie leben länger und leisten weniger Widerstand.
Sor Mari Carmen hat am Morgen den Besuchsraum aufgeschlossen, eine der Freiwilligen die alten Strelitzien herausgetragen, sie sind in der Wärme und Dunkelheit auf dem schmalen Couchtisch verblüht. Das Wasser ist dumpf orange, die am Glas klebenden Stiele sehen schleimig aus. Der Geruch hängt noch immer im Gang, als die Eingangstür aufschwingt, drückt der Luftzug ihn in die Pförtnerloge. Julio Baute hört die Eintretenden in seinem Rücken «danke» sagen, dreht sich nicht um. Noch zwei Minuten, sieben Sekunden haben die drei Ausreißer, 39 Kilometer bis zum Ziel.
Neben ihm auf dem Tisch steht die weiße Telefonanlage, rechteckig und fast vierzig Zentimeter lang. Links der Hörer, oben zwei Tasten, von denen er nur eine benutzt, braun gerieben von seinem Finger: der Anrufbeantworter. Er drückt sie hinab, keine neuen Nachrichten. Darunter fünf Reihen längliche Lichtdioden, neben jeder ein Pappschild unter durchsichtigem Plastik, die meisten sind nicht beschriftet, und bei denjenigen, die es sind, stimmt nicht einmal die Hälfte der Anschlüsse.
Julio, el Portero, ist die Zentrale. Der Knotenpunkt. Die Schleuse zur Welt. Ohne ihn kommt man weder ins Asilo rein noch raus, bei ihm landen die Anrufer, die keine Durchwahl haben oder niemanden erreichen.
Eine Minute vierzig, neununddreißig, einer der Ausreißer versucht wegzuspringen, der Niederländer, die anderen holen ihn sofort wieder ein.
Neben dem Telefon steht das Mikrophon für die Durchsagen. Julio, el Portero, wiederholt jede Ansage zwei Mal. «Sor Cipriana, bitte begeben Sie sich in den Speisesaal der Damen. Sor Cipriana, bitte begeben Sie sich in den Speisesaal der Damen.» Langsam und verständlich, die Besucher machen sich darüber lustig. «Wie am Flughafen», hört er sie im Vorbeigehen sagen. Er ist 95 Jahre alt, seine Ohren sind noch gut. Sein Knie nicht, aber das ist eine andere Geschichte.
Julio Baute betrachtet die kleiner werdenden Zahlen am rechten Bildrand, eine Minute zwanzig Sekunden, noch 32 Kilometer, hört die Servierwagen im Flur, die in die Fernsehsäle gerollt werden. Im Monitor niemand, im Sommer ist es ruhig.
Am meisten Arbeit hat er von Mitte Dezember über Weihnachten und Silvester bis zu den Heiligen Drei Königen im Januar. Jeden Abend klingeln Musikgruppen, packen auf den Stufen vor der Eingangstür ihre Instrumente aus, verstauen die Hüllen in der Loge, um wohltätig ein, zwei, drei Lieder für die Bewohner herunterzuschrubben. Nachmittags kommen Familien mit Kindern und wollen die Krippe anschauen, die in dem Raum neben der Physiotherapie aufgebaut ist. Lieferanten bringen Spenden der hiesigen Geschäfte, für die Hochsaison brauchen sie Platz im Lager. Julio Baute hat es früher ebenso gehalten, einige der Lockenstäbe in dem seit der Krise ungenutzten Frisiersalon im Damentrakt stammen noch von Marrero Electrodomésticos.
Bäckereien schicken Kekse, die landwirtschaftlichen Kooperativen säckeweise Kartoffeln, Zwiebeln, Gofio, Kisten mit Tomaten, Avocados, Papayas. Tüten voller unsortierter Sachspenden von wohltätigen Organisationen, die örtlichen Unternehmen senden Proben ihrer Produkte, hundert Flaschen Körperlotion, zweitausend Packungen Turrón, drei Kartons mit rosafarbenen Plüscheinhörnern. Und alles muss durch seine Tür, stapelt sich neben der Rampe, auf den Stufen, bis jemand aus der Küche oder eine der Nonnen mit einigen Freiwilligen alles hereinträgt. Zu den Heiligen Drei Königen mehr Angehörige als sonst, mit schlechtem Gewissen behangen, Kindheitserinnerungen in den Tüten und Beuteln. Neue Freiwillige gibt es dann reichlich, Silvester, neu beginnen, sich eine sinnvolle Aufgabe suchen.
Ana ist seit über einer Woche nicht da gewesen, fällt Julio Baute auf. Vorgestern hat ein Mädchen vor der Tür gestanden, das Rosa ähnelte, aber sicher ist er nicht. Er hat sie nur kurz im Monitor gesehen, und der verzerrt.
«Kaffee?», fragt eine der Pflegerinnen, Carmen, an der Tür. Julio, el Portero, nickt. Sie füllt einen hellroten Plastikbecher zur Hälfte mit hellbrauner Flüssigkeit, stellt ihn auf den Tisch und legt zwei Papierstäbchen mit Zucker daneben.
«Wer gewinnt?» Carmen deutet auf den Fernseher. Die Kameras zeigen die Ausreißer, 42 Sekunden haben sie noch.
«Keiner von denen», antwortet Julio. Sie lacht.
Als es klingelt, sieht er kurz auf den Monitor und drückt gleichzeitig den Öffner, eine der Freiwilligen. Eigentlich soll er jedem und allem öffnen, es gibt keine weiteren Anweisungen. Eigentlich sitzt er nur da, damit niemand herauskommt. Mit dem Kaffee werden alle auf einmal wach, richten sich in den Sesseln auf, unterhalten sich mit ihren Sitznachbarn. Der Stimmenteppich schiebt sich durch die Flure, bis hinein in seine Loge. Sobald sie ausgetrunken haben, die Plastikbecher sich wieder zu bunten Türmen gestapelt auf den Servierwagen sammeln, tauchen die ersten Bewohner an den Fenstern zum Patio auf, der der Eingangstür gegenüberliegt. Halten so viel Abstand zur Portiersloge wie möglich und lauern. Darauf, dass Julio, el Portero, nicht aufpasst und sie rausschlüpfen können. Er weiß, wer alleine spazieren gehen darf und wer nicht, auch das ist seine Aufgabe: die Übersicht behalten.
Die Frau im Monitor drückt die Tür auf, sie lacht. Zwei der Damen, Demetria mit ihrem Gehstock und Trini mit dem Papagei, lehnen bereits am Patiofenster. «Hola chicas», hört Julio Baute die Freiwillige sagen, und wie hübsch sie doch beide heute aussehen. Die Damen kichern, aber Julio ist sich sicher, sie haben nur den kleiner werdenden Spalt der zufallenden Tür im Auge. Augusto ist spät dran, er lauert am ausdauerndsten von allen. Demenz, seit dem Schlaganfall brummt er nur noch.
Das Peloton hat die Ausreißer noch immer nicht erreicht, ist wieder langsamer geworden. Julio Baute will den Ton lauter stellen, erwischt den falschen Knopf, das Bild verschwindet, Menü steht auf dem Schirm. Er drückt Exit. Menü ist einfach. Aber es gibt Tasten auf der neuen Fernbedienung, die ihn auf unendliche Reisen durch Anzeigen schicken, und wenn er es endlich zum Fernsehbild zurückgeschafft hat, ist die Sendung, die er sehen wollte, meist vorbei.
Den alten Fernseher hat Julio Baute noch von zu Hause mitgebracht, Blaupunkt, Röhre. Ihn sechsmal repariert, bis weiße Querstreifen am unteren Bildrand flimmerten, dort auf und ab wanderten. Der Bildabnahmekopf, er hat kein Ersatzteil mehr bekommen.
Der neue ist flach, schmaler als seine Hand breit. Die Loge ist auf einmal doppelt so groß, hat Schwester Juana am Morgen der Heiligen Drei Könige gescherzt, als der neue Fernseher auf einem Tischchen unter dem Fenster stand. Gespendet von einer Elektrokette, deren Namen Julio Baute noch nie gehört hatte. Die Nonnen bildeten einen aufgeregten Halbkreis um ihn herum, jede Regung in seinem Gesicht beobachtend. Natürlich hat er sich gefreut, so gut er konnte, nicht überschwänglich genug, dessen war er sich die ganze Zeit bewusst, aber als er am Ende jeder einzelnen beide Hände drückte und vor Rührung über ihre Freude Tränen in die Augen bekam, waren alle zufrieden.
Julio Baute hat versucht, ihn zu öffnen, den neuen, trotz des Aufklebers über dem Rand der Verschalung, auf dem steht, dass die Garantie verfällt, wenn er beschädigt wird. Die Schrauben sind sehr klein, 5 zu 60 Millimeter, Kreuz, sie sitzen fest. Ihm ist der Schraubenzieher abgerutscht, mehrfach, hat anthrazitfarbenen Kunststoff zu winzigen Spänen zusammengeschoben, Kratzer hinterlassen. Irgendwann hat Julio aufgegeben. Seitdem wartet hinter dem Fernsehbild eine Frage auf ihn: ob er noch in der Lage wäre, ob er wissen würde, welches Bauteil welche Funktion erfüllt, sie erkennen, verstehen würde. Ob sich Kabel und Spulen in seinem Kopf nach wie vor von allein zu einem Schaltplan zusammensetzen.
Den Laden hat er verkauft, ehe die Maschinen anfingen, seltsam zu werden, bevor sich die Computer in sie hineinfraßen. Eine Zeitlang hat die Mutter Oberin davon gesprochen, die Telefonanlage auszutauschen. Seit der Krise ist keine Rede mehr davon. Zu seiner Erleichterung, nachts vor dem Schlafen hatte er versucht, sich vorzustellen, wie es wäre, mit den anderen Männern im Fernsehsaal zu sitzen, ab und an eine rauchen zu gehen, dreimal am Tag Essen, nachmittags Kaffee, mit...
Erscheint lt. Verlag | 21.8.2018 |
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Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 1900 bis Gegenwart • Bernadotte • Deutscher Buchpreis • Ehe • Europa • Familie • Faschismus • franko • Frauen • Geschichte 20. Jahrhundert • Kanarische Inseln • Kolonialismus • Königshaus • La Laguna • Shortlist • Spanischer Bürgerkrieg • Teneriffa • Tinerfeno • Zeitgeschichte |
ISBN-10 | 3-644-00128-6 / 3644001286 |
ISBN-13 | 978-3-644-00128-2 / 9783644001282 |
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