Nicht aus der Schweiz? Besuchen Sie lehmanns.de

Wandernde Himmel (eBook)

(Autor)

eBook Download: EPUB
2018 | 1. Auflage
752 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-40350-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Wandernde Himmel -  Hao Jingfang
Systemvoraussetzungen
9,99 inkl. MwSt
(CHF 9,75)
Der eBook-Verkauf erfolgt durch die Lehmanns Media GmbH (Berlin) zum Preis in Euro inkl. MwSt.
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
Zwei Gesellschaften und eine große Frage: Wie wollen wir leben? 2096: Die Erde hat eine Kolonie auf dem Mars gegründet, um neuen Lebensraum zu erschließen. Doch die will unabhängig sein: Während die Mars-Bewohner den Raubtierkapitalismus der Erde verdammen, halten die Erdenmenschen den Roten Planeten für ein System unkontrollierter Alleinherrschaft. Zur Verständigung zwischen den Völkern sendet der Mars hundert Jahre später einige Jugendliche auf die Erde - darunter auch die kürzlich verwaiste Luoying, eine Enkelin des Mars-Machthabers. Ihr Bruder bleibt zurück. Fünf lange Jahre dauert es, bis die nun erwachsene Frau den loyalen und erfolgreichen Rudy in der roten Heimat wiedersieht. Die Weltenwanderin Luoying muss sich entscheiden: für oder gegen das starre System - mit möglicherweise tödlichen Konsequenzen nicht nur für sie selbst. Zwei Welten und ein großer Roman: die preisgekrönte Autorin aus China

Hao Jingfang, geboren 1984, gewann bereits 2002 ihren ersten Literaturpreis. Doch den Studienplatz, den ihr die Chinesisch-Fakultät der Peking-Universität reservierte, lehnte sie ab. Stattdessen studierte sie Physik und machte ihren Ph.D. in Wirtschaftswissenschaften. Seit 2006 publiziert sie regelmäßig in chinesischen Zeitschriften und arbeitet inzwischen beim Thinktank China Development Research Foundation. Ihre unterschiedlichen Wissensbereiche kommen in ihrem Schreiben aufs Fruchtbarste zusammen: Für ihre Erzählung «Peking falten» erhielt sie 2016 den Hugo Award, einen der wichtigsten Preise für Science-Fiction-Literatur - nach «Die drei Sonnen» von Bestsellerautor Cixin Liu erst der zweite Text aus China, dem das gelang. Hao Jingfangs Bücher verkauften sich in China über eine Million Mal.

Hao Jingfang, geboren 1984, gewann bereits 2002 ihren ersten Literaturpreis. Doch den Studienplatz, den ihr die Chinesisch-Fakultät der Peking-Universität reservierte, lehnte sie ab. Stattdessen studierte sie Physik und machte ihren Ph.D. in Wirtschaftswissenschaften. Seit 2006 publiziert sie regelmäßig in chinesischen Zeitschriften und arbeitet inzwischen beim Thinktank China Development Research Foundation. Ihre unterschiedlichen Wissensbereiche kommen in ihrem Schreiben aufs Fruchtbarste zusammen: Für ihre Erzählung «Peking falten» erhielt sie 2016 den Hugo Award, einen der wichtigsten Preise für Science-Fiction-Literatur – nach «Die drei Sonnen» von Bestsellerautor Cixin Liu erst der zweite Text aus China, dem das gelang. Hao Jingfangs Bücher verkauften sich in China über eine Million Mal.

Das Hotel


Igor stand am Fenster und starrte lange hinaus. Beim Anblick des Mars kam ihm der Klang einer Flöte in den Sinn.

Das Hotelzimmer war sehr hell. Die Glaswände reichten von der Decke bis zum Boden und boten freie Sicht bis zum Horizont. Still und urtümlich erstreckte sich die grenzenlose rote Wüste wie ein Gedicht ohne Anfang und Ende.

Ist das der Ort, an dem du begraben sein willst?, fragte sich Igor.

Er war noch nie auf dem Mars gewesen, und doch war ihm die Landschaft vertraut. Mit fünfzehn Jahren hatte er zum ersten Mal seinen Lehrer zu Hause besucht, und dort hatte er dieses immergleiche Rot als Projektion an der Wand gesehen. Ängstlich und scheu hatte er an der Tür gestanden, den Blick auf die Gerölllandschaft gerichtet. Er hatte sich nicht getraut, das Zimmer zu betreten. Sein Lehrer saß mit dem Rücken zu ihm in einem Samtsessel mit einer hohen Lehne, das Gesicht zur Wand gedreht. Hinter der Lehne lugte sein blondes Haar hervor, glänzend im Licht der Abendsonne. Eine Melodie erklang, jemand spielte Flöte. Die Akustik war so gut, dass der Klang von allen Seiten zu kommen schien. Die gleichförmige Wüstenlandschaft wirkte auf den ersten Blick wie erstarrt, aber als Igor genau hinsah, erkannte er, dass sie sich ungeheuer schnell bewegte, so als würde sie von einem tief über dem Boden gleitenden Raumschiff gefilmt. Das Raumschiff fuhr langsam, aber unter ihm schoss das Geröll vorbei. In der Ferne bildete der schwarze Sternenhimmel die Kulisse.

Er war an der Tür stehen geblieben und hatte gebannt die Projektion verfolgt, bis der Bildausschnitt ohne jede Vorwarnung in einen tiefen Graben hinabtauchte. Vor Schreck hatte Igor leise aufgeschrien und sich dabei den Kopf an der Türschnitzerei gestoßen. Hastig suchte er Halt, und als er wieder aufsah, hatte ihn sein Lehrer schon an der Schulter gepackt. «Igor, du bist es! Komm rein und setz dich.» Die rote Wüstenprojektion an der Wand war verschwunden. Stattdessen zeichnete sich dort nur noch vage das weiße Streifenmuster der Tapete ab. Die Flötenmelodie kreiste einsam im Raum. Eine jähe Enttäuschung machte sich in ihm breit.

Igor erzählte niemandem von diesem Erlebnis. Selbst mit seinem Lehrer sprach er in den zehn Jahren ihrer Bekanntschaft nur selten darüber. Aber sie hatten ein Geheimnis: Sie lebten in zwei Welten, auch wenn sein Lehrer den Mars nur selten erwähnte. Er lehrte ihn die Kunst des Filmens, aber er zeigte ihm nie wieder ein Video des fremden Planeten.

Nun, nach zehn Jahren, hatte Igor endlich wirklichen Marsboden betreten. Und in diesem Moment hatte die Flöte wie von selbst in seinem Kopf zu spielen begonnen. Er blieb noch lange am Fenster stehen und starrte hinaus.

 

Nachdem Igor ein heißes Bad genommen hatte, ließ er sich in einen Sessel fallen und streckte die Beine aus. Das Hotel war so gemütlich, dass man sich rasch entspannte.

Igor war gern allein. Für gewöhnlich kam er mit aller Welt gut aus, er erfüllte seine gesellschaftlichen Verpflichtungen bei Filmveranstaltungen souverän, und wenn er seine Filme drehte, arbeitete er mit den unterschiedlichsten Leuten zusammen. Aber am liebsten war er doch allein. In Gesellschaft anderer ging sein Atem flach, und er war ständig auf der Hut. Erst wenn er wieder allein war, atmete er aus dem Bauch heraus. Alle Anspannung fiel dann von ihm ab, und er spürte wieder sich selbst.

Er ließ sich tief in den Sessel sinken und blickte zur Decke hinauf. Ihn interessierte alles hier, er brannte vor Neugier auf den Mars. Vor seiner Ankunft hatte er sich alles Mögliche vorgestellt, und vielleicht war der Mars in seiner Phantasie sogar spannender als der reale Mars – Igor hätte es nicht sagen können. Aber eines wurde ihm jetzt klar: Die Wirklichkeit war vollkommen anders. Seit er fünfzehn war, hatte er sich ausgemalt, was für ein Ort der Mars wohl sein mochte, dass sein Lehrer acht Jahre lang dort gelebt hatte und nicht ein einziges Mal zurück zur Erde gekommen war.

Für seinen Lehrer war der Mars das letzte Utopia der Menschheit gewesen, ein Reich von erhabener Weisheit jenseits der gewöhnlichen Welt. Ihm war durchaus bewusst gewesen, dass die meisten Menschen auf der Erde ein ziemlich anderes Bild vom Mars hatten, aber das hatte ihn nicht weiter bekümmert.

Igor schaute sich im Hotelzimmer um. Es ähnelte den Kabinen auf der Maerde: Schreibtisch, Kleiderschrank und Bettpfosten bestanden aus einem durchsichtigen Material und waren mal in dunkleren, mal in helleren Blautönen gehalten. Auch der Sessel war durchsichtig; er schien aus Glasfasern zu bestehen, die mit Luft gefüllt waren. Seine Enden schwangen in einem Bogen nach oben, und er passte sich Igors Körperform an. Die Außenwand des Hotels war ebenfalls durchsichtig, sodass Igor von seinem Sessel aus einen weiten Panoramablick genoss. Nur zum Gang hin waren die Wände aus einem undurchlässigen Milchweiß, um den Bewohner vor den Zimmernachbarn und den übrigen Gästen abzuschirmen. Der ganze Raum ähnelte einem Kristallkästchen. Selbst die Decke war halb durchsichtig: Sie sah aus wie himmelblaues Mattglas, und über ihr schimmerte verschwommen die Sonne. Es wirkte, als hinge dort eine weiße Lampe.

Igor saß in seinem Sessel und dachte darüber nach, was so viel Transparenz wohl bedeuten könnte. In gewisser Hinsicht war Transparenz ein heikler Begriff. Ein Haus sollte dem Einzelnen einen Rückzugsraum bieten, doch wenn die Wände durchsichtig waren, war das eher ein Hinweis auf Bespitzelung. Und wenn alle Häuser durchsichtig waren, wurde aus der Bespitzelung eine kollektive Observierung. Was das bedeutete, war ihm klar. In seinem Film könnte er es als Ausdruck einer politischen Ideologie nutzen, als Symbol für die Unterwerfung der Privatsphäre durch die Gemeinschaft.

Eine solche Sichtweise entsprach den klassischen Vorurteilen auf der Erde. Seinem Film wäre damit die Aufmerksamkeit des Publikums sicher. Die individualistischen Denker der Erde warteten bloß darauf, dass ein Augenzeuge, einer der wenigen, die wirklich in der «Hölle im Himmel» gewesen waren, ihnen bestätigte, was sie schon immer geahnt hatten. Igor würde ihnen ein nützliches Argument für ihre verbalen Attacken auf den Mars liefern. Aber das ging ihm gegen den Strich: So leichtfertig wollte er seine offene Einstellung nicht aufgeben. Er hatte sich seine Neugier bewahrt. Er konnte nicht glauben, dass sein Lehrer so lange – immerhin volle acht Jahre – an einem Ort geblieben wäre, der einen so massiven psychologischen Druck auf seine Bewohner ausübte.

Igor hatte niemandem erzählt, was er eigentlich auf dem Mars vorhatte. Vielleicht könnte es jemand erraten, sicher war er sich da nicht. Alle wussten, wessen Schüler er war, das war nie ein Geheimnis gewesen. Dass er für die Delegation ausgewählt worden war, lag nur vordergründig an dem Preis, den er im letzten Jahr gewonnen hatte. In Wahrheit – da gab er sich keinen Illusionen hin – profitierte er von Tynnes Empfehlung, und diese Empfehlung verdankte er zum Großteil seinem Lehrer. Er hatte den Auftrag, die Delegation als Dokumentarfilmer zu begleiten, angenommen, ohne nach irgendwelchen Hintergründen zu fragen. Auch Tynne hatte ihm nichts erklärt. Aber er wusste, dass eine tiefe Freundschaft seinen Lehrer und Tynne verbunden hatte. Auf der Beerdigung seines Lehrers hatte Igor den Glatzkopf von Tynne in der Menge gesehen – die ganze Zeit hatte er seine Augen hinter einer Sonnenbrille versteckt.

Vorsichtig zog Igor einen winzigen Chip aus seiner Tasche und musterte ihn. Angeblich waren die Erinnerungen seines Lehrers kurz vor seinem Tod darauf gespeichert – seine Gehirnwellen, umgewandelt in einen binären Code aus Nullen und Einsen. Igor glaubte nicht, dass so etwas funktionieren könnte, aber er wünschte es sich. Wenn die Erinnerungen eines Menschen so überleben könnten, dann verlor der Tod seinen Schrecken.

Weil er hungrig geworden war, stand er auf und suchte an der Wand den Monitor, mit dem man Essen bestellen konnte. Auf der Speisekarte entdeckte er einige seltsame Bezeichnungen. Ohne viel Nachdenken wählte er ein paar Gerichte. Schon nach sechs oder sieben Minuten traf das Essen ein: Ein Lämpchen an der Wand leuchtete auf, und aus einem schwarzen Glasschacht kam wie mit einem winzigen Lift ein Tablett hochgefahren. Als es stillstand, öffnete sich die Klappe.

Igor holte das Tablett heraus und musterte die Speisen eingehend. Dies war seine erste direkte Begegnung mit marsianischem Essen. Auf der Maerde hatte die Delegation von der Erde nur Nahrungsmittel gegessen, die das Schiff von ihrem Heimatplaneten mitführt hatte. Die ganze Reise über waren sie mit nichts Marsianischem in Berührung gekommen. Dafür hatte er alle möglichen Gerüchte gehört: Die Marsianer, so hieß es, würden Schlangen essen, die sie im Sandboden erbeuteten. Sie würden Plastikmüll oder Metallschrott zu Delikatessen verarbeiten, behaupteten andere. Es kursierten unzählige solcher Geschichten. Irgendwelche Leute fanden sich immer, die sich gern über Dinge ausließen, von denen sie keine Ahnung hatten. Die Erde war der kulturell überlegene Planet – das meinten solche Schwätzer eigentlich, wenn sie den Mars als primitiv darstellten.

Beim Anblick des Tabletts in seiner Hand überlegte Igor, ob er nicht einige Aufnahmen der marsianischen Gerichte machen sollte – stimmungsvolle Bilder, die mysteriös und stylish wirkten. Er könnte sie an Modemedien verkaufen und so vielleicht die Angst vor dem primitiven Mars in eine Sehnsucht nach einem fernen, exotischen Planeten verwandeln. Es wäre ein Kinderspiel, da war er sich sicher – die Medien machten so...

Erscheint lt. Verlag 25.9.2018
Übersetzer Marc Hermann
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Fantasy / Science Fiction Science Fiction
Literatur Historische Romane
Schlagworte Autokratie • China • Cixin Liu • Die drei Sonnen • Erde • Hugo Award • Mars • Marsianer • Raumschiff • Roter Planet • Science Fiction • Unabhängigkeit • Unabhängigkeitskrieg • vierter Planet
ISBN-10 3-644-40350-3 / 3644403503
ISBN-13 978-3-644-40350-5 / 9783644403505
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 1,3 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich

von Jo Koren

eBook Download (2024)
Lehmanns Media (Verlag)
CHF 9,75

von Jo Koren

eBook Download (2024)
Lehmanns Media (Verlag)
CHF 9,75