Butterfly (eBook)
368 Seiten
Verlagsgruppe Droemer Knaur
978-3-426-45206-6 (ISBN)
Yusra Mardini, geboren 1998, entdeckte schon als kleines Mädchen ihre Liebe fürs Schwimmen. Mit vierzehn stellte sie einen syrischen Landesrekord auf. Um ihren Traum von Olympia zu erfüllen, floh sie 2015 nach Deutschland. Hier trainierte sie in Berlin bei den Wasserfreunden Spandau 04. Zweimal trat sie bereits bei den Olympischen Spielen an: 2016 in Rio und 2021 in Tokio. Heute lebt und trainiert sie in Hamburg. Abseits des Beckens hält Mardini als UNHCR Goodwill Ambassador Vorträge und setzt sich für Flüchtlinge auf der ganzen Welt ein. Ihre Lebensgeschichte wird von Sally El Hosaini für Netflix verfilmt.
Yusra Mardini, geboren 1998, entdeckte schon als kleines Mädchen ihre Liebe fürs Schwimmen. Mit vierzehn stellte sie einen syrischen Landesrekord auf. Um ihren Traum von Olympia zu erfüllen, floh sie 2015 nach Deutschland. Hier trainierte sie in Berlin bei den Wasserfreunden Spandau 04. Zweimal trat sie bereits bei den Olympischen Spielen an: 2016 in Rio und 2021 in Tokio. Heute lebt und trainiert sie in Hamburg. Abseits des Beckens hält Mardini als UNHCR Goodwill Ambassador Vorträge und setzt sich für Flüchtlinge auf der ganzen Welt ein. Ihre Lebensgeschichte wird von Sally El Hosaini für Netflix verfilmt. Nach mehreren Jahren in Frankreich lebt und arbeitet Alexandra Baisch inzwischen in München. Sie übersetzt Romane und Sachbücher aus dem Französischen, Englischen und Spanischen und unterrichtet darüber hinaus im Masterstudiengang für literarisches Übersetzen.
Teil I
Der Funke
1
Ich schwimme, noch ehe ich laufen kann. Ezzat, mein Vater, ist Schwimmtrainer, er wirft mich einfach ins Wasser. Für Schwimmflügel bin ich noch zu klein, darum hebt er das Plastikgitter vom Überlauf am Ende des Schwimmbeckens hoch und lässt mich in das flache Wasser darunter plumpsen.
»Schau her, so musst du deine Beine bewegen«, sagt Papa und macht Paddelbewegungen mit den Händen. Ich schlage mit den Beinen, bis ich herausgefunden habe, wie es geht. Oft bin ich so erschöpft, dass ich im warmen, plätschernden Wasser einschlafe. Papa merkt es nie, er ist viel zu sehr damit beschäftigt, meiner älteren Schwester Sara Befehle zuzurufen. Keine von uns hat je den Wunsch geäußert, schwimmen zu lernen. Wir können uns beide nicht mehr erinnern, wann wir damit angefangen haben. Wir schwimmen einfach, das war schon immer so.
Ich bin ein niedliches kleines Mädchen mit heller Haut, großen braunen Augen, langen dunklen Haaren und einem kleinen, gut gebauten Körper. Da ich unter schrecklicher Schüchternheit leide, sage ich selten ein Wort. Glücklich bin ich nur, wenn ich bei meiner Mutter Mervat bin. Geht sie ins Bad, warte ich draußen, bis sie wieder herauskommt. Werde ich von anderen Erwachsenen angesprochen, sehe ich nur schweigend zu ihnen auf.
Fast jedes Wochenende besuchen wir meine Großeltern in der Stadt. Meine Großmutter Yusra, nach der ich benannt wurde, ist wie eine zweite Mutter für mich. Ich verstecke mich hinter den langen Falten ihrer abaya, einem bodenlangen, tailliert geschnittenen Mantel, wenn mein Großvater Abu-Bassam versucht, mir mit Süßigkeiten ein Lächeln zu entlocken. Aber ich lasse mich nicht austricksen, daher neckt er mich und nennt mich »Angsthase«.
Sara ist drei Jahre älter als ich und das absolute Gegenteil von mir. Niemandem gelingt es, sie zum Schweigen zu bringen. Ständig redet sie mit den Erwachsenen, selbst mit fremden Leuten beim Einkaufen, und plappert dabei in einer erfundenen Sprache. Hat Großmutter zum Tee eingeladen, steigt sie aufs Sofa und sagt Unsinniges, wedelt mit den Armen, als würde sie eine Rede halten. Auf Mamas Nachfrage behauptet sie, das sei Englisch.
Wir sind eine große Familie. Mama und Papa haben zusammen elf Geschwister. Ständig sind Cousinen und Cousins zu Besuch. Wir wohnen in Set Zaynab, einer Stadt südlich von Damaskus, der Hauptstadt von Syrien. Papas älterer Bruder Ghassan lebt im Haus gegenüber, seine Kinder kommen jeden Tag zum Spielen zu uns.
Die gesamte Familie schwimmt leidenschaftlich gern, und Papa erwartet das auch von uns. Alle seine Geschwister sind als Kinder zum Schwimmtraining gegangen. Als Teenager war Papa in der syrischen Schwimm-Nationalmannschaft, konnte aber nicht weitermachen, weil er zum Militärdienst musste. Nachdem Sara auf der Welt war, kehrte er als Trainer in die Schwimmhalle zurück. Von seinen eigenen Fähigkeiten war Papa vollkommen überzeugt. Eines Tages – ich war noch nicht auf der Welt – warf er die kleine Sara ins Schwimmbecken, um zu beweisen, was für ein guter Trainer er war. Entsetzt sah Mama zu, als er sie wieder herauszog.
In dem Winter, als ich vier Jahre alt bin, tritt Papa eine Stelle im Tishreen Sports Complex in Damaskus an, wo auch das Syrische Nationale Olympische Komitee ansässig ist. Mich und Sara meldet er dort zum Schwimmtraining an. Ein anderer Trainer kümmert sich um mich, während Papa sich ganz auf die siebenjährige Sara konzentriert. Dreimal die Woche trainiere ich in dem Furcht einflößenden olympischen Becken. Das Licht fällt vor allem durch lange, niedrige Fenster herein, die sich auf drei Seiten des Gebäudes befinden. Gegen das gleißende Sonnenlicht sind über den Scheiben feste Metalljalousien angebracht. An einer, gleich neben der Anzeigentafel, hängt ein großes Porträt des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad.
Das Wasser im Schwimmbecken ist immer eiskalt. Aber ich finde bald heraus, dass es seine Vorteile hat, klein, schüchtern und niedlich zu sein. Es dauert nicht lang, und mein neuer Trainer ist von mir bezaubert. Ich kann ihn um den kleinen Finger wickeln.
»Mir ist so kalt«, sage ich leise und sehe meinen Trainer mit großen, unschuldigen Augen an.
»Was ist, Kleines?«, fragt der Trainer. »Dir ist kalt? Dann nimm doch dein Handtuch und setze dich draußen ein bisschen in die Sonne. Wie bitte, habibti, meine Süße? Hunger hast du auch? Komm mit, wir besorgen dir ein Stück Kuchen.«
Die nächsten vier Monate sind herrlich, ich werde verwöhnt und muss nur selten ins Becken. Aber Papa entkomme ich nicht. Eines Tages laufe ich ihm nach dem Training über den Weg. Das Schwimmbecken ist leer, Papa bereitet sich auf die nächste Trainingsgruppe vor. Wie immer ist Mama erschienen, um uns abzuholen, schweigend wartet sie auf einem Stuhl am Beckenrand. Papa erspäht mich, ehe ich bei ihr bin.
»Yusra«, ruft er, »komm her.«
Ich ziehe mir das Handtuch fester um die Schultern und eile zu ihm. Sobald ich nahe genug bin, dass er mich packen kann, reißt er mir das Handtuch weg, hebt mich hoch und schleudert mich ins Wasser. Mühsam kämpfe ich mich zur Oberfläche hoch und schnappe nach Luft. Mit Armen und Beinen schlage ich panisch um mich. Vier Monate lang nur in der Sonne zu liegen und Kuchen zu essen haben Wirkung gezeigt; Papa sieht auf den ersten Blick, dass ich das Schwimmen verlernt habe. Seine lauten Flüche tönen durch die Schwimmhalle und dröhnen mir in den Ohren. Ich quäle mich an den Beckenrand und halte mich fest, wage nicht, aufzublicken.
»Was ist los mit dir?«, schreit er mich an. »Was, verdammt noch mal?«
Ich klettere aus dem Becken, stehe auf. Dann zwinge ich mich, ihn anzusehen. Das ist ein Fehler. Ein paar Schritte und er steht mit rotem Gesicht vor mir. Ich starre auf den Kachelboden und erwarte meine Strafe.
Er beugt sich zu mir herab.
»Was hast du gemacht?«, schimpft er. »Was hat er mit dir gemacht?«
Papa versetzt mir so einen festen Stoß gegen die Schultern, dass ich rückwärts ins Becken stürze. Ich schlage mit dem Rücken auf dem Wasser auf; als ich wieder auftauche, ist meine Nase voller Chlorwasser, die Augen habe ich erschrocken aufgerissen. Ich spucke und zappele herum wie ein Fisch an der Angel. Platschend und rudernd schaffe ich es zurück an den Rand, halte mich fest und starre auf das tanzende Wasser.
»Raus!«, ruft er. »Komm sofort raus!«
Ich hieve mich aus dem Schwimmbecken und tippele ein kleines Stück fort von ihm. Dann sehe ich Papa misstrauisch an. Seine Miene lässt mich vermuten, dass er vorhat, den ganzen Tag so weiterzumachen. Ein drittes Mal, ein viertes Mal, zwanzigmal, so lange, bis ich wieder schwimmen kann. Er kommt wieder auf mich zu, und ich werfe meiner Mutter einen flehenden Blick zu. Regungslos sitzt sie am Beckenrand, sieht uns beiden zu. Sie verzieht keine Miene, sagt kein Wort. Die Schwimmhalle ist sein Reich.
»Ezzat! Bist du verrückt geworden?«
Ich wage einen Seitenblick. Es ist mein Onkel Hussam, der jüngste Bruder meines Vaters. Mein Retter.
»Was machst du denn da?«, ruft Hussam und geht mit schnellen Schritten um das Schwimmbecken zu uns.
Ich sehe Papa an. Sein Gesicht ist immer noch rot, aber er wirkt irritiert, aus der Bahn geworfen. Das ist meine Chance. Ich laufe hinüber zu Mama, schiebe mich unter ihren Stuhl. Dann ziehe ich ihren langen Rock um mich herum. Der Streit am Schwimmbeckenrand ist auf einmal angenehm weit weg. Mama setzt sich in ihrem Stuhl zurecht. Hier unten bin ich sicher, bis Papa sich beruhigt hat.
Nach diesem Vorfall lässt Papa mich nicht mehr aus den Augen. Er will nicht nochmals riskieren, dass ich verwöhnt werde. Ich bin seine Tochter, und ich werde schwimmen, ob ich will oder nicht. Er schiebt meine Arme in aufblasbare Schwimmflügel und schickt mich mit Saras Schwimmgruppe ins Wasser.
Während die anderen trainieren, paddele ich im unteren Teil des Beckens herum. Die älteren Schwimmer sind erbarmungslos, sie schieben sich an mir vorbei und tauchen mich unter. Bald lerne ich, sie wegzustoßen oder mich auf den Grund sinken zu lassen, während sie über mich hinwegpflügen. Nach und nach lässt Papa die Luft aus den Schwimmflügeln, bis ich wieder richtig schwimmen kann.
In diesem Sommer zieht mein Onkel Ghassan mit seiner Familie nach Daraya um, einen Vorort von Damaskus, acht Kilometer südwestlich der Stadtmitte. Mama und Papa beschließen, ebenfalls dorthin umzuziehen. Wir beziehen ein großes Haus an einer langen, geraden Straße, die die Grenze zwischen Daraya und dem östlichen Viertel Al Moadamyeh bildet.
Sara und ich bekommen den größten Raum auf der Vorderseite des Hauses. Er ist immer lichtdurchflutet, denn die Fassade besteht vollständig aus Glas. Das Zimmer von Papa und Mama ist kleiner, dort steht in der Mitte ein riesiges antikes Bett in Weiß, ein Geschenk der Großeltern. Sara und ich ruinieren es, indem wir es mit Mamas Make-up bemalen. Für ein anderes Lieblingsspiel häufen wir Mamas Kleider auf den Boden, setzen uns darauf und fühlen uns wie Königinnen im Schloss. Oft stehe ich auf dem Balkon und schaue hinunter auf die belebte Straße oder über die Dächer hinweg auf die Minarette der vielen Moscheen des Viertels.
Meine Eltern sind keine strengen Muslime, aber ich bin mit den religiösen Geboten aufgewachsen. Sie haben uns beigebracht, sie zu befolgen, und, was noch wichtiger ist, sie haben uns beigebracht, dass ein guter Muslim immer Respekt zeigt. Respektiere Ältere, respektiere Frauen, respektiere Menschen aus anderen Kulturen und mit anderer Religion. Respektiere deine Mutter. Respektiere deinen Vater. Ganz besonders dann, wenn er auch dein...
Erscheint lt. Verlag | 2.5.2018 |
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Co-Autor | Josie Le Blond |
Übersetzer | Elisabeth Liebl, Alexandra Baisch, Uta Rupprecht |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Ägäis • Autobiografien Frauen • autobiografie sport • butterfly book • butterfly buch • butterfly yusra mardini • Deutschland Politik Kultur Gesellschaft • Europa • Fluchtgeschichte • Flüchtling • flüchtlinge in deutschland • flüchtlinge integration • Flüchtlingsboot • Flüchtlingsdebatte • Flüchtlingsheim • Flüchtlingspolitik • Flucht und Vertreibung • Frauenschicksal • frauenschicksale bücher • Integration Buch • Integration Geflüchtete • Integration Migranten • Lebensgeschichte Frauen • Lesbos • Netflix The Swimmers • Olympia 2016 • Olympia-Schwimmerin • Olympische Spiele • Sara Mardini • Schlepperboot • Schwimmen • Starke Frauen • Syrien • Syrien Krieg • syrisches Mädchen • UN-Sonderbotschafterin • UN-Sonderbotschafterin Buch • Wahre GEschichte • wahre Geschichte Bücher • Yusra Mardini |
ISBN-10 | 3-426-45206-5 / 3426452065 |
ISBN-13 | 978-3-426-45206-6 / 9783426452066 |
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