Nachtleuchten (eBook)
528 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-490410-8 (ISBN)
María Cecilia Barbetta wurde 1972 in Buenos Aires geboren, wuchs in dem Einwandererviertel Ballester, in dem ihr Roman »Nachtleuchten« spielt, auf und besuchte dort die deutsche Schule. 1996 zog sie nach Berlin und blieb. Ihr erster Roman, »Änderungsschneiderei Los Milagros« (2008), wurde unter anderem mit dem aspekte-Literaturpreis ausgezeichnet. María Cecilia Barbetta schreibt auf Deutsch. Ihr zweiter Roman über den Vorabend eines politischen Umsturzes, »Nachtleuchten« (2018), wurde mit dem Alfred-Döblin-Preis geehrt, dem Chamisso-Preis/Hellerau und stand auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis. Literaturpreise: Chamisso-Preis/Hellerau (2019) Shortlist Deutscher Buchpreis (2018) Alfred-Döblin-Preis (2017) Adelbert-von-Chamisso-Förderpreis (2009) Bayern 2-Wortspiele-Preis (2009) aspekte-Literaturpreis (2008)
María Cecilia Barbetta wurde 1972 in Buenos Aires geboren, wuchs in dem Einwandererviertel Ballester, in dem ihr Roman »Nachtleuchten« spielt, auf und besuchte dort die deutsche Schule. 1996 zog sie nach Berlin und blieb. Ihr erster Roman, »Änderungsschneiderei Los Milagros« (2008), wurde unter anderem mit dem aspekte-Literaturpreis ausgezeichnet. María Cecilia Barbetta schreibt auf Deutsch. Ihr zweiter Roman über den Vorabend eines politischen Umsturzes, »Nachtleuchten« (2018), wurde mit dem Alfred-Döblin-Preis geehrt, dem Chamisso-Preis/Hellerau und stand auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis. Literaturpreise: Chamisso-Preis/Hellerau (2019) Shortlist Deutscher Buchpreis (2018) Alfred-Döblin-Preis (2017) Adelbert-von-Chamisso-Förderpreis (2009) Bayern 2-Wortspiele-Preis (2009) aspekte-Literaturpreis (2008)
Mit ihrem grandiosen Epos schreibt María Cecilia Barbetta Weltliteratur.
Das ist die Könnerschaft von María Cecilia Barbetta: Unter dieser burlesken Erzähloberfläche schimmern die sozialen Spannungen [...] und die sich anbahnenden politischen Umbrüche in Argentinien jederzeit durch.
[…] stilistisch herausragend […] Eine Feier der Ausschmückung und Abschweifung, in komplexen Sätzen, gelegentlich unterbrochen von sprachspielerischen, grafischen Einschüben. Eine anspruchsvolle Lektüre für Liebhaber des literarischen Groß-Panoramas.
Es ist der spielerisch-künstlerische Umgang mit Sprache, der auch diesen Roman […] so besonders macht.
Kann man unsere Zeit besser verstehen, wenn man einen Roman über Argentienien während der Siebzigerjahre liest? [...] Ja [...] erst recht, wenn so kunstvoll erzählt.
Dieser Roman ist ein Sprachkunstwerk, eine erzählerische Explosion.
[…] erzählt so kunst- wie humorvoll von unruhigen Zeiten […] Es kann einem schwindelig werden ob der vielen literarischen und außerliterarischen Bezüge
Dabei zündet sie wahre Wortfeuerwerke und entfesselt temperamentvolle Dialoge.
Barbetta versucht sich […] nicht nur demonstrativ von konventionellen Erzähltraditionen abzusetzen, sondern ihre politische Botschaft kunstvoll zu verpacken.
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Auf dem Gelände des INSTITUTO SANTA ANA wölbte sich gut versteckt ein Ameisenhaufen. Einzelne Krümelchen waren aus den Eingeweiden der Erde an die Oberfläche gespuckt worden und hatten mit der Zeit einen Hügel gebildet, der unaufhaltsam zu einem Vulkan weitergewachsen war. Diese Entdeckung schrieben sich die Jüngsten des SANTA ANA auf die Fahne, die von Sœur Asunción die Aufgabe erhalten hatten, ein Herbarium anzulegen.
Bei der Sichtung allerlei Pflanzenarten jäteten die Schülerinnen der ersten Klasse das eine oder andere Unkraut und stießen auf Grashalme, die sie für besonders hielten und deshalb an der Wurzel packten, um sie vorsichtig herauszuzupfen und zu den anderen außergewöhnlichen Fundstücken auf den Tisch zwischen Zeitungspapier zum Trocknen zu legen. Dort im Schatten des Palo borracho, eines prächtigen Florettseidenbaums, saß Sœur Asunción und hütete sich vor Sonnenbrand. Auf den Wangen und der Nasenwurzel trug sie Spuren einer dickflüssigen Creme und auf dem Schleier einen Strohhut. Wie das weiße Kaninchen in Alice im Wunderland wedelte sie sich mit einem Fächer Luft zu. Um den Anschein zu wahren, sie verfolge das Gedeihen des Herbariums aus nächster Nähe, warf sie ab und zu einen Blick auf die sich wellenden Zeitungsblätter, welche die Mädchen mit ihren Büchern und Federmäppchen beschwerten, bevor sie eine Pusteblume erblickend wieder verdufteten.
Der General Perón verur | Massenkrawalle |
Unruhen | Plaza de Mayo |
Die Polize | zwei Überfälle |
In San Martín | ein Auto in die Luft |
Die links-revolutionäre Organi | Montoneros appelliert an den Präsidenten |
Carlos Mugica | der Drittweltpriesterbewegung |
Im Grunde war Sœur Asunción damit beschäftigt, sich wachzuhalten. Sie versuchte, die Müdigkeit zu bekämpfen, die um diese Uhrzeit von ihr Besitz ergriff. Dafür komplettierte sie im Geiste die Schlagzeilen, ähnlich wie sie es mit den Wörter- und Silbenrätseln tat, mit denen sie sich die Nächte um die Ohren schlug.
Ihre Schülerinnen hatten andere Sorgen. Bei ihrer Gartenbegehung brannte plötzlich die eine oder andere Körperstelle, und die Mädchen klatschten daraufhin mit der flachen Hand gegen ihr Knie, den Unterarm oder den Ellenbogen, als würden sie sich selbst kasteien. Es war sogar schon vorgekommen, dass mehrere Botanikerinnen zu ein und demselben Zeitpunkt davon befallen wurden und ein ziemlich seltsames Bild abgaben. Sobald das Jucken vorbei war, analysierten sie die gepiesackten Stellen und entdeckten feuerrote Klümpchen, die sich bei genauer Untersuchung entweder als plattgedrückte Ameisen entpuppten oder als zuckende Leiber, die noch nicht alle sechse von sich gestreckt hatten.
Das Auffinden von Pflanzenexponaten zog sich in die Länge. In der brüllenden Mittagshitze grasten verschiedene Arbeitsgruppen mit Listen in den Händen das Gelände ab. Die fiebrige Jagd nach Blüten, Früchten, Blättern, Sprossen und Wurzeln dauerte fort, ebenso der Angriff der Killerameisen. Das Herbarium war noch lang nicht fertig, und es brannte an etlichen Stellen. Das Ganze war äußerst kräftezehrend. Eine bessere Strategie musste her. Um ein rares Gewächs in seinem Habitat zu studieren und hinterher den Herbarbogen ergänzen zu können, saßen die Mädchen regungslos in der Hocke. Auf einmal krabbelte eine Ameise den Finger hoch. Die Mädchen ließen die Ameise den Finger hochkrabbeln. Sie schlugen sie nicht länger tot. Sie zerdrückten die miese Ameise nicht. Sie schnippten sie auch nicht in die Luft, auf dass sie Purzelbäumchen schlage, die sie am Ende nicht überlebte. Die Mädchen waren intelligent. Den Ameisen dagegen wurde Intelligenz nachgesagt. Also beschlossen sie, diesen angeblich intelligenten Ameisen zu zeigen, dass man im SANTA ANA ein Herz für Insekten hatte. Der Finger brannte. Das Knie brannte. Der Ellenbogen brannte. Sollten sie ruhig weiterbrennen. Man tat so, als wäre nichts. »Hauptsache, unser Plan geht auf«, sagten sie sich und ließen sich von den verdammten Viechern so lang traktieren, bis die Quälgeister blindes Vertrauen fassten und sich zu einer Ameisenstraße formierten, die die Feldforscherinnen letztendlich zu ihrem geheimen Lager führte.
Von diesem Nachmittag an stand der Vulkan unter strenger Beobachtung. Der Vulkan war launisch wie ein Comandante: Mal war er über Stunden und Tage inaktiv, mal spuckte er eine oder zwei Feuerameisen während der Siesta. Wenn man Glück hatte, konnte man den Moment abpassen, in dem der aufbrausende Befehlshaber ein ganzes Heer entließ, dem man nachstellte, Ameisen, die auf Kommando losmarschierten und nach und nach getrennte Wege gingen, um im Obst-, Blumen- und Kräutergarten hinter den potentiellen Herbariumsexponaten, die man auch im Visier behielt, in Deckung zu gehen und aus diesem Hinterhalt einen neuen Angriff zu starten. Bevor die Schülerinnen mit ihrer Geduld am Ende waren, entschieden sie sich, dem Herbarium einen Appendix anzufügen.
Laut der Definition des Petit Larousse, die Sœur Asunción der Klasse ins Heft diktiert hatte, ist ein Herbarium eine Sammlung getrockneter und gepresster Pflanzen und Pflanzenteile zu wissenschaftlichen Zwecken bzw. als Nachweis einer Beschäftigung mit der Botanik. Ein Bestiarium – so die Mädchen in ihrem Anhang – ist eine Sammlung bestialischer Ameisen, die zu wissenschaftlichen Zwecken, als Nachweis einer Beschäftigung mit der roten Plage, getrocknet und gepresst werden. Es hieß weiter: Die Ameisen der roten Sorte seien zigmal kleiner als die schwarzen, dazu flinker und fieser. Das Versteck der Feuerameisen auf dem Gelände des SANTA ANA sei aufgeflogen. Es befinde sich an der hinteren linken Mauerecke.
Es folgten zehn Seiten mit barbarischen Ameisenexponaten. Jedes Exemplar hatte eine eigene Sammelnummer; dazu wurden – wie bei den Pflanzen des Herbariums auch – genaue Angaben zu Fundort, Funddatum und Finderin ergänzt. Mit einer abgerundeten Haarpinzette, einem nicht zu unterschätzenden Utensil, das die gesichtsbehaarte Sœur Trinidad beigesteuert hatte, weil sie vorgab, in ihrem Fach Geschichte dafür keine Verwendung zu haben, konnten aus dem Ameisenbrei die wichtigsten Ameisenteile herausgefummelt werden – zumindest die, die nach dem Totklatschen oder dem lebendig Gepresstwerden noch vorhanden waren und sich verlässlich hatten identifizieren lassen. Nach einigen klar strukturierten Abschnitten zu Körperbau, Ernährung, Fortpflanzung und Staatenbildung war in einem Nebensatz vermerkt, dass die ältesten fossilen Ameisenfunde aus der Kreidezeit stammten, aus einer Ära, die circa einhundert Millionen Jahre zurücklag. Diese Aussage war eine gutgetarnte Überleitung zum eigentlich Revolutionären.
Benötigte Instrumente: | Vergrößerungsgläser (Anteojito-Gimmicks), sonst nichts |
Klimatische Bedingungen: | Bestialische Mittagssonne |
Durchführende: | 1. Klasse INSTITUTO SANTA ANA |
Fach: | Biologie |
Lehrerin: | Sœur Asunción |
PROTOKOLL
12.02 Uhr: | Wir umkreisen den von uns auf dem Gelände des SANTA ANA entdeckten Vulkan und gehen in die Hocke. |
12.14 Uhr: | Eine Lawine wird ausgelöst: Zwei von uns vermelden, der Vulkan sei ausgebrochen. Binnen zehn Sekunden vermelden 18 Mädchen aus unserer Klasse exakt das Gleiche – mit dem Ergebnis, dass jede von uns 20 unabhängig voneinander zu Protokoll gibt, sich in erhöhter Bereitschaft zu befinden. |
12.27 Uhr: | Keine Ameise in Sicht. Falscher Alarm. Unsere Beine waren eingeschlafen. |
12.30 Uhr: | Es geht los. Jetzt besteht kein Zweifel. Der Vulkan spuckt erste Feuerfunken in Gestalt von zwei roten Ameisen. Wir haben unsere Vergrößerungsgläser parat. |
12.35 Uhr: | Der Vulkan spuckt Lava wie verrückt. Die Lava ist genau genommen ein Lavastrom aus Feuerameisen. Wir halten unsere Brenngläser über dem tosenden Vulkan, bis er lückenlos bedeckt ist. Mit sicherer Hand ermitteln wir den richtigen Neigungswinkel. |
12.45 Uhr: | Das Experiment scheint zu funktionieren. Drei verkohlte Leichen. Nur die Spitze des Eisbergs. Keine Jubelschreie. Keine emotionalen Ausbrüche. Als Wissenschaftlerinnen sind wir verpflichtet, Gefühlskälte an den Tag zu legen. |
12.47 Uhr: | Noch mehr verkohlte Leichen. |
12.50 Uhr: | Ameisen gehen... |
Erscheint lt. Verlag | 15.8.2018 |
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Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Aberglaube • Anspruchsvolle Literatur • Argentinien • Ballester • Buenos Aires • Desparecidos • Deutscher Buchpreis • Gesellschaft • Gewalt • Katastrophe • Lateinamerika • Longlist • Longlist Deutscher Buchpreis • Militärdikatur • Militätputsch • Perón • Politik • Revolution • Shortlist • Shortlist Deutscher Buchpreis • Umbruch • Umsturz • Unsicherheit |
ISBN-10 | 3-10-490410-3 / 3104904103 |
ISBN-13 | 978-3-10-490410-8 / 9783104904108 |
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